BFH Beschluss v. - VI B 48/06

Berichtigung von Rechtsfehlern; Änderung wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen; Verfassungswidrigkeit einer Norm

Gesetze: AO § 177; AO § 173; BVerfGG § 79; FGO § 115 Abs. 2

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) und seine mit ihm zusammenveranlagte Ehefrau erzielten im Streitjahr 1998 Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Seit Oktober 1995 unterhielt der Kläger in X aus beruflichen Gründen einen doppelten Haushalt. Die Ehefrau ist in Y berufstätig. In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger keine Aufwendungen wegen doppelter Haushaltsführung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG a.F.) geltend, weil nach den damals gültigen gesetzlichen Bestimmungen die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen auf zwei Jahre beschränkt war. Der endgültige Einkommensteuerbescheid für 1998 wurde bestandskräftig.

Nachdem das und 1735/00 (BVerfGE 107, 27, BStBl II 2003, 534) die angeführte Zweijahresfrist in bestimmten Fällen für verfassungswidrig erklärt hatte, beantragte der Kläger seine Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten anzuerkennen und den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für 1998 zu ändern. Dies lehnte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) ab. Die Klage blieb erfolglos.

II. Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe sind nicht gegeben. Der Rechtssache kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—), noch ist ein Verfahrensmangel gegeben, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

1. Grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) kommt einer Rechtssache zu, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer bisher ungeklärten Rechtsfrage abhängt, deren Beantwortung aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und im Streitfall klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung; z.B. , BFH/NV 2007, 1626).

a) In seiner Beschwerdebegründung hat der Kläger (auch unter Bezugnahme auf eigene literarische Äußerungen) im Wesentlichen vorgetragen, im Rahmen der Prüfung des § 173 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) komme es —entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanz und der bisherigen Rechtsprechung des BFH— nicht auf die „Rechtserheblichkeit” der neuen Tatsache an. Entscheidend sei nur die neue Kenntnis der Finanzbehörde. In verfassungswidriger Weise füge die bisherige Rechtsprechung das zusätzliche Tatbestandsmerkmal der „Rechtserheblichkeit” in die Vorschrift des § 173 Abs. 1 AO ein. Diese vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage ist indes nicht klärungsbedürftig.

b) Seit dem Beschluss des Großen Senats des (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180) vertritt die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung die Auffassung, dass ein Steuerbescheid wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet danach aus, wenn die Unkenntnis der später bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist (ständige Rechtsprechung; z.B. , BFH/NV 2007, 1461 —zum Kindergeld—; Beschluss vom II B 33/05, BFH/NV 2006, 911; Urteile vom VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527; vom XI R 22/99, BFH/NV 2000, 818; vom XI R 38/99, BFH/NV 2000, 820; vom XI R 30/96, BFHE 188, 286, BStBl II 1999, 478; vom X R 157/95, BFHE 187, 445, BStBl II 1999, 91; vom V R 134/93, BFH/NV 1997, 72; vom IX R 238/87, BFHE 164, 492, BStBl II 1991, 741).

Der Große Senat des BFH hat seine Auffassung in seinem Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 auch aus der Systematik und dem Sinnzusammenhang der Änderungsvorschriften der AO abgeleitet. Das Änderungssystem der AO sieht Durchbrechungen der Bestandskraft grundsätzlich nicht mehr zur Berichtigung von Rechtsfehlern vor, sondern nur insoweit, als ein Änderungstatbestand dies ausnahmsweise gestattet. Wie der Große Senat ausführlich dargelegt hat, ist rechtfertigender Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das FA bei seiner Entscheidung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Demnach ist die nachträgliche Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel strikt von der Korrektur von Rechtsfehlern abzugrenzen. Insbesondere dürfen über den Umweg des § 173 Abs. 1 AO Rechtsfehler der Finanzbehörde weder zu Lasten (Nr. 1) noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen (Nr. 2) berichtigt werden. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung schließt demnach auch aus, dass die Finanzbehörde mit Hilfe eines Änderungsbescheids eine neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nimmt, ihre geläuterte Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen. Andererseits greift § 173 AO nicht, wenn der Steuerpflichtige etwa im Hinblick auf eine Änderung der Rechtsprechung Tatsachen vorbringt, die bisher steuerlich belanglos waren. Denn sonst würde ein bestandskräftiger Bescheid geändert, der im Zeitpunkt seines Erlasses nicht hätte ergehen dürfen.

