BVerwG Urteil v. - 1 C 47.06

Leitsatz

1. Die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer erlöschen nicht durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit.

2. Es verstößt nicht gegen das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, dass die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer nur in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen (im Anschluss an , Derin).

3. Die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, die unter Verstoß gegen die Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verfügt wurde - hier: wegen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens -, ist auch nach Außerkrafttreten der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig (im Anschluss an die BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 und vom - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243).

Gesetze: AufenthG § 55; AufenthG § 56; VwVfG § 45; VwVfG § 46; VwVfG § 96; Richtlinie 64/221/EWG Art. 9; ARB 1/80 Art. 6; ARB 1/80 Art. 7; ARB 1/80 Art. 14; ZP Art. 59

Instanzenzug: VG Karlsruhe VG 3 K 3521/04 vom VGH Mannheim VGH 11 S 1504/05 vom Fachpresse: ja BVerwGE: ja

Gründe

I

Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.

Der 1975 in Karlsruhe geborene, ledige Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs bei seinen Eltern auf, die in der Bundesrepublik Deutschland als türkische Arbeitnehmer tätig waren. Nach dem Abschluss seiner Berufsausbildung zum Karosserie- und Fahrzeugbauer war er zunächst arbeitslos und arbeitete dann bei verschiedenen Arbeitgebern. Von Dezember 1999 bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2003 war er selbständig im Gebrauchtwagenhandel tätig. Seit Juni 1992 war er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.

Zwischen 1993 und 2001 wurden mehrere Strafverfahren gegen den Kläger durchgeführt, die in sieben Fällen zu einer Verurteilung führten. Zuletzt wurde er durch zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen Diebstahls verurteilt. Der Kläger hatte gemeinsam mit weiteren Mittätern neun Neuwagen im Wert von über 320 000 € entwendet. Das Gericht nahm insbesondere im Hinblick auf den außerordentlich hohen Gesamtwert der Fahrzeuge, von denen lediglich vier sichergestellt und unbeschädigt zurückgeführt werden konnten, einen besonders schweren Fall an.

Nach Anhörung des Klägers wies ihn das Regierungspräsidium Karlsruhe mit Verfügung vom aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung führte es aus, aufgrund der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers sei seine Ausweisung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geboten. Die Bestimmungen des Assoziationsratsbeschlusses ARB 1/80 stünden der Ausweisung nicht entgegen. Denn der Kläger sei volljährig und von 1999 an bis zu seiner Inhaftierung selbständig tätig gewesen. Folglich könne er sich auf Rechte aus dem ARB 1/80, insbesondere aus Art. 6 und 7, nicht berufen.

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat den Ausweisungsbescheid mit Urteil vom aufgehoben. Es hat seine Entscheidung insbesondere damit begründet, dass der Kläger die von ihm erworbene Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 weder durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit noch durch seine Inhaftierung verloren habe. Er habe daher nur unter Beachtung der für freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe ausgewiesen werden können. Es fehle aber an der in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgeschriebenen Einschaltung einer zweiten Stelle vor Erlass der Ausweisungsverfügung. Der angefochtene Bescheid sei daher rechtswidrig.

Mit Urteil vom hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hält die Ausweisung für rechtmäßig. Sie sei nicht wegen Verstoßes gegen Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG unheilbar rechtswidrig. Diese gemeinschaftsrechtliche Vorschrift sei auf den Kläger nicht anwendbar, weil er sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 durch die auf Dauer angelegte Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Jahr 1999 verloren habe. Art. 7 ARB 1/80 gewähre kein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht, sondern ein beschäftigungsbezogenes Bewerbungs- und Zugangsrecht. Werde der Familienangehörige selbständig tätig, nehme er kein aufenthaltsrechtlich zu sicherndes Recht nach Art. 7 ARB 1/80 in Anspruch. Dann stünden ihm über das nationale Recht hinaus keine individuellen, unmittelbar wirkenden Schutzrechte auf Aufenthalt zu.

Zur Begründung der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision beruft sich der Kläger auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), wonach der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur verliere, wenn er die Ausweisungsvoraussetzungen nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erfülle oder den Mitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlasse. Diese Verlusttatbestände lägen hier nicht vor. Die Nichtbeachtung der verfahrensrechtlichen Vorgaben in Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG mache die Ausweisung unheilbar rechtswidrig. Hieran ändere auch die zwischenzeitliche Ablösung von Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG durch Art. 31 Richtlinie 2004/38/EG nichts.

Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht ist der Auffassung, dass sich der Kläger aufgrund seiner selbständigen Tätigkeit und wegen des Besserstellungsverbots nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei (ZP) nicht mehr auf die durch Art. 7 ARB 1/80 gewährten Rechte berufen kann.

Der Senat hat den Beteiligten nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom Gelegenheit zur Stellungnahme zum in dem Verfahren C-325/05 - Derin - gegeben, das die Auslegung von Art. 59 ZP betrifft.

II

Die zulässige Revision, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 VwGO), ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es zu Unrecht davon ausgeht, dass das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Klägers aus Art. 7 ARB 1/80 durch die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erloschen ist und die Ausweisung daher nicht den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie (RL) 64/221/EWG (ABl 56 vom , 850) unterliegt. Da der Kläger sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren hat (1.) und die Ausweisung wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG unheilbar rechtswidrig ist (2.), war das Berufungsurteil aufzuheben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen, die der Anfechtungsklage gegen die Ausweisungsverfügung stattgegeben hat (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).

1. Der Kläger besitzt ein aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

a) Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass der Kläger sowohl die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 als auch die nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erworben hat. Er erfüllte die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80, weil er in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde und fünf Jahre bei seinem Vater lebte, der zu jener Zeit als türkischer Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte. Die Geburt und der dauernde Aufenthalt im Bundesgebiet stehen der Zuzugsgenehmigung aus Gründen des Familiennachzugs gleich (vgl. BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 - Rn. 10). Die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 erfüllte der Kläger durch den Abschluss seiner Berufsausbildung zum Karosserie- und Fahrzeugbauer.

b) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist das aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht des Klägers nicht dadurch erloschen, dass er von Dezember 1999 bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2003 selbständig im Gebrauchtwagenhandel tätig war.

Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) können die genannten Aufenthaltsrechte nach Art. 7 ARB 1/80 nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Urteile vom , Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 45, 46 und 48; vom , Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Rn. 36 und 38; vom , Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Rn. 27, vom , Torun, C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Rn. 21, vom , Derin, C-325/05, Rn. 54). Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit führt hingegen nicht zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80. Vielmehr ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden vom EuGH genannten Verlustgründe auszugehen. Während der Gerichtshof in seiner früheren Rechtsprechung die beiden Verlusttatbestände nannte, ohne ausdrücklich von ihrem abschließenden Charakter zu sprechen (vgl. die oben genannten Urteile in den Sachen Ergat, Cetinkaya und Aydinli), betont er in seinen neuesten Entscheidungen, das Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könne "nur" unter diesen Voraussetzungen eingeschränkt werden (vgl. die Urteile in den Sachen Torun und Derin).

In seinem Urteil vom (Torun, Rn. 24) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Rechtsposition aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 nicht weitergehend eingeschränkt werden darf als die nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Für beide Rechtsstellungen aus Art. 7 ARB 1/80 gilt, dass sie sich nach ihrer Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten lösen und der allmählichen Integration der Familienangehörigen im Mitgliedstaat dienen sollen ( Aydinli, Rn. 25, vom , Derin, Rn. 53). Dem widerspräche es, würde der Familienangehörige seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 verlieren, weil er - etwa nach Verlust seines Arbeitsplatzes in abhängiger Beschäftigung - eine selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt. Dem Integrationsziel widerspräche auch, wenn derjenige, der untätig bleibt, bessergestellt würde als der selbständig Erwerbstätige. In seinem Urteil vom hatte der EuGH über das aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen zu entscheiden, der mehrere Jahre selbständig tätig war (Derin, Rn. 23), und ist auch in diesem Fall davon ausgegangen, dass ein Verlust der Rechtsstellung nur unter den beiden oben genannten Voraussetzungen möglich ist (Derin, Rn. 57).

Zwar weist der Verwaltungsgerichtshof zutreffend darauf hin, dass Art. 7 ARB 1/80 kein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht gewährt, sondern nur ein solches, dass sich vom Recht auf Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ableitet. Richtig ist auch, dass das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom (BGBl II 1964, 509) - Assoziierungsabkommen - in seinen Artikeln 12, 13 und 14 gesonderte Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit trifft und dem ARB 1/80 entsprechende Regelungen des Assoziationsrats zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs bisher nicht ergangen sind. Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des EuGH lässt sich daraus aber nicht der Schluss ziehen, dass Familienangehörige von Arbeitnehmern nicht mehr den Regeln des Art. 7 ARB 1/80 unterliegen, wenn sie eine selbständige Tätigkeit ergreifen (so im Ergebnis auch VGH Mannheim, Urteil vom - 13 S 192/06 - InfAuslR 2007, 49 <50>). Vielmehr hat der EuGH in seinem Urteil vom (C- 373/03, Aydinli, Rn. 29) entschieden, dass Art. 7 ARB 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers den Zugang zu einer Beschäftigung eröffnet, ihnen aber keine entsprechende Verpflichtung auferlegt. Ihr aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht bleibt unabhängig von der Aufnahme einer solchen Beschäftigung - wie auch von der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit - erhalten. Der Familienangehörige kann sein Recht auf Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nämlich auch im Anschluss an Phasen der Beschäftigungslosigkeit oder selbständigen Erwerbstätigkeit ausüben. Ein Erlöschen dieses Rechts kann nicht daraus abgeleitet werden, dass das Assoziationsrecht gesonderte Regelungen für selbständig Erwerbstätige vorsieht. Diese treten vielmehr neben die Regeln über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen - etwa nach dem ARB 1/80 -, schränken diese hingegen grundsätzlich nicht ein.

Der Kläger hat sein aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht auch nicht durch die Verbüßung der Strafhaft verloren (vgl. BVerwG 1 C 5.04 - a.a.O. Rn. 12).

c) Der Umstand, dass dem Kläger nach den vorstehenden Grundsätzen ein aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht, stellt auch keinen Verstoß gegen das Besserstellungsverbot nach Art. 59 des Zusatzprotokolls (ZP) zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei (BGBl II 1972, 385) dar.

Diese Vorschrift bestimmt, dass der Türkei (hier: türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) in den vom Zusatzprotokoll erfassten Bereichen (hier: Freizügigkeit der Arbeitnehmer) keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft aufgrund des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft untereinander einräumen. Durch das , Derin) ist nun geklärt, dass es nicht gegen das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP verstößt, wenn das Kind eines türkischen Arbeitnehmers seine einmal erworbene Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 auch dann behält, wenn es älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält und im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt. Der EuGH vergleicht die Rechtsstellung der Kinder von türkischen Arbeitnehmern nach dem ARB 1/80 und Unionsbürgern im Wege einer Gesamtbetrachtung und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Rechtsstellung türkischer Kinder nach Art. 7 ARB 1/80 nicht besser ist als die der Kinder von Unionsbürgern (a.a.O. Rn. 62 bis 69). Der EuGH verweist darauf, dass die Kinder eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, wenn sie noch nicht 21 Jahre alt sind oder ihnen Unterhalt gewährt wird, das uneingeschränkte Recht haben, bei diesem Wanderarbeitnehmer der Gemeinschaft Wohnung zu nehmen. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 macht hingegen die Familienzusammenführung ausdrücklich von einer gemäß den Anforderungen der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats erteilten Genehmigung für den Nachzug zum türkischen Wanderarbeitnehmer abhängig (a.a.O. Rn. 63). Sodann haben nach Art. 11 der VO Nr. 1612/68/EWG die Kinder, die bei dem Arbeitnehmer Wohnung nehmen dürfen, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, allein aus diesem Grund das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, während das Recht der Kinder eines türkischen Wanderarbeitnehmers auf Ausübung einer Beschäftigung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 von besonderen Voraussetzungen abhängt, die sich danach bestimmen, wie lange sie bei dem türkischen Arbeitnehmer, von dem sie Rechte ableiten, ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. So wird den türkischen Staatsangehörigen während der ersten drei Aufenthaltsjahre kein solches Recht gewährt, während sie nach drei Jahren mit einem ordnungsgemäßen Wohnsitz bei ihrer Familie vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs das Recht haben, sich auf ein Stellenangebot zu bewerben. Erst nach fünf Jahren mit ordnungsgemäßem Wohnsitz haben sie freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (a.a.O. Rn. 65). Außerdem genießen türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft, sondern besitzen nur bestimmte Rechte im Aufnahmemitgliedstaat (a.a.O. Rn. 66). Schließlich gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen, unter denen die aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleiteten Rechte beschränkt werden können, zusätzlich zu der Ausnahme wegen der Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die gleichermaßen auf türkische Staatsangehörige wie auf Gemeinschaftsangehörige anwendbar ist, einen zweiten Erlöschensgrund für diese Rechte, der nur die türkischen Migranten betrifft, nämlich den, dass sie den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen. Will sich der Betroffene in einem solchen Fall später erneut in dem fraglichen Mitgliedstaat niederlassen, können die Behörden dieses Staates verlangen, dass er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, um zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, wenn er noch von ihm abhängt, oder um auf der Grundlage von Art. 6 ARB 1/80 dort eine Arbeit aufnehmen zu können (a.a.O. Rn. 67).

Angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung befindet sich das Kind eines türkischen Wanderarbeitnehmers nach dem Urteil des EuGH nicht in einer günstigeren Situation als das Kind eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats.

2. Hatte der Kläger aber ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (wie auch nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80), so durfte er nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden. Die Bestimmung lautet:

"Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist."

a) Die Ausweisungsverfügung verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.

Nach dem Urteil des Senats vom - BVerwG 1 C 7.04 - (BVerwGE 124, 217) sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben. Das Bundesverwaltungsgericht folgt damit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom - Rs. C-136/03 -, Dörr und Ünal, Rn. 66 bis 68, EuGRZ 2005, 319). Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom näher ausgeführt, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zugunsten von Unionsbürgern sowie von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen eingreift, weil die gerichtlichen Rechtsmittel gegen Ausweisungen nach der Verwaltungsgerichtsordnung "nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen" und keine Zweckmäßigkeitsprüfung eröffnen, wie sie der EuGH verlangt. Er hat weiter entschieden, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen in Baden-Württemberg die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde (nach dem "Vier-Augen-Prinzip") entfallen ist und deshalb Ausweisungen der begünstigten Ausländer wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig sind, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen. Nur in solchen dringenden Fällen kann von der Beteiligung einer zweiten Stelle ausnahmsweise abgesehen werden.

Die Ausweisungsverfügung wurde im vorliegenden Fall vom Regierungspräsidium erlassen. Eine weitere unabhängige Stelle in der Verwaltung war mit der Ausweisung nicht befasst. Sie hätte daher nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verfahrensfehlerfrei nur ergehen können, wenn ein "dringender Fall" im Sinne dieser Bestimmung vorgelegen hätte. Das wäre, wie der Senat ebenfalls in dem Urteil vom dargelegt hat, nur unter engen Voraussetzungen in Betracht gekommen. Anhaltspunkte für einen solchen Ausnahmefall sind hier nicht erkennbar, zumal sich der Kläger bei Erlass der Verfügung in Haft befand (vgl. hierzu Urteil vom , Rn. 19). In einem solchen Fall scheidet die Annahme eines dringenden Falles in aller Regel aus, wenn vor dem Entlassungszeitpunkt oder der beabsichtigten Abschiebung aus der Haft ausreichend Zeit zur Einschaltung der in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderten zweiten Stelle besteht. Durch war der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden und befand sich auch noch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung in Haft, sodass nicht ersichtlich ist, warum vor Erlass der am ergangenen Verfügung nicht noch eine zweite Stelle hätte eingeschaltet werden können. Im Übrigen kann hier auch deshalb nicht von einem dringenden Fall ausgegangen werden, weil der Beklagte die Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet selbst nicht als dringlich behandelt, sondern erst im Revisionsverfahren mit Verfügung vom den Sofortvollzug der Ausweisung angeordnet und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am wieder aufgehoben hat (zu den Voraussetzungen der Dringlichkeit vgl. im Einzelnen BVerwG 1 C 7.04 - a.a.O. Rn. 15 - 19).

b) Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führt auch unter Berücksichtigung der mittlerweile durch Art. 38 Abs. 2 und Art. 31 der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie - ABl L 158 vom , S. 77) eingetretenen Rechtsänderung zur Rechtswidrigkeit der angegriffenen Ausweisungsverfügung.

