Anspruch auf rechtliches Gehör
Gesetze: FGO § 96 Abs. 2, GG Art. 103
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) meldete im November 2000 beim Zollamt R eine Warensendung gefrorener Hühner bestehend aus 66 060 Kartons mit je zehn Geflügelkörpern zur Ausfuhr nach Russland an, die sie als „Hühner, unzerteilt, gefroren, gerupft und ausgenommen, ohne Kopf und Ständer, mit Hals, Herz, Leber u. Muskelmagen, gen. Hühner 70 v.H., deren Brustbeinfortsatz, Ober- und Unterschenkelknochen nicht vollständig verknöchert sind” der Marktordnungs-Warenlistennummer 0207 12 10 9900 bezeichnete. Das Zollamt R entnahm vier Kartons als Probe, die es an die Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalt (ZPLA) übersandte. In ihren daraufhin erstellten Untersuchungszeugnissen und Gutachten kam die ZPLA zu dem Ergebnis, dass 17 der untersuchten Geflügelkörper den Voraussetzungen der angegebenen Marktordnungs-Warenlistennummer 0207 12 10 9900 nicht entsprochen hätten, weil sie nicht vollständig gerupft gewesen seien (14 Proben) oder zu viele bzw. keine Innereien enthalten oder Knochenbrüche aufgewiesen hätten (3 Proben). Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt —HZA—) versagte daraufhin die beantragte Ausfuhrerstattung für eine Teilmenge von 369 508,5 kg, was im Wege einer Hochrechnung des Gewichtsanteils der untersuchten nicht erstattungsfähigen Proben auf das Gesamtgewicht einem Anteil von 43,49 % entsprach, und setzte insoweit auch eine Sanktion gegen die Klägerin fest.
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage teilweise statt, verpflichtete das HZA aus den in der Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern (ZfZ) 2005, 128 veröffentlichten Gründen, Ausfuhrerstattung für eine weitere Teilmenge von 132 034,12 kg zu gewähren, und hob die insoweit verhängte Sanktion auf.
Mit seiner Revision macht das HZA geltend, dass das Urteil des FG auf einem Verfahrensmangel beruhe. Das FG habe die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht, die richterliche Hinweispflicht sowie den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt. Mit seiner Ansicht, dass sechs der Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA für die Einordnung der untersuchten Ausfuhrerzeugnisse in die angegebene Marktordnungs-Warenlistennummer nicht verwertet werden könnten, habe das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt, zu dem sich die Beteiligten nicht hätten äußern können und zu dem nach dem Verlauf des Verfahrens auch kein Anlass zur Äußerung bestanden habe, weil sowohl im außergerichtlichen als auch im gerichtlichen Verfahren nur die Repräsentativität der Proben zwischen den Beteiligten im Streit gewesen sei. Hätte das FG darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der Frage des vollständigen Rupfens der Geflügelkörper an der Aussagekraft der Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA zweifele, hätte die Ordnungsmäßigkeit der Untersuchungszeugnisse durch Fotos —welche das FG nach den Urteilsgründen vermisst habe, welche aber hätten vorgelegt werden können— belegt werden können und es hätte eine Stellungnahme der ZPLA beigebracht werden können, wonach Federreste, die nach der Verordnung (EWG) Nr. 1538/91 (VO Nr. 1538/91) der Kommission vom mit ausführlichen Durchführungsvorschriften zur Verordnung (EWG) Nr. 1906/90 des Rates über bestimmte Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 143/11) tolerierbar seien, auch in den Untersuchungszeugnissen der ZPLA nicht beanstandet würden.
Unter Berücksichtigung des Senatsurteils vom VII R 19, 35/03 (BFHE 216, 429, ZfZ 2007, 160) sei allerdings davon auszugehen, dass der bei der Probenuntersuchung beanstandete Geflügelkörper mit einem offenen Knochenbruch erstattungsfähig gewesen sei. Damit erhöhe sich der erstattungsfähige Anteil der Ausfuhrsendung auf 58,89 %; insoweit werde der Klage abgeholfen.
Das HZA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung insoweit aufzuheben und die Klage abzuweisen, als es verpflichtet worden ist, Ausfuhrerstattung in Höhe von mehr als weiteren 6 074,96 € zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, nimmt aber zu den Verfahrensrügen des HZA nicht Stellung.
II. Die Revision des HZA ist begründet; sie führt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Die Verfahrensrüge des HZA ist zulässig und begründet. Das FG hat den Anspruch des HZA auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt.
Nach § 96 Abs. 2 FGO, der im finanzgerichtlichen Verfahren der Verwirklichung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör dient, darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Aus dieser Vorschrift folgt u.a. das Verbot von Überraschungsentscheidungen; ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen, darf nicht zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden (, BFH/NV 2006, 318).
