BGH Beschluss v. - XII ZB 82/06

Leitsatz

[1] a) Legen namens der unterlegenen Partei zwei Prozessbevollmächtigte unabhängig voneinander Berufung ein und nimmt einer von ihnen später "die Berufung" ohne einschränkenden Zusatz zurück, so bewirkt dies den Verlust des Rechtsmittels.

b) In der Bestellung eines neuen Prozessbevollmächtigten kann der Widerruf der Bestellung eines früheren Bevollmächtigten nur dann gesehen werden, wenn darin zum Ausdruck kommt, dass der neue Bevollmächtigte anstelle des früheren bestellt werden soll (Festhaltung an Senatsbeschluss vom - IVb ZB 567/80 - NJW 1980, 2309 f.). Das ist nicht schon dann der Fall, wenn ein Prozessbevollmächtigter Berufung einlegt und im Rubrum der Berufungsschrift ausschließlich sich selbst als Prozessbevollmächtigten bezeichnet, der erstinstanzlich tätige Prozessbevollmächtigte zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht seinerseits Berufung eingelegt hatte (Abgrenzung zu BSG NJW 1990, 600).

c) Die Wirksamkeit der Zustellung eines Urteils setzt nicht voraus, dass der Ausfertigungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eine Datumsangabe enthält (Anschluss an - VersR 1985, 503 und Abgrenzung zu - NJW-RR 1993, 956).

d) Auch wenn ein Prozessbevollmächtigter die Berufung ohne oder entgegen einer Weisung des Mandanten zurückgenommen hat, kann für eine erneut, aber verspätet eingelegte Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden (Anschluss an - NJW-RR 1998, 1446).

Gesetze: ZPO § 84; ZPO § 87; ZPO § 233 I; ZPO § 317 Abs. 1; ZPO § 317 Abs. 4; ZPO § 516

Instanzenzug: LG Bremen 7 O 23/05 vom OLG Bremen 4 U 37/05 vom

Gründe

I.

Gegen das dem Kläger am zugestellte klagabweisende Urteil des Landgerichts legte Rechtsanwalt P. (Sozietät Dr. M. und Kollegen) "namens und in Vollmacht des Klägers" am um 10.37 Uhr per Fax Berufung ein. Dem Original dieser Berufungsschrift, das am Folgetag beim Oberlandesgericht einging, war eine Vollmacht des Klägers beigefügt.

Ebenfalls am ging um 14.56 Uhr per Fax eine weitere, von der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers (Rechtsanwältin A. , Sozietät S. und Partner) "namens und im Auftrage" des Klägers gefertigte Berufungsschrift ein. Auch deren Original ging am ein.

Keine der beiden Berufungsschriften enthält einen Hinweis darauf, dass der Kläger im Berufungsverfahren auch von der jeweils anderen Sozietät vertreten werde.

Mit Fax vom beantragte Rechtsanwalt P. , die Frist zur Begründung der Berufung bis zum zu verlängern, weil er als alleiniger Sachbearbeiter die Begründung u.a. wegen Urlaubs nicht früher fertigen könne.

Am ging ein Schriftsatz der Rechtsanwältin A. vom mit der Erklärung ein, namens und im Auftrage des Berufungsklägers werde "die gegen das am verkündete Urteil des Landgerichts Bremen eingelegte Berufung zurückgenommen". Dieser Schriftsatz wurde (auch) Rechtsanwalt P. zugestellt, und zwar am .

Mit Verfügung vom gab der Vorsitzende des Berufungssenats dem Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung statt.

Mit am eingegangenem Schriftsatz vom begründete Rechtsanwalt P. die Berufung.

Mit Verfügung vom , die Rechtsanwalt P. am zuging, wies der Vorsitzende des Berufungssenats darauf hin, infolge der von Rechtsanwältin A. erklärten Rücknahme der Berufung sei der Kläger dieses Rechtsmittels verlustig, was der Senat durch Beschluss nach § 516 Abs. 3 Satz 2 ZPO auszusprechen gedenke.

