Verbrauchsteuerbefreiung für Einfuhr von mit geringen Mengen Alkohol versehene Schokoladenerzeugnisse
Leitsatz
[1] 1) Die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung des Gemeinschaftsrechts verbietet es, im Fall von Zweifeln eine Bestimmung in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, und gebietet vielmehr, sie unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Gemeinschaftstextes voneinander ab, so muss die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.
2) Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke ist so auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, in das Zollgebiet der Europäischen Union eingeführten Ethylalkohol, der in Schokoladeerzeugnissen enthalten ist, die für den unmittelbaren Verbrauch bestimmt sind, von der harmonisierten Verbrauchsteuer zu befreien, sofern der Alkoholgehalt dieser Erzeugnisse 8,5 l je 100 kg des Erzeugnisses nicht überschreitet. Der Ort, an dem der Ethylalkohol für die Herstellung der genannten Erzeugnisse verwendet wird, ist in dieser Hinsicht unbeachtlich.
Gesetze: EG Art. 234; Richtlinie 92/83/EWG Art. 27 Abs. 1 Buchst. f
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. L 316, S. 21).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits der UAB Profisa (im Folgenden: Profisa) gegen das Muitines departamentas prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos (litauische Zollverwaltung), bei dem es darum geht, ob Alkohol, der in Schokoladeerzeugnissen enthalten ist, der harmonisierten Verbrauchsteuer auf Alkohol unterliegt.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 bestimmt:
"Die Mitgliedstaaten befreien die von dieser Richtlinie erfassten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer nach Maßgabe von Bedingungen, die sie zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung solcher Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch festlegen, sofern die betreffenden Erzeugnisse unmittelbar oder als Bestandteile von Halbfertigerzeugnissen für die Herstellung von Lebensmitteln, gefüllt oder in anderer Form, verwendet werden, sofern jeweils der Alkoholgehalt 8,5 Liter reinen Alkohols je 100 kg des Erzeugnisses bei Pralinen und 5 Liter reinen Alkohols je 100 kg des Erzeugnisses bei anderen Erzeugnissen nicht überschreitet."
Nationales Recht
4 Nach Art. 25 Abs. 1 Nr. 5 des Verbrauchsteuergesetzes (akcizu istatymas) der Republik Litauen vom (Zin., 2001, Nr. 98-3482) in der durch das Gesetz vom (Zin., 2004, Nr. 26-802) geänderten Fassung (im Folgenden: Verbrauchsteuergesetz) sind Ethylalkohol und alkoholische Getränke, die zur Herstellung von Schokoladeerzeugnissen bestimmt sind, von der Verbrauchsteuer befreit, sofern nicht mehr als 8,5 l reiner Ethylalkohol je 100 kg (netto) Schokoladeerzeugnisse verwendet wird.
Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefrage
5 Profisa führt Schokoladeerzeugnisse, die Ethylalkohol enthalten, nach Litauen ein.
6 Das Muitines departamentas prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos lehnte es mit Bescheiden vom 4. Januar und vom ab, die von Profisa eingeführten Waren von der Verbrauchsteuer zu befreien; zur Begründung machte es geltend, dass zwar Art. 25 Abs. 1 Nr. 5 des Verbrauchsteuergesetzes Ethylalkohol, der zur Herstellung von Schokoladeerzeugnissen bestimmt sei, befreie, doch gelte diese Bestimmung nicht für fertige Ethylalkohol enthaltende Schokoladeerzeugnisse wie diejenigen, um die es im Ausgangsverfahren gehe.
7 Profisa erhob beim Vilniaus Apygardos administracinis teismas Klage auf Aufhebung dieser Bescheide; das Gericht wies diese Klage mit Urteil vom ab.
8 Profisa legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.
9 Das vorlegende Gericht führt aus, da Art. 25 Abs. 1 Nr. 5 des Verbrauchsteuergesetzes der Umsetzung von Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 in das litauische Recht diene, sei eine Auslegung der letztgenannten Bestimmung für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderlich.
10 Nach den Ausführungen dieses Gerichts weicht die litauische Fassung von Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 von anderen Sprachfassungen dieses Artikels ab.
11 In diesem Zusammenhang hat das Vyriausiasis administracinis teismas das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist im Hinblick auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie 92/83 Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie so auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, in das Zollgebiet der Europäischen Gemeinschaften eingeführten Ethylalkohol, der in Schokoladeerzeugnissen enthalten ist, die für den unmittelbaren Verbrauch bestimmt sind, von der Verbrauchsteuer zu befreien, sofern der Alkoholgehalt 8,5 l je 100 kg der Schokoladeerzeugnisse nicht überschreitet?
Zur Vorlagefrage
12 Alle Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, schlagen vor, die Vorlagefrage zu bejahen.
13 Nach ständiger Rechtsprechung verbietet es die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung des Gemeinschaftsrechts, im Fall von Zweifeln eine Bestimmung in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, und gebietet es vielmehr, sie unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen und anzuwenden (Urteile vom , Stauder, 29/69, Slg. 1969, 419, Randnr. 3, vom , Moksel, 55/87, Slg. 1988, 3845, Randnr. 15, und vom , EMU Tabac u. a., C-296/95, Slg. 1998, I-1605, Randnr. 36).
14 Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Gemeinschaftstextes voneinander ab, so muss die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile vom , Bouchereau, 30/77, Slg. 1977, 1999, Randnr. 14, vom , Italien/Kommission, C-482/98, Slg. 2000, I-10861, Randnr. 49, und vom , Borgmann, C-1/02, Slg. 2004, I-3219, Randnr. 25).
15 Ein Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 ergibt, dass mit Ausnahme der litauischen Fassung alle Sprachfassungen dieses Artikels vorsehen, dass die Mitgliedstaaten nach Maßgabe von Bedingungen, die sie festlegen, die von dieser Richtlinie erfassten Erzeugnisse, zu denen Ethylalkohol gehört, von der harmonisierten Verbrauchsteuer befreien, wenn diese unmittelbar für die Herstellung von Lebensmitteln verwendet werden und jeweils ihr Alkoholgehalt 8,5 l reinen Alkohols je 100 kg bei Pralinen und 5 l reinen Alkohols je 100 kg bei anderen Erzeugnissen nicht überschreitet.
16 Der Ort, an dem der Ethylalkohol für die Herstellung verwendet wird, ist in dieser Hinsicht unbeachtlich.
17 Im Übrigen wird mit den in der Richtlinie 92/83 vorgesehenen Steuerbefreiungen u. a. das Ziel verfolgt, die Auswirkungen der Verbrauchsteuern auf Alkohol als bei der Herstellung anderer Handels- oder Industrieerzeugnisse verwendetes Zwischenerzeugnis zu neutralisieren (Urteil Italien/Kommission, Randnr. 4).
18 Ferner ist bei den von Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83 erfassten Erzeugnissen die Steuerbefreiung die Regel und ihre Versagung die Ausnahme. Die den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis, die Bedingungen "zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung solcher Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Missbrauch" festzulegen, kann nicht die Unbedingtheit der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befreiungsverpflichtung in Frage stellen (Urteil Italien/Kommission, Randnr. 50).
19 Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/83 so auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, in das Zollgebiet der Europäischen Union eingeführten Ethylalkohol, der in Schokoladeerzeugnissen enthalten ist, die für den unmittelbaren Verbrauch bestimmt sind, von der harmonisierten Verbrauchsteuer zu befreien, sofern der Alkoholgehalt dieser Erzeugnisse 8,5 l je 100 kg des Erzeugnisses nicht überschreitet.
Kostenentscheidung:
Kosten
20 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Fundstelle(n):
PAAAC-53755
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg