Kein Ausschluss des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO durch vorläufige Steuerfestsetzung
Leitsatz
Das FA kann eine nach § 165 Abs. 1 AO vorläufige Steuerfestsetzung nach Ablauf der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern, wenn das die Ungewissheit beseitigende Ereignis (§ 165 Abs. 2 AO) zugleich steuerrechtlich zurückwirkt.
Gesetze: AO § 165AO § 171 Abs. 8AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
Instanzenzug: (EFG 2006, 1394) (Verfahrensverlauf)
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Änderungsbefugnis des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt —FA—).
Die Klägerin und Revisionsbeklagte zu 1 (Klägerin zu 1) wurde mit ihrem im Jahr 2000 verstorbenen und von ihr und den gemeinsamen Söhnen (den Klägern zu 2 und 3) beerbten Ehemann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Ehegatten machten im Zusammenhang mit einem erworbenen Erbbaurecht in den Kalenderjahren 1994 bis 1999 Vorkosten (Schuldzinsen, Erbbauzinsen, Grundsteuer) nach § 10e Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung der Streitjahre (EStG) geltend, die das FA anerkannte. Alle Bescheide ergingen teilweise vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) „hinsichtlich der Schuldzinsen und anderer Aufwendungen i.S. des § 10e Abs. 6 EStG, weil die Wohnung noch nicht zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird”. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom wurde das Erbbaurecht aufgehoben und das Grundstück zurückgegeben. Mit Änderungsbescheiden vom versagte das FA den Vorkostenabzug; es stützte die Änderungsbescheide auf § 165 Abs. 2 AO und erklärte sie nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO (in diesem Punkt) für endgültig.
Mit dem Einspruch machten die Kläger geltend, dass sie auch beabsichtigt hätten, das Grundstück zum Teil zu vermieten. Der Einspruch blieb erfolglos. Die Vermietungsabsicht sei —so das FA— nicht belegt worden.
Mit der Klage wandten sich die Kläger gegen die Änderungsbefugnis des FA. Es sei beabsichtigt gewesen, Teile des auf dem Erbbaurecht zu errichtenden Gebäudes als Büro zu vermieten.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 1394, veröffentlichten Urteil zum Teil statt: Das FA sei im Hinblick auf die Jahre 1994 bis 1997 wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist gehindert gewesen, die Einkommensteuerbescheide zu ändern. Zwar ende die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 8 AO nicht vor dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Ungewissheit beseitigt sei und das FA hiervon Kenntnis erhalte. Indes habe im Streitfall das FA spätestens mit dem Einspruchsschreiben vom erfahren, dass das Bauvorhaben durch Aufhebung des Erbbaurechts unmöglich geworden sei. Daher sei Festsetzungsverjährung Ende April 2003 eingetreten; die Änderungsbescheide vom Dezember 2003 seien mithin rechtswidrig. Auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO —mit der Folge der Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO— könnten die Änderungen nicht gestützt werden. Dies folge aus dem Einleitungssatz des § 172 Abs. 1 Satz 1 AO, der klarstelle, dass §§ 172 ff. AO nicht gälten, soweit ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig ergangen sei. Deshalb sei auch die Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO nicht anwendbar.
Hiergegen —also nur betreffend die Jahre 1994 bis 1997 (Streitjahre)— richtet sich die Revision des FA, die es auf Verletzung materiellen Rechts stützt: Die Anlaufhemmung komme bei dem hier rückwirkenden Ereignis zum Zuge.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Das FG hat unzutreffend die Änderungsbefugnis des FA nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO verneint. Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
a) Ein solches Ereignis ist —wie hier— die fehlende Eigennutzung eines Objekts, für das Vorkostenabzug nach § 10e EStG gewährt wurde. Der Vorkostenabzug steht unter dem materiell-rechtlichen Vorbehalt der späteren Eigennutzung des Objekts. Kommt es dazu —wie hier— aber nicht, hat dies Rückwirkung auf die Veranlagungszeiträume, in denen die Vorkosten wie Sonderausgaben berücksichtigt wurden, mit der Folge, dass die Steuerbescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert werden können (, BFH/NV 2004, 154, m.w.N.).
b) Die Anwendbarkeit von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das FA die Einkommensteuer für die Streitjahre vorläufig festgesetzt hat.
aa) Zwar ist das rückwirkende Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (die Aufgabe des Erbbaurechts und das damit einhergehende Nichtzustandekommen der Eigennutzung) zugleich ein Ereignis, das die tatsächliche Ungewissheit beseitigt hat und das zur Änderung der Einkommensteuerbescheide nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO verpflichtete (so explizit für den hier vorliegenden Fall des § 10e Abs. 6 EStG: BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154). Die Bescheide der Streitjahre konnten trotz der Vorläufigkeit in diesem Punkt aber nicht nach § 165 Abs. 2 AO geändert werden, weil die einjährige Ablaufhemmung des § 171 Abs. 8 AO bereits verstrichen war. Das FA hatte nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG im April 2002 von der die Ungewissheit beseitigenden Tatsachen Kenntnis erhalten, so dass die Festsetzungsfrist Ende April 2003 endete. Indes begann die Festsetzungsfrist in Bezug auf das rückwirkende Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO erst mit dem Ablauf des Jahres 2002. Deshalb konnte das FA jedenfalls nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern.
bb) Das FG stützt sich für seine gegenteilige Auffassung zu Unrecht auf die BFH-Rechtsprechung, wonach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht eingreifen solle, wenn die Steuerfestsetzung vorläufig erlassen worden sei (BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154; zu Bescheiden unter dem Vorbehalt der Nachprüfung: , BFH/NV 1995, 274, und , BFH/NV 1999, 589).
Ein solcher Vorrang der Korrekturmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO kommt hier aber nicht in Betracht: Einerseits war die zunächst vorläufige Steuerfestsetzung bereits bestandskräftig, als das FA nach dem Ablauf der in § 171 Abs. 8 AO geregelten Festsetzungsfrist die angefochtenen Änderungsbescheide erlassen hatte (vgl. Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 165 Rz 51). Andererseits wird das Konkurrenzverhältnis durch den Einleitungssatz des § 172 Abs. 1 AO nicht in dem Sinne gelöst, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auszuschließen, wenn das rückwirkende Ereignis zugleich ein Umstand ist, der die Ungewissheit beseitigt. Der Einleitungssatz des § 172 Abs. 1 AO stellt nicht klar, dass die §§ 172 ff. AO nicht gelten, soweit ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig (§§ 164, 165 AO) ergangen ist (so aber BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 589); auch ein Umkehrschluss mit diesem Ergebnis ergibt sich aus dem Gesetz nicht (so aber BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154). Wenn es in § 172 Abs. 1 AO heißt, „ein Steuerbescheid darf, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder geändert werden”, soweit dies sonst gesetzlich zugelassen ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d AO), so enthält dieser Satz keine Aussage zu vorläufigen Steuerfestsetzungen, sondern regelt die Korrekturbefugnis nur bei Steuerbescheiden, soweit sie nicht vorläufig ergangen sind. Derartige Verwaltungsakte können dann nur aufgrund der §§ 172 ff. AO geändert werden.
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist auch nicht dahingehend einschränkend auszulegen, diese Korrekturmöglichkeit nur dann zu eröffnen, wenn für eine Durchbrechung der Bestandskraft ein Anlass bestehe, der aber fehle, wenn das FA in der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach § 165 Abs. 2 AO hätte vorgehen können. Eine vergleichbare Korrekturbeschränkung zu § 174 Abs. 3 AO vertritt der BFH in seinem Urteil vom XI R 62/05 (BFH/NV 2007, 536): Der diese Änderungsmöglichkeit legitimierende Vertrauensschutzgedanke rechtfertige eine Durchbrechung der Bestandskraft nur dann, wenn der Steuerpflichtige ohne Änderungsmöglichkeit seine Rechte nicht weiter hätte verfolgen können. Darum geht es aber im Verhältnis des § 165 Abs. 2 AO zu § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist vielmehr lediglich die verfahrensrechtliche Folge eines Ereignisses, das steuerschuldrechtlich und damit nach materiellem Recht zurückwirkt (vgl. grundlegend , BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897), und zwar unabhängig davon, ob und inwieweit es bereits bei der Steuerfestsetzung erwartet werden konnte. Der tatsächliche Eintritt des Ereignisses hat materiell-rechtlich wie auch verfahrensrechtlich eine andere Qualität als die bloße Ungewissheit über sein Eintreten beim Erlass des Steuerbescheides.
cc) Es besteht auch kein sachlicher Grund, warum das FA nicht wegen eines rückwirkenden Ereignisses ändern können soll, nur weil es —zusätzlich— den Bescheid vorläufig erlassen hat. Nutzt es die Berichtigungsmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO nicht, setzt es keinen Vertrauenstatbestand, der es hindern würde, auch wegen des zugleich bestehenden rückwirkenden Ereignisses zu ändern.
dd) Der Senat weicht nicht in nach § 11 Abs. 2 FGO erheblicher Weise von den oben zitierten Entscheidungen anderer Senate des BFH ab. In den Entscheidungen des V. (Urteil in BFH/NV 1995, 274) und des IV. Senats (Beschluss in BFH/NV 1999, 589) bezogen sich die Korrekturen anders als im Streitfall auf Bescheide über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung, die wie erstmalige Steuerfestsetzungen wirken (§ 164 Abs. 3 Satz 2 AO). Das Urteil des X. Senats äußert sich zum Ausschluss des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO in einem obiter dictum (BFH-Urteil in BFH/NV 2004, 154). Für die Auffassung des erkennenden Senats spricht das Urteil des VIII. Senats vom VIII R 67/02 (BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107), das unter 1. a ganz offenbar davon ausgeht, dass auch ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bei vorläufigen Bescheiden zu berücksichtigen ist.
c) Nach diesen Maßstäben ist das angefochtene Urteil aufzuheben; denn das FA durfte die Änderungsbescheide erlassen. Es war hierzu nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sogar verpflichtet. Dass es diese Bescheide zunächst auf § 165 Abs. 2 AO gestützt hatte, ist als Begründungselement nach § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO unerheblich. Das FA hat die richtige Begründung im Klageverfahren und damit nach § 126 Abs. 2 AO zutreffend nachgeholt.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG ist auf den Vortrag der Kläger nicht eingegangen, ein Teil der Aufwendungen sei als vorab entstandene Werbungskosten bei ihren Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abziehbar. Insoweit können die Voraussetzungen einer Berichtigung materieller Fehler nach § 177 Abs. 1 AO (Kompensation) gegeben sein. Der Senat kann die dazu nötigen Feststellungen nicht selbst vornehmen. Zwar enthält der nicht angefochtene Teil der Vorentscheidung Feststellungen und Rechtsausführungen zu bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung als Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen, allerdings nicht für die Streitjahre, sondern für die Jahre 1998 und 1999. Der Senat kann nicht entscheiden, inwieweit die Erkenntnisse auf die Streitjahre übertragbar sind. Das wird das FG in einer neuen Verhandlung und Entscheidung nachzuholen haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2007 II Seite 807
BFH/NV 2007 S. 1557 Nr. 8
BStBl II 2007 S. 807 Nr. 17
DB 2007 S. 1623 Nr. 30
DStR 2007 S. 1205 Nr. 28
DStRE 2007 S. 992 Nr. 15
DStZ 2007 S. 480 Nr. 15
HFR 2007 S. 823 Nr. 9
KÖSDI 2007 S. 15782 Nr. 11
NWB-Eilnachricht Nr. 28/2007 S. 2355
StB 2007 S. 286 Nr. 8
StBW 2007 S. 5 Nr. 15
StuB-Bilanzreport Nr. 23/2007 S. 915
AAAAC-49143