Entgegen der Ansicht des Klägers hat der Große Senat des BFH für die bezeichnete Rechtsprechung zutreffend auch den Gesichtspunkt des sonst nicht hinreichend auflösbaren Wertungswiderspruchs zu § 79 Abs. 2 des Gesetzes des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGG) herangezogen. Denn danach reicht selbst die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zur Durchbrechung von Rechts- und Bestandskraft nicht aus (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, 183 r.Sp.; vgl. hierzu auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, § 173 AO Rz 125).

c) Diese Rechtsauffassung wird ganz überwiegend auch von der Literatur vertreten (Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 173 Rz 71 ff.; Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 31; v.Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO, § 173 Rz 27 ff.; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 125 ff.; Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 173 Rz 87 ff.; Balmes in: Kühn/v.Wedelstädt, 18. Aufl., AO, § 173 Rz 8; Szymczak in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 173 Rz 26; Bartone in Bartone/v.Wedelstädt, Korrektur von Steuerverwaltungsakten, Rz 861 ff., und in Woerner/Grube, Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 9. Aufl., Rz 841 ff.; Jakob, Abgabenordnung, 4. Aufl., Rz 591 ff., 604; Neckels, Deutsche Steuerzeitung —DStZ— 1993, 321, 324; a.A. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 Rz 55 ff., m.w.N.; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Aufl., § 21 Rz 414).

d) Unter Berücksichtigung dieser feststehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung bringt der Kläger zur Frage der Rechtserheblichkeit im Rahmen des § 173 Abs. 1 AO keine durchgreifenden zusätzlichen Erwägungen vor, die vom BFH in der Vergangenheit nicht bereits erwogen worden wären. Anders als vom Kläger erstrebt, teilt die Rechtsprechung den —so der Kläger— „neuen dogmatischen Ansatz”, wonach § 173 AO eine Fehlerberichtigungsvorschrift darstellen soll, ausdrücklich nicht. Zusätzliche, bisher nicht bedachte Gesichtspunkte ergeben sich auch nicht aus den Darlegungen des Klägers zum Verhältnis der Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 AO zu der —erst nachrangig nach Eingreifen einer Änderungsvorschrift zu prüfenden— Saldierungsvorschrift des § 177 AO. Abgesehen davon, dass die Auslegung des § 173 AO durch die Rechtsprechung maßgeblich auch auf der Gesamtsystematik und dem Sinnzusammenhang der Änderungsvorschriften der AO beruht, ist weder hinreichend dargelegt noch ersichtlich, dass die einschlägige Auslegung des § 173 AO besonders durch die Vorschrift des § 177 AO und dessen Änderung durch das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (StMBG vom , BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) beeinflusst sein könnte. Durch das StBMG wurde zwar der Begriff des „Rechtsfehlers” in § 177 AO a.F. durch den Begriff des „materiellen Fehlers” (vgl. die Legaldefinition in § 177 Abs. 3 AO n.F.) ersetzt. Indessen war bereits nach der Rechtsprechung des BFH ein Bescheid nicht nur dann „rechtsfehlerhaft” i.S. des § 177 AO a.F., wenn der Finanzbehörde ein rechtlicher Fehler unterlaufen war, sondern auch dann, wenn der Steuerfestsetzung ein Sachverhalt zugrunde gelegt wurde, der sich als unrichtig erwies (vgl. z.B. Urteil vom X R 90/91, BFHE 175, 64, BStBl II 1994, 849; siehe auch von Groll, DStZ 2000, 882 ff.; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 177 Rz 4, m.w.N.). Hieran hat sich nur insofern etwas geändert, als der ebenfalls weit gefasste Begriff des „materiellen Fehlers” in § 177 Abs. 3 AO n.F. nicht nur —wie bisher— tatsächliche und rechtliche Fehler, sondern zusätzlich auch die offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO umfasst. Danach aber erlaubt die Auslegung des § 177 AO keine Rückschlüsse auf die Auslegung des § 173 Abs. 1 AO.

e) Entgegen der Auffassung des Klägers besteht demnach bezüglich der Frage der Rechtserheblichkeit kein zusätzlicher höchstrichterlicher Klärungsbedarf. Die ehemals streitige Frage (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom VI R 172/82, BFHE 146, 496, BStBl II 1986, 707) ist aufgrund der Entscheidung des Großen Senats des BFH in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 abschließend entschieden worden. Die vom Kläger erstrebte Rechtsprechungsänderung könnte wiederum nur durch eine neuerliche Anrufung des Großen Senats herbeigeführt werden (zur —mittelbaren— Bindung der Senate des BFH an Beschlüsse des Großen Senats: vgl. Sunder-Plassmann in HHSp, § 11 FGO Rz 129 und Rz 44 zur erneuten Vorlage an den Großen Senat).

2. Es bedarf keiner Entscheidung, ob die Darlegungen des Klägers, das Finanzgericht habe einen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) begangen, den gesetzlichen Anforderungen des § 116 Abs. 3 FGO genügen. Jedenfalls liegt kein Verfahrensfehler vor, auf dem die Vorentscheidung beruhen kann. Insoweit ergeht der Beschluss nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ohne weitere Begründung.

Fundstelle(n):
HAAAC-66223