BFH Urteil v. - II R 3/06

Abzug von Steuerschulden des Erblassers als Nachlassverbindlichkeit; Voraussetzungen für Billigkeitsmaßnahmen

Leitsatz

Der Abzug der vom Erblasser herrührenden persönlichen Steuerschulden als Nachlassverbindlichkeiten nach § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG setzt nicht nur voraus, dass die Steuerschulden bei der Entstehung der Erbschaftsteuer, also bei Eintritt des Erbfalls, rechtlich bestehen, sondern auch, dass sie zu diesem Stichtag eine wirtschaftliche Belastung darstellen (hier: Aufdeckung in großem Umfang nicht erklärter Kapitaleinnahmen durch fünf Jahre nach dem Tod des Erblassers eingeleitete Steuerfahndung). Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, können nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren.

Gesetze: ErbStG § 10 Abs. 5 Nr. 1, AO § 227

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Alleinerbe seiner im Jahr 1995 verstorbenen Großmutter (G). Der Testamentsvollstrecker gab die Erbschaftsteuererklärung noch in diesem Jahr ab. Der zuletzt ergangene Erbschaftsteuerbescheid vom , mit dem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) die Erbschaftsteuer aufgrund eines Erwerbs von insgesamt 1 815 105 DM auf 388 322 DM festsetzte, wurde bestandskräftig.

Aufgrund einer im April 2000 eingeleiteten Steuerfahndung wurde bekannt, dass Einnahmen der G aus Kapitalvermögen für mehrere Jahre in vor und nach Eintritt des Erbfalls eingereichten Einkommensteuererklärungen in großem Umfang nicht erklärt worden waren. Dies führte im August 2001 zum Erlass geänderter Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1989 bis 1995. Der Kläger beantragte, die sich daraus ergebenden Nachzahlungen an Einkommensteuer zuzüglich Zinsen bis zum Erbfall, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt 453 058,13 DM als zusätzliche Nachlassverbindlichkeiten zu berücksichtigen und die Erbschaftsteuer entsprechend herabzusetzen. Das FA lehnte dies unter Hinweis auf den Ablauf der Festsetzungsfrist ab. Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage nahm der Kläger später wieder zurück.

Das FA lehnte auch den Antrag des Klägers ab, die Erbschaftsteuer zu erlassen, soweit sie auf den Nachzahlungsbetrag von 453 058,13 DM entfällt. Den Einspruch wies es mit der Begründung zurück, die Richtigkeit unanfechtbar gewordener Steuerbescheide könne im Verfahren wegen Billigkeitsmaßnahmen nach § 227 der Abgabenordnung (AO) nur bei Vorliegen besonderer Umstände überprüft werden, nämlich wenn die Festsetzung der Steuer offensichtlich und eindeutig fehlerhaft sei und es dem Steuerpflichtigen vor dem bestandskräftigen Abschluss des Steuerfestsetzungsverfahrens entweder objektiv unmöglich oder aber subjektiv nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 319 veröffentlichte Urteil mit der Begründung ab, der Kläger habe zwar innerhalb der bis Ende 1999 laufenden Festsetzungsfrist keine Änderung des Erbschaftsteuerbescheids beantragen können, weil ihm selbst und dem Testamentsvollstrecker das Bestehen der Steuerschulden der G bis zur Einleitung der Steuerfahndung im April 2000 unbekannt gewesen sei. Die Steuerfestsetzung sei aber nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig. Das FA habe nämlich bei Erlass des Bescheids vom von dem Bestehen der Steuerschulden ebenfalls nichts gewusst.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 227 AO. Es sei sachliche Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschrift gegeben, so dass die bereits gezahlte Erbschaftsteuer zu erstatten sei, soweit sie auf den geltend gemachten Nachzahlungsbetrag entfalle. Dass die Steuerschulden im Bescheid vom nicht angesetzt worden seien, habe er nicht zu vertreten. Die Nichtberücksichtigung der Steuerschulden als Nachlassverbindlichkeiten verletze das die Erbschaftsteuer tragende Bereicherungsprinzip, da das Kapitalvermögen, dessen Erträge zu den Steuerschulden geführt hätten, in die Bemessungsgrundlage der Erbschaftsteuer eingegangen sei.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung und den ablehnenden Bescheid über den Erlass von Erbschaftsteuer vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Erbschaftsteuer zu erlassen, soweit sie auf den Nachzahlungsbetrag von insgesamt 453 058,13 DM entfällt.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Dem Kläger steht kein Anspruch auf die begehrte Billigkeitsmaßnahme zu. Sachliche Billigkeitsgründe sind nicht gegeben. Es ist nicht offensichtlich und eindeutig, dass die Steuernachforderungen 1989 bis 1995 eine bereits auf den Todeszeitpunkt der G bezogene bzw. beziehbare wirtschaftliche Belastung dargestellt haben. Persönliche Billigkeitsgründe wurden weder vom FG festgestellt noch macht sie der Kläger geltend.

1. Steuern, die bestandskräftig festgesetzt worden sind, können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (Urteile vom V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, und vom V R 15/04, BFH/NV 2006, 836, je m.w.N.). Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (BFH-Urteil in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, m.w.N.).

Die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen für den Erlass oder die Erstattung einer Steuer nach § 227 AO vorliegen, ist nach ständiger Rechtsprechung des , BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom III R 8/94, BFH/NV 1998, 935, und in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460) eine der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Rechtsentscheidung und nicht eine behördliche Ermessensentscheidung (§ 5 AO), bei der sich die gerichtliche Kontrolle lediglich auf Ermessensfehler beschränkt (§ 102 FGO).

2. Diese Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Billigkeitsmaßnahme liegen nicht vor. Die Steuerfestsetzung durch den Bescheid vom ist nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig.

a) Der Abzug der vom Erblasser herrührenden persönlichen Steuerschulden als Nachlassverbindlichkeiten nach § 10 Abs. 5 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) setzt nicht nur voraus, dass die Steuerschulden bei der Entstehung der Erbschaftsteuer, also bei Eintritt des Erbfalls (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 11 ErbStG), rechtlich bestehen, sondern auch, dass sie zu diesem Stichtag eine wirtschaftliche Belastung darstellen (, BFH/NV 1999, 1339, und vom II R 35/03, BFH/NV 2005, 1093).

Die wirtschaftliche Belastung mit Steuernachforderungen, die vom Steuerpflichtigen zunächst nicht konkret vorausgesehen wurden, aber spätestens am Bewertungsstichtag entstanden sind, ist grundsätzlich bereits zu diesem Stichtag gegeben. Das gilt auch dann, wenn sich die Forderungen erst aufgrund einer Außenprüfung ergeben. Es kommt nicht auf die individuellen Vorstellungen des Steuerpflichtigen, sondern auf die rechtlichen und faktischen Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzbehörde an. Eine Ausnahme hiervon gilt allerdings dann, wenn der Steuerpflichtige steuererhebliche Sachverhalte bewusst verheimlicht und aus diesem Grunde selbst nicht damit rechnet, auf die Zahlung der entstandenen Steuern in Anspruch genommen zu werden (BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 1093, m.w.N.).

b) Im Streitfall ist nicht offensichtlich und eindeutig, dass die nachträglich festgesetzten Steuern und Nebenleistungen eine bereits auf den Tod der Erblasserin beziehbare wirtschaftliche Belastung dargestellt haben. Dagegen spricht, dass die den geänderten Einkommensteuerbescheiden zugrunde liegenden Einnahmen der G aus Kapitalvermögen für mehrere Jahre in vor und nach Eintritt des Erbfalls eingereichten Einkommensteuererklärungen in großem Umfang nicht angegeben worden waren, und zwar unter Umständen, die ein bewusstes Verheimlichen zumindest nahelegen. Die Steuerfahndung wurde erst mehrere Jahre nach dem Erbfall eingeleitet.

Das spätere Ergehen der geänderten Einkommensteuerbescheide 1989 bis 1995 lässt sich unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Belastung jedenfalls nicht mehr auf den Todeszeitpunkt der G zurückbeziehen. Eine solche Rückbeziehung ist nämlich nur unter engen zeitlichen Voraussetzungen —nämlich der Dreimonatsfrist des § 30 Abs. 1 ErbStG— zulässig (BFH-Urteil in BFH/NV 1999, 1339), die hier nicht erfüllt sind. Das Einkommensteuerfinanzamt hat nicht aus Angaben des Klägers, sondern erst aufgrund der Steuerfahndung von den von G erzielten Einnahmen aus Kapitalvermögen erfahren.

c) Offen bleiben kann, ob eine Billigkeitsmaßnahme aus sachlichen Gründen dann geboten wäre, wenn durch die Erhebung der Erbschaftsteuer und der nicht als Nachlassverbindlichkeiten berücksichtigten Einkommensteuern 1989 bis 1995 Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes oder das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verletzt wäre. Beides liegt nämlich aufgrund des im Erbschaftsteuerbescheid vom angesetzten Erwerbs von 1 815 105 DM einerseits und der Summe der festgesetzten Erbschaftsteuer und der Steuernachzahlungen von 841 380 DM andererseits nicht vor.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 574 Nr. 4
NWB-Eilnachricht Nr. 18/2008 S. 12
FAAAC-72089