Die Richtlinie 64/221/EWG ist mit Wirkung vom durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG aufgehoben worden. Die Verfahrensgarantie der Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen durch Einschaltung einer zweiten Verwaltungsinstanz nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG wurde in Art. 31 der RL 2004/38/EG durch Erweiterung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt. So hat das Gericht nunmehr im Rechtsbehelfsverfahren nicht nur die Rechtmäßigkeit der ausländerbehördlichen Entscheidung zu überprüfen, sondern auch die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht (Art. 31 Abs. 3) - was in mehreren EG-Mitgliedstaaten bisher nicht gewährleistet war. Ferner darf die Abschiebung grundsätzlich so lange nicht erfolgen, bis das Gericht über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden hat (Art. 31 Abs. 2).

Für die Beurteilung, welche Konsequenzen die Verletzung der verfahrensrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG hat, ist jedoch auf die bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens geltende Rechtslage - hier im September 2004 - abzustellen. Dafür spricht zunächst die Tatsache, dass die Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürger-Richtlinie erst mit Wirkung vom aufgehoben wurde. Diese Regelung deutet darauf hin, dass die Verfahrensbestimmungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG für bis zu diesem Zeitpunkt ergehende Ausweisungsentscheidungen weiterhin uneingeschränkt beachtet und Verstöße dagegen in gleicher Weise wie bisher sanktioniert werden sollten. Andernfalls würden die Verfahrensvorschriften der RL 64/221/EWG praktisch schon vor Ablauf ihrer Geltungsdauer wirkungslos. Für die fortdauernde Rechtswirkung des begangenen Verfahrensverstoßes spricht auch der Umstand, dass die in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG eingeräumten Verfahrensgarantien bei Ausweisungen nicht ersatzlos aufgehoben, sondern durch neue Verfahrensgarantien in Art. 31 RL 2004/38/EG ersetzt wurden. Verfahrensgarantien wurden insofern nicht nachträglich als entbehrlich angesehen, sondern durch neue abgelöst. Neue Verfahrensgarantien können von der Verwaltung und den Gerichten aber jedenfalls bei abgeschlossenen Verfahren grundsätzlich nicht mehr beachtet werden. Der Senat hat deshalb entschieden, dass von der Verwaltung regelmäßig nicht verlangt werden kann, Verfahrensregeln zu beachten, die erst nach Abschluss des bei ihr anhängigen Verfahrens in Kraft treten (vgl. BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 - Rn. 42 zur zukunftsbezogenen Regelung in § 73 Abs. 2a AsylVfG). Umgekehrt kann der Verwaltung dann bei einer Verletzung von Verfahrensvorschriften - wie hier - aber in der Regel auch nicht zugute kommen, dass diese nachträglich (zu ihren Gunsten) geändert wurden. Die gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass auch abgeschlossene Verwaltungsverfahren insgesamt an den Anforderungen des Art. 31 RL 2004/38/EG zu messen wären, ohne dass die betroffene Behörde die Möglichkeit gehabt hätte, sich bei Erlass der angefochtenen Ausweisungsverfügung gemeinschaftsrechtskonform zu verhalten.

Die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Verfahrensrechts sprechen ebenfalls dafür, abgeschlossene Verwaltungsverfahren nicht an nachträglich in Kraft getretenen Verfahrensvorschriften zu messen. Ein allgemeiner Grundsatz des intertemporalen Verfahrensrechts, wie er auch in § 96 Abs. 1 VwVfG zum Ausdruck kommt, besagt zwar, dass das neue Verfahrensrecht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an regelmäßig auch bereits anhängige Verfahren erfasst (vgl. etwa BVerwG 1 C 10.06 - NVwZ 2007, 465, Rn. 32 und BVerwG 9 C 59.91 - Buchholz 402.25 § 7 AsylVfG Nr. 1 - für das intertemporale Prozessrecht vgl. , 2 BvR 1728/90 - BVerfGE 87, 48 <64 ff.>). Daraus folgt aber im Umkehrschluss, dass sich das neue Recht grundsätzlich nicht mehr auf bereits abgeschlossene Verwaltungsverfahren - wie hier - erstreckt (vgl. BVerwG 9 C 47.84 - Buchholz 402.25 § 10 AsylVfG Nr. 1; BVerwG 4 C 20.76 - BVerwGE 54, 257 <258 f.>; Kopp/Ramsauer, 9. Aufl., VwVfG, § 96, Rn. 4; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 96 Rn. 1 f.). Aus Gemeinschaftsrecht ergibt sich insoweit nichts Abweichendes (vgl. hierzu Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 80 f., 93 ff. m.w.N.). Die nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretene Rechtsänderung war daher ohne Einfluss auf die Rechtswidrigkeit der unter Verletzung von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassenen Ausweisungsverfügung.

Dass für das Vorliegen von behördlichen Verfahrensfehlern insoweit auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens abzustellen ist, steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Senats, wonach bei der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist ( BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <308 f.> und - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <319>). Denn bei der Prüfung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen für den genannten Personenkreis geht es um die Frage, ob die gemeinschaftsrechtlich begründete Voraussetzung erfüllt ist, dass vom Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgeht. Diese Frage lässt sich nur unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung des Ausländers unter Zugrundelegung der Rechtslage bei Abschluss des gerichtlichen Verfahrens vor den Instanzgerichten beurteilen. Diese aktuelle Lage spielt hingegen keine Rolle für die rechtliche Beurteilung von Verwaltungsverfahren, die vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens abgeschlossen wurden (ähnlich OVG 7 B 16.05 - InfAuslR 2006, 395 <396>). Soweit der Senat der Behörde insoweit Gelegenheit zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen eingeräumt hat, betrifft dies das laufende gerichtliche Verfahren (§ 114 Satz 2 VwGO), nicht hingegen das abgeschlossene Verwaltungsverfahren. Im Übrigen steht die Ergänzung der Ermessenserwägungen bei der Ausweisung im inhaltlichen Zusammenhang mit den materiellrechtlichen Anforderungen an die Ausweisung und ist deshalb mit der allein auf den Ablauf des Verwaltungsverfahrens bezogenen Nachprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle gemäß Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht vergleichbar.

c) Der Senat hält an seiner bereits in den Urteilen vom (a.a.O. Rn. 13) und vom (BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 - Rn. 16) vertretenen Auffassung fest, dass die Verletzung von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG einen "unheilbaren Verfahrensmangel" darstellt.

Der hier begangene Verfahrensverstoß wurde nicht nach § 46 LVwVfG Baden-Württemberg geheilt. Es kann offenbleiben, ob § 46 LVwVfG überhaupt auf einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG anwendbar ist (vgl. dazu VGH Mannheim, Urteil vom - 11 S 2299/05 - VBlBW 2007, 109 <114> m.w.N.). Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nach § 46 LVwVfG nämlich nur dann unbeachtlich, wenn "offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat". Das ist hier nicht der Fall. Die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu beteiligende "zuständige Stelle" hatte eine unabhängige Stellungnahme zu der vorgesehenen Ausweisung abzugeben. Es ist möglich, dass diese Stelle bei Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte zu einem von der Ausgangsbehörde abweichenden Ergebnis gelangt wäre. Ihre Stellungnahme hätte bei der gebotenen - und hier auch (hilfsweise) getroffenen - Ermessensentscheidung des Beklagten nach §§ 45, 46 AuslG (jetzt: § 55 AufenthG) berücksichtigt werden müssen, war also geeignet, die Entscheidung zu beeinflussen. Dabei ist unerheblich, dass der Stellungnahme keine Bindungswirkung für die entscheidende Behörde zukommt.

Eine Heilung des Verfahrensfehlers nach § 45 Abs. 1 Nr. 5, Abs.2 LVwVfG kommt unbeschadet der Anwendbarkeit der Vorschrift auf Verstöße gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften schon deshalb nicht in Betracht, weil eine Nachholung der erforderlichen Mitwirkung hier nicht erfolgt ist.

Auf die Frage, ob die Ausweisung darüber hinaus - wie die Revision geltend macht - auch materiell-rechtlich nicht den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügt, braucht deshalb nicht eingegangen zu werden.

Erweist sich danach die Ausweisung in Ziffer 1 der Verfügung als rechtswidrig, kann auch die darauf gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 der Verfügung keinerlei Bestand haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt (§ 52 Abs. 2 GKG).

Fundstelle(n):
TAAAC-59117