Mit am eingegangenem Schriftsatz vom erklärte Rechtsanwalt P. namens des Klägers den Widerruf der Rücknahmeerklärung vom , legte unter Bezugnahme auf die bereits vorliegende Berufungsbegründung erneut Berufung ein und machte unter anderem geltend, die Frist zur Einlegung der Berufung habe noch nicht zu laufen begonnen, weil das dem Kläger zugestellte erstinstanzliche Urteil mit einem undatierten Ausfertigungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle versehen gewesen sei; vorsorglich beantragte er zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die andernfalls versäumte Frist zur (erneuten) Einlegung der Berufung.

Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in MDR 2006, 1186 f. und OLGR Bremen 2006, 418 ff. veröffentlicht ist, erklärte den Kläger des mit Schriftsätzen vom eingelegten Rechtsmittels für verlustig, wies das Wiedereinsetzungsgesuch (in den Gründen) zurück und verwarf die mit Schriftsatz vom eingelegte Berufung als unzulässig.

Gegen diesen undatierten Beschluss des Berufungsgerichts, dem insoweit lediglich zu entnehmen ist, dass er aufgrund der Beratung vom gefasst wurde, richtet sich die (vom Berufungsgericht hinsichtlich der Verlustigkeitserklärung zugelassene) Rechtsbeschwerde des Klägers, mit der er den Fortgang des Berufungsverfahrens erstrebt.

Das vom Kläger mit Schriftsatz vom ausweislich des Eingangsstempels ("Anlagen: 1") eingereichte Original der dem Kläger zugestellten Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils befindet sich - ebenso wie die der Berufungsschrift der Rechtsanwältin A. beigefügte Ablichtung - nicht mehr bei den Akten.

II.

Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen die Verwerfung der (mit Schriftsatz vom eingelegten) Berufung richtet, ist sie gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Gleiches gilt gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, soweit sie sich gegen die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs richtet. Sie ist ferner gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft, soweit sie sich gegen den Verlustigkeitsbeschluss richtet, da das Berufungsgericht sie insoweit zugelassen hat (vgl. Zöller/Gummer/Heßler ZPO 26. Aufl. § 516 Rdn. 29; Musielak/Ball ZPO 5. Aufl. § 516 Rdn. 25).

Sie ist jedoch insgesamt unzulässig, weil es - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - an einem Zulassungsgrund nach § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Ein solcher ist auch erforderlich, soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss richtet (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 155, 21, 22).

1. Soweit die Rechtsbeschwerde sich gegen die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs richtet, steht die angefochtene Entscheidung im Einklang mit der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, derzufolge Wiedereinsetzung für eine nach Ablauf der Berufungsfrist erneut eingelegte Berufung nicht mit Rücksicht darauf gewährt werden kann, dass die zunächst eingelegte Berufung - auch irrtümlich oder weisungswidrig - zurückgenommen worden sei (vgl. BGH, Beschlüsse vom ­ V ZB 6/98 ­ NJW-RR 1998, 1446 und vom ­ III ZB 1/91 ­ NJW 1991, 2839; BVerwG NVwZ 1997, 1210, 1211; vgl. auch Zöller/Gummer/Heßler aaO § 516 Rdn. 17).

2. Auch im Übrigen hat die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Denn sämtliche von der Rechtsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind bereits höchstrichterlich im Sinne der angefochtenen Entscheidung geklärt; ein vermeintlicher Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, den das Berufungsgericht zum Anlass genommen hat, die Rechtsbeschwerde gegen die nach § 516 Abs. 3 ZPO getroffene Entscheidung zuzulassen, besteht nicht. Insbesondere hat das Berufungsgericht dem Kläger auch nicht den Zugang zur Berufungsinstanz aufgrund überspannter Anforderungen versagt (vgl. BGHZ 151, 221, 226 f.).

a) Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, dass auch durch mehrfache Einlegung eines Rechtsmittels nur ein einziges Rechtsmittelverfahren anhängig werden kann (vgl. BGHZ 45, 380, 382 f.).

Soweit das Berufungsgericht die mit Schriftsatz vom erneut eingelegte Berufung des Klägers als unzulässig verworfen hat, käme es folglich auf die Frage, ob die Rücknahmeerklärung vom die am zweifach per Fax eingelegte Berufung insgesamt mit der Rechtsfolge aus § 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO erfasste, dann nicht an, wenn auch die spätere Berufungsschrift vom noch innerhalb der Berufungsfrist eingegangen wäre. Denn dann hätte die mit ihr eingelegte Berufung in keinem Fall verworfen werden dürfen. War die erste Berufungseinlegung nämlich mangels wirksamer Rücknahme der Berufung noch wirksam, so war die spätere Berufungseinlegung mit Schriftsatz vom wegen des Schwebens der ersten Berufung wirkungslos (vgl. BGHZ 24, 179, 180) und konnte nicht Gegenstand einer auf sie bezogenen Verwerfungsentscheidung sein. Aber auch dann, wenn der Berufungskläger des am eingelegten Rechtsmittels durch dessen wirksame Rücknahme verlustig gegangen wäre, hätte er - sofern die Rücknahme nicht zugleich mit einem Rechtsmittelverzicht verbunden war - nicht das Recht auf Berufung als solches verloren. Vielmehr kann er innerhalb offener Einlegungsfrist erneut Berufung einlegen (vgl. BGHZ 124, 305, 309 m.N.).

Bei Eingang der erneuten Berufungsschrift am war die Berufungsfrist jedoch abgelaufen, weil das erstinstanzliche Urteil dem Kläger am - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - wirksam zugestellt worden war. Auch soweit die dem Kläger zugestellte Ausfertigung der Beurteilung durch das Rechtsbeschwerdegericht entzogen ist, weil sie offenbar sowohl im Original als auch in der Ablichtung entweder nicht zur Akte genommen oder daraus wieder entfernt wurde, hat die Rechtsbeschwerde keine Umstände aufzuzeigen vermocht, die geeignet wären, die Wirksamkeit der Zustellung in Zweifel zu ziehen. Denn soweit dem Ausfertigungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle das Datum der Ausfertigung nicht zu entnehmen ist, stellt dies gerade keinen Fall dar, der jenem vergleichbar wäre, über den der ­ VII ZB 8/92 ­, NJW-RR 1993, 956) zu befinden hatte.

In jenem Fall hatte der Bundesgerichtshof die Wirksamkeit der Zustellung verneint, weil sich aus der Angabe des Datums des Ausfertigungsvermerks und dem aus der Ausfertigung zugleich ersichtlichen späteren Datum der Urteilsverkündung ergab, dass der Ausfertigungsvermerk unter Verstoß gegen § 317 Abs. 2 Satz 1 ZPO vorzeitig gefertigt worden war und deshalb seine Funktion, die Übereinstimmung der Ausfertigung mit der Urschrift des Urteils zu beurkunden, nicht erfüllen konnte. Denn im Zeitpunkt der Ausfertigung existierte noch kein Urteil, sondern lediglich dessen Entwurf.

Ein solcher aus der Urkunde selbst ersichtlicher und die beurkundete Übereinstimmung zugleich widerlegender Widerspruch besteht hier gerade nicht. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist es auch nicht zu beanstanden, wenn der Ausfertigungsvermerk nicht mit einem Datum versehen ist. Die Angabe des Tages der Ausfertigung mag bei den Instanzgerichten zwar üblich sein (vgl. Zöller/Stöber aaO § 169 Rdn. 15); bei den Geschäftsstellen des Bundesgerichtshofes ist sie es jedenfalls nicht. Sie ist auch nicht erforderlich. Das Gesetz stellt für den Ausfertigungsvermerk keine über die Mindestanforderungen des § 317 Abs. 4 ZPO (Unterschrift, Gerichtssiegel) hinausgehenden Erfordernisse auf (vgl. ­ III ZR 178/67 ­ VersR 1969, 709, 710). Auch für notarielle Ausfertigungen sieht § 49 Abs. 2 Satz 1 BeurkG die Angabe des Tages ihrer Erteilung lediglich als Sollvorschrift vor. Der Ausfertigungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle braucht deshalb keine Datumsangabe zu enthalten ( ­ III ZB 11/84 ­ VersR 1985, 503).

Auch der Hinweis der Rechtsbeschwerde, das der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten vom Landgericht für die Zustellung des Urteils vom zugesandte vorbereitete Empfangsbekenntnis sei auf den datiert, ändert daran nichts. Soweit die Rechtsbeschwerde meint, dies gebe Anlass zu erheblichen Zweifeln an der zeitlichen Abfolge von Verkündung und Ausfertigung des Urteils, kann dem schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es nicht unüblich ist und auch rationeller Arbeitsweise entspricht, dass die Kanzlei des Gerichts bei der Reinschrift des Urteilsentwurfs zugleich die erforderlichen Empfangsbekenntnisse vorbereitet. Daraus einen Schluss auf eine verfrühte Anbringung des Ausfertigungsvermerks zu ziehen, liegt schon deshalb fern, weil dieser nicht von der Kanzlei, sondern vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterzeichnet und mit dem Siegel des Gerichts versehen wird. Darauf kommt es letztlich aber nicht an, weil die mit dem Ausfertigungsvermerk versehene Urteilsausfertigung als öffentliche Urkunde im Sinne des § 415 Abs. 1 ZPO vollen Beweis für den darin beurkundeten Vorgang erbringt, hier also die Übereinstimmung mit der Urschrift des Urteils und somit auch deren Existenz im Zeitpunkt der Ausfertigung belegt. Einen nach § 415 Abs. 2 ZPO möglichen Gegenbeweis hat der Kläger nicht angetreten.

Das Berufungsgericht hat die mit Schriftsatz vom und somit nach Ablauf der Einlegungsfrist des § 517 ZPO eingelegte Berufung des Klägers folglich zu Recht als unzulässig verworfen, wenn das rechtzeitig mit Berufungsschriften vom eingeleitete Berufungsverfahren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtshängig war. Das ist hier wegen der am eingegangenen Rücknahmeerklärung der Fall:

b) Da nur ein Berufungsverfahren anhängig war, konnte jeder der nach § 84 ZPO einzeln vertretungsberechtigten Prozessbevollmächtigten es durch Rücknahme beenden, auch soweit es durch Erklärungen des anderen Prozessbevollmächtigten begründet worden war (vgl. BFH BFH/NV 1988, 453).

aa) Haben zwei Prozessbevollmächtigte unabhängig voneinander Berufung wegen desselben Anspruchs eingelegt und nimmt einer von ihnen - wie hier - "die Berufung" ohne weitere Beschränkung zurück, so bewirkt dies regelmäßig den Verlust des Rechtsmittels (vgl. BSG NJW 1998, 2078; Stein/Jonas/Grunsky ZPO 21. Aufl. § 515 Rdn. 19; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher 2. Aufl. § 515 Rdn. 7; Zöller/Gummer/Heßler aaO § 516 Rdn. 4; Musielak/Ball aaO § 516 Rdn. 12; Thomas/Putzo/Reichold ZPO 27. Aufl. § 516 Rdn. 5).

Zwar braucht eine Beschränkung der Rücknahme - etwa dahingehend, dass sie hier nur die von Rechtsanwältin A. selbst vorgenommene Prozesshandlung betreffen solle und sie sich somit für ihre Person aus dem Berufungsverfahren zurückziehe - nicht notwendigerweise aus der Rücknahmeerklärung selbst hervorzugehen; sie kann sich auch aus den sie begleitenden Umständen ergeben (vgl. OLG München MDR 1979, 403). Denn auch Rücknahmeerklärungen sind als verfahrensrechtliche Erklärungen frei zu würdigen; dabei ist erforderlichenfalls unter Heranziehung aller für das Berufungsgericht erkennbaren Umstände und unter Beachtung der durch die gewählte Formulierung bestehenden Auslegungsgrenzen darauf abzustellen, welcher Sinn ihnen aus objektiver Sicht beizumessen ist (vgl. ­ IV ZB 38/05 ­ NJW-RR 2006, 862, 863 m.N.).

Hier begegnet die Auslegung der Rücknahmeerklärung durch das Berufungsgericht jedoch keinen Bedenken. Deren Wortlaut bezieht sich eindeutig auf das anhängige Rechtsmittel und nicht etwa nur auf die von Rechtsanwältin A. selbst abgegebene Prozesserklärung. Ein anderer objektiver Erklärungsinhalt ergibt sich auch aus den Umständen der Erklärung nicht mit der Eindeutigkeit, die erforderlich ist, weil das Prozessrecht klare Verhältnisse verlangt (vgl. Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 567/80 ­ NJW 1980, 2309, 2310).

Zwar mag der etwa zeitgleiche Eingang zweier Berufungsschriften und insbesondere der Antrag von Rechtsanwalt P. auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist, der ebenso wie die Rücknahmeerklärung der Rechtsanwältin A. vom datierte, aber vor der Rücknahme bei Gericht einging, die Vermutung nahelegen, dass die beiden Prozessbevollmächtigten von den jeweiligen Prozesserklärungen des anderen nichts gewusst oder diese zumindest nicht miteinander abgestimmt haben könnten. Eine derartige Vermutung reicht aber nicht aus, der Rücknahmeerklärung entgegen ihrem Wortlaut einen anderen Sinn beizulegen. Denn die Möglichkeit, dass Rechtsanwältin A. von einer Aufspaltung des Rechtsmittels ausgegangen sein und sich lediglich über die Tragweite ihrer Rücknahmeerklärung geirrt haben könnte, ist hierdurch nicht ausgeräumt. Ein solcher Irrtum wäre aber unbeachtlich, weil Prozesserklärungen nach ihrem objektiven Inhalt auszulegen sind (vgl. BFH BFH/NV 1988, 453) und ein bloßer Motivirrtum auf die Wirksamkeit einer Prozesshandlung im Interesse der Rechtssicherheit keinen Einfluss haben kann (vgl. OLG München MDR 1979, 409, 410).

bb) Ohne Erfolg beruft sich die Rechtsbeschwerde zur Begründung ihrer Auffassung, Rechtsanwältin A. sei im Zeitpunkt der von ihr erklärten Berufungsrücknahme bereits nicht mehr bevollmächtigt gewesen, Prozesserklärungen für den Kläger abzugeben, auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (NJW 1990, 600). Der zitierten Entscheidung entnimmt die Rechtsbeschwerde, dass eine Rechtsmittelschrift, in deren Rubrum ein Anwalt ausschließlich sich selbst als Prozessbevollmächtigten des Rechtsmittelführers bezeichne, stets zugleich den Widerruf der Prozessvollmacht eines früher tätig gewordenen anderen Prozessbevollmächtigten enthalte. Dabei übersieht die Rechtsbeschwerde allerdings, dass diese - zu § 73 SGG ergangene - Entscheidung eine andere Fallkonstellation betraf.

Im Ausgangspunkt hat sich das (NJW 2001, 1598 f.) inhaltlich und mit im entscheidenden Punkt wortgleichem Leitsatz der Rechtsprechung des erkennenden Senats angeschlossen, derzufolge in der Bestellung eines neuen Prozessbevollmächtigten - wegen der Möglichkeit, mehrere Bevollmächtigte zur Vertretung der Partei zu ermächtigen, § 84 Satz 1 ZPO - ein Widerruf der Bestellung eines früheren Bevollmächtigten nur dann gesehen werden kann, wenn zum Ausdruck kommt, dass der neue Bevollmächtigte anstelle des früheren bestellt werden soll (Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 567/80 ­ NJW 1980, 2309, 2310; vgl. nunmehr auch ­ II ZB 21/03 ­ FamRZ 2004, 865; vgl. auch OLG Koblenz NJW-RR 1997, 1023 f.; OLG Frankfurt RPfleger 1986, 391 f.; Nieders. FG DStRE 2004, 1381 f.).

Mit seiner Entscheidung in NJW 1990, 600 hat es diese Voraussetzung in einem Fall als erfüllt angesehen, in dem zunächst der erstinstanzliche Prozessbevollmächtigte Berufung eingelegt hatte und erst zwei Tage später die Berufungsschrift eines weiteren Rechtsanwalts einging, der darin ausschließlich sich selbst als Prozessbevollmächtigten bezeichnet hatte.

Ob dem zu folgen ist, kann indes dahinstehen. Denn der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich davon in einem wesentlichen Punkt. Als am Vormittag des die (erste) Berufungsschrift einging, in der Rechtsanwalt P. ausschließlich die Sozietät, der er selbst angehörte, als Prozessbevollmächtigte angab, lag noch keine weitere Berufungsschrift eines anderen Anwalts vor. Schon deshalb stellte sich die Frage, ob Rechtsanwalt P. sich neben einem weiteren Prozessbevollmächtigten oder aber an dessen Stelle für das Berufungsverfahren bestelle, zu diesem Zeitpunkt nicht, so dass dem Umstand, dass er ausschließlich sich als Prozessbevollmächtigten des Klägers für das Berufungsverfahren bezeichnete, kein darüber hinausgehender Erklärungswert zukam, auch nicht dergestalt, einem weiteren Bevollmächtigten werde vorsorglich schon jetzt die Prozessvollmacht für den Fall entzogen, dass er sich nachträglich ebenfalls für das Berufungsverfahren bestelle. Denn dem Berufungsgericht lagen zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht die erstinstanzlichen Akten vor, aus denen es hätte ersehen können, dass der Kläger in erster Instanz von anderen Prozessbevollmächtigten vertreten worden war. Für die Annahme, mit diesem Schriftsatz werde zugleich die Bestellung eines anderen Bevollmächtigten widerrufen, bestand daher um so weniger Anlass, als aus der Sicht des Berufungsgerichts auch die Annahme möglich erschien, Rechtsanwalt P. habe den Kläger bereits in erster Instanz vertreten.

Folgt man der Auffassung BSG NJW 1990, 600, wäre diese vielmehr auf die zweite, von Rechtsanwältin A. eingereichte Berufungsschrift anzuwenden mit der Folge, dass damit zugleich Rechtsanwalt P. die Vollmacht entzogen worden wäre.

cc) Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Vorsitzende des Senats dem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist mit Verfügung vom - mithin nach der Klagerücknahme - stattgegeben hat. Abgesehen davon, dass die Auslegung der Rücknahmeerklärung durch den Berufungssenat nicht durch die Auslegung durch dessen Vorsitzenden präjudiziert werden kann, besagt die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht einmal, dass dieser ungeachtet der Rücknahmeerklärung von einem noch anhängigen Berufungsverfahren ausgegangen wäre. Die Belastung der Gerichte bringt es mit sich, dass Begründungsfristen häufig routinemäßig auf Antrag verlängert werden, ohne dass die Zulässigkeit des Rechtsmittels zuvor abschließend geprüft werden konnte. Aber auch dann, wenn das Gericht das Rechtsmittel als unzulässig oder bereits zurückgenommen ansieht, kann die Begründungsfrist verlängert werden, um dem Rechtsmittelführer Gelegenheit zu geben, die Zulässigkeit seines Rechtsmittels darzulegen.

Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kann der Verlängerung der Begründungsfrist durch den Vorsitzenden daher nicht entnommen werden, der Berufungssenat habe die Rücknahmeerklärung als offensichtliches Versehen erkannt.

dd) Dem Kläger ist es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch verwehrt, die Berufungsrücknahme wegen eines angeblichen Versehens zu widerrufen. Abgesehen davon, dass die Rechtsbeschwerde nicht darlegt, welche Vorstellungen Rechtsanwältin A. bei ihrer Rücknahmeerklärung hatte, kann die Rücknahme einer Klage oder eines Rechtsmittels nicht wegen Irrtums angefochten oder widerrufen werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom ­ XII ZB 71/04 ­ FamRZ 2006, 375 und vom ­ IVb ZB 125/87 ­ FamRZ 1988, 496). Nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann, wenn die Rücknahme im Widerspruch zum wirklichen Willen des Rechtsmittelführers steht und ein Irrtum seines Prozessbevollmächtigten bei Abgabe der Rücknahmeerklärung für das Gericht und den Gegner ganz offensichtlich ist, kann es diesem nach Treu und Glauben verwehrt sein, sich auf die Rücknahme zu berufen, so dass diese als unwirksam zu behandeln ist (vgl. Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 125/87 ­ FamRZ 1988, 496; ­ II ZB 5/77 ­ VersR 1977, 574). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, zumindest aber ein Irrtum nicht dargelegt.

ee) Auch auf einen Wiederaufnahmegrund kann der Kläger den von ihm erklärten Widerruf der Rücknahmeerklärung nicht stützen. Zwar lässt die Rechtsprechung einen derartigen Widerruf ausnahmsweise unter den Voraussetzungen der §§ 580, 581 ZPO (Restitutionsklage) zu, wenn die Rücknahme durch eine strafbare Handlung erschlichen wurde (vgl. BGHZ 12, 284, 285; 33, 73, 75 f.). Einen solchen Restitutionsgrund trägt der Kläger jedoch nicht vor. Er macht vielmehr geltend, die Voraussetzungen einer Nichtigkeitsklage gemäß § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO hätten hier vorgelegen, weil er im Berufungsverfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten gewesen sei, denn Rechtsanwältin A. habe die Rücknahme der Berufung erklärt, ohne hierzu von ihm bevollmächtigt gewesen zu sein. Es fehle an einer Prozessvollmacht im Sinne des § 80 ZPO, die sie durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht hätte nachweisen müssen.