Das HZA hat die Verletzung dieser Verfahrensvorschrift durch das FG schlüssig dargelegt und die Tatsachen bezeichnet, die den Mangel ergeben (§ 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO). Es hat vorgetragen, dass und weshalb es nach dem bisherigen Verlauf des außergerichtlichen und des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht damit habe rechnen müssen, dass das FG einige der Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA für nicht verwertbar halten würde. Des Weiteren hat das HZA angegeben, was es bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs zu diesem Gesichtspunkt noch vorgetragen hätte und inwieweit bei Berücksichtigung des versagten Vorbringens das angefochtene Urteil anders hätte ausfallen können.
Dieses Vorbringen des HZA ist auch zutreffend. Die Frage, ob sämtliche Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA in ausreichender Weise Aufschluss darüber geben, ob der jeweils untersuchte Geflügelkörper vollständig gerupft war, ist weder im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch im finanzgerichtlichen Verfahren streitig gewesen bzw. erörtert worden. Vielmehr wurde zwischen den Beteiligten ausschließlich darüber gestritten, ob der Ausfuhrsendung eine repräsentative Probe entnommen worden war, deren Untersuchungsergebnis Geltung für die gesamte Ausfuhrsendung beanspruchen konnte. Ebenso ist dem Sitzungsprotokoll zu entnehmen, dass in der mündlichen Verhandlung allein die Frage der Repräsentativität der Proben erörtert worden ist. Unter diesen Umständen musste das HZA ohne einen entsprechenden Hinweis von Seiten des Gerichts nicht damit rechnen, dass das FG, obwohl es den Umfang der entnommenen Probe für ausreichend hielt, der Klage gleichwohl wegen einer angeblich mangelnden Verwertbarkeit der Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA teilweise stattgeben würde.
Hätte das FG einen Hinweis gegeben, dass insoweit entscheidungserhebliche Zweifel bestehen könnten, insbesondere eine Dokumentation der Befunde der ZPLA durch Fotos hilfreich wäre, hätte das HZA Gelegenheit gehabt, diese —entgegen der Vermutung des FG vorhandenen— Fotos vorzulegen sowie eine Stellungnahme der ZPLA zu der Frage einzuholen, ob das vollständige Rupfen der Geflügelkörper unter Berücksichtigung der VO Nr. 1538/91 begutachtet wird.
Die Entscheidung des FG kann auch auf dem Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhen. Unter Zugrundelegung des —vom HZA offenbar geteilten— rechtlichen Standpunktes des FG zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Geflügelkörper als vollständig gerupft anzusehen ist, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung des FG anders ausgefallen wäre, wenn dem HZA Gelegenheit zu einer entsprechenden Stellungnahme und zu einer Ergänzung der vom FG für nicht aussagekräftig gehaltenen Untersuchungszeugnisse und Gutachten der ZPLA gegeben worden wäre.
Im zweiten Rechtsgang wird dementsprechend dem HZA Gelegenheit zu einer solchen Stellungnahme zu geben sein und es wird vom FG erneut zu prüfen und zu beurteilen sein, ob und in welchem Umfang die als Probe entnommenen und von der ZPLA untersuchten Geflügelkörper der Marktordnungs-Warenlistennummer 0207 12 10 9900 entsprachen. Dabei wird zum einen zu berücksichtigen sein, dass nach dem Senatsurteil in ZfZ 2007, 160 allein die fehlende gesunde und handelsübliche Qualität der Erzeugnisse der Erstattungsfähigkeit nicht entgegensteht, falls keine Stichprobe entnommen worden ist, die den nach Art. 7 Abs. 3 VO Nr. 1538/91 vorgeschriebenen Mindestumfang aufweist. Für die Frage, ob die Geflügelkörper mit den Beschaffenheitsmerkmalen der Marktordnungs-Warenlistennummer 0207 12 10 9900 übereinstimmen, gilt dieser vorgeschriebene Stichprobenumfang indes nicht; insoweit wird auf die Urteile des erkennenden Senats vom heutigen Tag in den Sachen VII R 34, 35 und 36/04 verwiesen. Zum anderen wird zu berücksichtigen sein, dass mit den Untersuchungszeugnissen und Gutachten vom 29. bzw. (Bl. 44 und 52 der Sachakte) nicht nur das unvollständige Rupfen, sondern auch das Vorhandensein von zu vielen Innereien beanstandet worden ist. Des Weiteren wird im zweiten Rechtsgang vom FG zu überprüfen sein, ob bei der Feststellung der Verhältnisse der zu beanstandenden und nicht zu beanstandenden Probenmengen die zutreffenden Gewichte zugrunde gelegt worden sind. Der Vergleich der auf S. 17 des FG-Urteils angegebenen Gewichte der Proben mit den Probengewichten, wie sie sich aus dem angefochtenen Teilablehnungsbescheid und aus den Untersuchungszeugnissen und Gutachten der ZPLA ergeben, gibt insoweit Anlass zu Zweifeln.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
HFR 2008 S. 169 Nr. 2
HFR 2008 S. 254 Nr. 3
YAAAC-65387