BFH Urteil v. - III R 51/06

Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG

Gesetze: EStG § 32 Abs. 4; EStG § 70 Abs. 4

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat eine im Jahr 1982 geborene Tochter, die sich vom bis in Ausbildung zur Industriekauffrau befand.

Mit Bescheid vom lehnte die Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für das Jahr 2004 ab, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter nach den Berechnungen der Familienkasse den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2004 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des EinkommensteuergesetzesEStG— in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Für das Jahr 2003 lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom die Festsetzung von Kindergeld ebenfalls ab, weil die Einkünfte und Bezüge über dem für dieses Jahr maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 7 188 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der für das Jahr 2003 geltenden Fassung) lägen.

Mit Schreiben vom legte die Klägerin gegen den Bescheid vom Einspruch ein. Nach dem (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften der Tochter abzuziehen. Die Familienkasse habe es versäumt, der Klägerin mitzuteilen, dass das genannte Verfahren vor dem BVerfG anhängig gewesen sei, und sie gegen den Bescheid Einspruch einlegen solle.

Ferner bat die Klägerin um Prüfung, ob ihr auch für das Jahr 2004 Kindergeld zustehe. Die Familienkasse lehnte mit Bescheiden vom sowohl eine Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2003 als auch für die Monate Januar bis April 2004 ab. Die Festsetzung von Kindergeld sei für das Jahr 2003 mit Bescheid vom bestandskräftig abgelehnt worden; der Bescheid sei nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern. Für das Jahr 2004 könne mangels einer einschlägigen Korrekturvorschrift erst vom Folgemonat nach Bekanntgabe des bestandskräftigen Bescheids vom , also von Mai 2004 an, Kindergeld festgesetzt werden. Die hiergegen gerichteten Einsprüche blieben ohne Erfolg.

Unter teilweiser Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom verpflichtete das Finanzgericht (FG) die Familienkasse, der Klägerin für den Zeitraum Januar bis April 2004 Kindergeld zu gewähren. Im Übrigen wies das FG die Klage ab. Das FG führte im Wesentlichen aus, einer Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 stehe die Bindungswirkung des Bescheids vom entgegen. Eine Änderung dieses Bescheids scheide mangels einer einschlägigen Korrekturnorm aus. Hinsichtlich der Monate Januar bis April 2004 ermögliche § 70 Abs. 4 EStG eine Änderung des bestandskräftigen Ablehnungsbescheids vom .

Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.

Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis April 2004 aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision der Familienkasse zurückzuweisen.

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision ebenfalls die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.

Sie beantragt, die Vorentscheidung hinsichtlich des Kindergeldes für das Jahr 2003 aufzuheben und die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheides vom und der Einspruchsentscheidung zu verpflichten, ihr Kindergeld für ihre Tochter für das Jahr 2003 zu zahlen.

Die Familienkasse beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

II. 1. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis April 2004 und insoweit zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis April 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen.

a) Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2004 hat.

b) Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende April 2004 (vgl. , BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG —wie im Streitfall— lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

c) Der Bescheid vom ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, weil § 70 Abs. 4 EStG keine Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheides ermöglicht, wenn der Jahresgrenzbetrag —wie im Streitfall— allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (Senatsurteil vom III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).

2. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.

Der Klägerin steht auch für das Jahr 2003 kein Kindergeld zu, da der Ablehnungsbescheid vom ebenfalls bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für dessen Änderung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen.

a) Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 gleichfalls wegen des Überschreitens des maßgeblichen Jahresgrenzbetrags abgelehnt. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden, da die Klägerin unstreitig nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt hat. Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist nach § 110 AO war schon deshalb nicht zu gewähren, weil die Klägerin nicht ohne Verschulden verhindert war, die Einspruchsfrist einzuhalten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Notwendigkeit rechtzeitiger Einspruchseinlegung ergab sich —unabhängig davon, ob der Klägerin die Anhängigkeit des BVerfG-Verfahrens in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 bekannt war oder nicht— unmissverständlich aus der Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. auch , BFH/NV 1997, 547).

Dem Bescheid vom kommt für das Jahr 2003 Bindungswirkung zu, da die Festsetzung von Kindergeld darin nach sachlicher Prüfung des Kindergeldanspruchs für den Zeitraum bis abgelehnt wurde; der Umfang der Bindungswirkung eines Bescheides ergibt sich aus seinem Regelungsgehalt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

b) Der Bescheid vom ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht deshalb nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, weil die Familienkasse in diesem Bescheid von einer Prognose für die Zeit vom 1. Januar bis gesprochen hat. Denn die Voraussetzungen des § 70 Abs. 4 EStG lägen —wie bereits ausgeführt— selbst in diesem Fall nicht vor.

Im Übrigen ist eine Entscheidung der Familienkasse über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr nach Ablauf des fraglichen Jahres —wie im Streitfall— keine Prognoseentscheidung, da die Einkünfte und Bezüge nach Jahresablauf objektiv feststehen und von der Familienkasse ermittelt werden können. Eine Entscheidung der Familienkasse nach Ablauf des fraglichen Kalenderjahres wird auch nicht dadurch zur Prognoseentscheidung, dass die Familienkasse es unterlässt, die Einkünfte und Bezüge des Kindes zu ermitteln (vgl. § 88 AO), und in Unkenntnis der tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes entscheidet.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1484 Nr. 8
YAAAC-48513