Auch damit dringt die Rechtsbeschwerde nicht durch. Insoweit bedarf es keiner Entscheidung, ob die Rücknahme eines Rechtsmittels auch dann widerrufen werden kann, wenn die Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 578 Abs. 1 ZPO) nicht im Wege der Restitutionsklage nach § 580 f. ZPO, sondern im Wege der Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO statthaft wäre. Denn auch deren Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger war im Berufungsverfahren ordnungsgemäß vertreten. Insbesondere war Rechtsanwältin A. nach § 81 ZPO im Verhältnis zu Gericht und Gegner zu allen den vorliegenden Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen befugt. Dazu gehörte auch die Rücknahme der Berufung (vgl. Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 125/87 ­ FamRZ 1988, 496). Soweit der Kläger sich darauf beruft, sie habe insoweit weisungswidrig gehandelt, wäre eine derartige Beschränkung ihrer Vollmacht im vorliegenden Anwaltsprozess nach § 83 Abs. 1 ZPO dem Gegner und dem Gericht gegenüber ohne rechtliche Wirkung (vgl. Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 125/87 ­ FamRZ 1988, 496; ­ III ZB 1/91 - NJW 1991, 2839).

ff) Die Rechtsanwältin A. unstreitig erteilte Prozessvollmacht war im Zeitpunkt ihrer Rücknahmeerklärung auch nicht wirksam widerrufen. Für den Widerruf der Bestellung gegenüber dem Gericht gilt § 87 ZPO sinngemäß. Danach muss gegenüber dem Gericht eindeutig angezeigt werden, dass die Prozessvollmacht erloschen ist. Da die im Anwaltsprozess weiterhin erforderliche Bestellung eines anderen Anwalts für sich allein noch nicht ohne weiteres den Widerruf der Bestellung des früheren Prozessbevollmächtigten enthält (vgl. Senatsbeschluss vom ­ IVb ZB 567/80 ­ NJW 1980, 2309, 2310), war die Rechtsanwältin A. erteilte Vollmacht im Zeitpunkt des Eingangs ihrer Rücknahmeerklärung bei Gericht diesem gegenüber - wie oben unter II 2 b bb dargelegt - noch nicht erloschen.

gg) Auch dann, wenn man entgegen dem Wortlaut des § 88 Abs. 1 ZPO nicht nur eine vom Gegner, sondern auch von der vertretenen Partei selbst erhobene Rüge des Mangels der Vollmacht zulässt (vgl. dazu Thomas/Putzo/Hüßtege aaO § 88 Rdn. 5), bedurfte es - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - nicht der Vorlage einer auf Rechtsanwältin A. oder deren Sozietät lautenden schriftlichen Vollmacht.

Zwar hatte Rechtsanwältin A. entgegen § 80 Abs. 1 ZPO zu keinem Zeitpunkt eine entsprechende Vollmacht zu den Akten gereicht. Mit seinem Vortrag, ihre Vollmacht sei (erst) durch die von Rechtsanwalt P. eingereichte Berufungsschrift erloschen, räumt der Kläger aber eine ihr ursprünglich erteilte Vollmacht ein. Nach § 89 Abs. 2 ZPO muss die Partei die Prozessführung gegen sich gelten lassen, wenn sie auch nur mündlich Vollmacht erteilt hat. Denn § 80 Abs. 1 ZPO betrifft nicht die Erteilung der Vollmacht, sondern lediglich deren Nachweis. Hier war eine mündlich - stillschweigend - erteilte Vollmacht des Klägers spätestens aktenkundig geworden, als der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren in der mündlichen Verhandlung vom und erneut in der mündlichen Verhandlung vom zusammen mit Rechtsanwältin A. erschien und zur Sache verhandelte.

Auch der angefochtene Verlustigkeitsbeschluss des Berufungsgerichts mit der darin ausgesprochenen Kostenfolge nach § 516 Abs. 3 ZPO erweist sich daher als zutreffend.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 3640 Nr. 50
MAAAC-49622

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja