BGH Beschluss v. - II ZB 15/07

Leitsatz

[1] a) Ein Musterfeststellungsantrag ist nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 KapMuG wegen Entscheidungsreife des Hauptsacheverfahrens zurückzuweisen, wenn der Tatsachenstoff hinreichend geklärt ist und die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens nicht von einer Rechtsfrage abhängt, die in dem Musterfeststellungsantrag als Feststellungsziel genannt ist.

b) Ein im ersten Rechtszug gestellter Musterfeststellungsantrag wird unzulässig, wenn das Hauptsacheverfahren nicht mehr im ersten Rechtszug anhängig ist.

Gesetze: KapMuG § 1

Instanzenzug: LG München I 3 O 8154/06 vom OLG München W (KAPMU) 6/07 vom

Gründe

I. Die Kläger machen gegen die Beklagte zu 1 - eine börsennotierte Aktiengesellschaft - und die Beklagten zu 2 und 3 - ehemalige Mitglieder des Vorstands der Beklagten zu 1 - Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter ad hoc-Mitteilungen geltend. Im ersten Rechtszug haben sie drei Musterfeststellungsanträge i.S. des § 1 Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) gestellt. Das Landgericht hat diese Anträge durch Beschluss als unzulässig zurückgewiesen und die Klage durch Urteil vom selben Tage mit der Begründung abgewiesen, die Kläger hätten nicht nachgewiesen, dass sie von den beanstandeten ad hoc-Mitteilungen vor den Kaufentscheidungen Kenntnis gehabt hätten. Die Kläger haben gegen den Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt. Das Urteil haben sie mit der Berufung angegriffen. Im Übrigen haben sie beantragt, das Beschwerdeverfahren bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens auszusetzen. Das Beschwerdegericht hat die Aussetzung abgelehnt und die Beschwerde als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die von dem Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Kläger.

II. Die allgemeine, nicht auf § 15 KapMuG gestützte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Beschwerde sei unzulässig, weil ein Musterfeststellungsverfahren nur im ersten Rechtszug in Gang gesetzt werden könne, dieser aber durch das Urteil des Landgerichts beendet sei. Sollte das landgerichtliche Urteil auf die Berufung der Kläger aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen werden, bestehe die Möglichkeit, einen neuen Musterfeststellungsantrag zu stellen. Der Antrag auf Aussetzung des Beschwerdeverfahrens sei zurückzuweisen, da eine Aussetzung nach Verwerfung der Beschwerde nicht mehr in Betracht komme.

2. Diese Ausführungen sind im Ergebnis zutreffend.

a) Das Landgericht hat zu Recht eine Entscheidungsreife des Klageverfahrens i.S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 KapMuG angenommen und dementsprechend die Musterfeststellungsanträge gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KapMuG als unzulässig zurückgewiesen. Entscheidungsreife in diesem Sinne besteht dann, wenn - vom Rechtsstandpunkt des erstinstanzlichen Gerichts aus - der Tatsachenstoff des Klageverfahrens hinreichend geklärt ist und die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von einer Rechtsfrage abhängt, die in dem Musterfeststellungsantrag als Feststellungsziel genannt ist. Ob diese Rechtsfrage - im Musterverfahren - klärungsbedürftig ist, hat das Gericht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 KapMuG gesondert zu prüfen (Vollkommer, NJW 2007, 3094, 3096; Vorwerk in Vorwerk/Wolf, KapMuG § 1 Rdn. 74 ff.).

Diese Voraussetzungen der Entscheidungsreife sind hier erfüllt. Das Landgericht hat die Klage durch das an demselben Tage verkündete Urteil mangels Ursächlichkeit der beanstandeten ad hoc-Mitteilungen abgewiesen. Die Frage der Ursächlichkeit war nicht als Feststellungsziel der Musterfeststellungsanträge genannt worden. Sie betraf ein individuelles, nicht verallgemeinerungsfähiges Tatbestandsmerkmal der Anspruchsnorm und hätte damit auch nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein können.

b) Unabhängig davon hat die Zurückweisung der Musterfeststellungsanträge im Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahren aber auch schon deshalb Bestand, weil der Rechtsstreit nach Einlegung der Berufung nicht mehr in der ersten Instanz anhängig ist.

Ein Musterfeststellungsantrag kann gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG nur im ersten Rechtszug gestellt werden. Er soll in einem möglichst frühen Stadium des Prozesses dazu führen, dass eine verallgemeinerungsfähige Tatsachen- oder Rechtsfrage i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG mit Bindungswirkung auch für andere, gleichartige Verfahren geklärt wird. Der Antrag ist nach Wortlaut und Systematik der Norm unzulässig, wenn er erst in der Berufungsinstanz gestellt wird. Nach § 4 KapMuG muss nämlich auf einen zulässigen Musterfeststellungsantrag hin die Sache, sofern mindestens neun weitere Anträge fristgerecht gestellt worden sind, dem zuständigen Oberlandesgericht mit bindendem Beschluss vorgelegt werden. Das setzt ein noch anhängiges erstinstanzliches Verfahren voraus. Etwas anderes kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass gemäß § 7 KapMuG alle Verfahren, deren Entscheidung von dem Ergebnis des Musterverfahrens abhängt, nach der öffentlichen Bekanntmachung des Musterverfahrens auszusetzen sind und davon auch Verfahren betroffen werden, die bereits in der Berufungsinstanz anhängig sind (Maier-Reimer/Wilsing, ZGR 2006, 79, 96; Vorwerk aaO § 7 Rdn. 12).

Hier hatten die Kläger zwar ihre Musterfeststellungsanträge im ersten Rechtszug gestellt. Über diese Anträge kann aber nicht mehr in jenem Rechtszug entschieden werden, nachdem der Rechtsstreit mittlerweile durch Einlegung der Berufung in der Rechtsmittelinstanz anhängig geworden ist. Auch eine Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung im Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren kommt bei dieser Prozesslage nicht in Betracht (KG ZIP 2007, 1679). Denn auch dafür gilt der Grundsatz, dass nach dem Ende der Anhängigkeit des Rechtsstreits in erster Instanz ein Musterverfahren nicht mehr eingeleitet werden kann.

Im Ergebnis zu Unrecht wendet die Rechtsbeschwerde ein, dass es zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes komme, wenn der Beschwerde gegen die Zurückweisung des Musterfeststellungsantrags allein deshalb der Erfolg versagt bleibe, weil das Landgericht zugleich über die Hauptsache entschieden habe. Diese Konsequenz ist im Gesetz angelegt. Sie führt in aller Regel zu sachgerechten Ergebnissen. So entspricht es dem Gebot der Prozessökonomie, in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Klage aus anderen als den in dem Musterfeststellungsantrag angegebenen rechtlichen Gesichtspunkten abgewiesen worden ist, eine Entscheidung des Berufungsgerichts in der Sache herbeizuführen. Erweist sich das erstinstanzliche Urteil danach als zutreffend, so wird damit auch die Einschätzung des erstinstanzlichen Gerichts bestätigt, dass es auf die Vorlagefragen nicht ankommt. Sollte dagegen das erstinstanzliche Urteil nach § 538 Abs. 2 ZPO aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen werden, kann in dem wiedereröffneten erstinstanzlichen Verfahren erneut ein Antrag nach § 1 KapMuG gestellt werden. Danach bleibt als nachteilig für den Kläger allein der Fall, dass das Berufungsgericht den Standpunkt des Landgerichts nicht teilt, von einer Zurückverweisung aber absieht und in der Sache selbst - zu Ungunsten des Klägers - entscheidet. Auch in dieser Situation werden die Interessen des Klägers jedoch dadurch ausreichend gewahrt, dass das Klageverfahren nach § 7 KapMuG ausgesetzt werden muss, sofern nur aufgrund von Anträgen anderer Kläger ein Musterverfahren eingeleitet worden ist.

3. War somit die Beschwerde als unbegründet - nicht unzulässig - zurückzuweisen, bestand auch kein Anlass, das Beschwerdeverfahren bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens auszusetzen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
AG 2008 S. 119 Nr. 4
BB 2008 S. 117 Nr. 4
DB 2008 S. 581 Nr. 11
WM 2008 S. 124 Nr. 3
ZIP 2008 S. 137 Nr. 3
TAAAC-68027

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja