Verjährung des Rückforderungsanspruchs der Behörde bei irrtümlicher Erstattungszahlung
Leitsatz
Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 auf die Rückforderung einem Ausführer zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung anzuwenden, auch wenn dieser keine Unregelmäßigkeit begangen hat?
Gesetze: VO (EG Euratom) Nr. 2988/95 VO (EGVO (EG Euratom) Nr. 2988/95 Euratom) Nr. 2988/95 Art. 3VO (EG) Nr. 800/1999 VO (EG) Nr. 800/1999 Art. 52 Abs. 1
Instanzenzug:
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) wird vom Beklagten und Revisionskläger (Hauptzollamt —HZA—) als infolge Zession Haftende für Ausfuhrerstattung in Anspruch genommen, die das HZA der L für die Ausfuhr eines Schlachtrindes in die Türkei gewährt hat, welches auf dem Transport vor Verlassen des geographischen Gebiets der Gemeinschaft verendet ist.
L hatte 1995 31 Rinder zur Ausfuhr in die Türkei angemeldet. Mit Schreiben vom Januar 1996 hatte sie dem HZA angezeigt, dass ein Tier vor Verlassen der Gemeinschaft verendet sei, und um eine entsprechende Änderung ihres Zahlungsantrages gebeten. Ohne dieses Schreiben und die entsprechenden Eintragungen im Kontrollexemplar T5, das beim HZA inzwischen eingegangen war, zu berücksichtigen, setzte das HZA mit Bescheid vom April 1996 die Ausfuhrerstattung für alle 31 Rinder fest.
Als es diesen Fehler bemerkte, forderte es mit Berichtigungsbescheid vom August 1999 die Ausfuhrerstattung für das eine verendete Tier von L zurück. L, über deren Vermögen im Juli 2000 ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, hat den Betrag jedoch nicht zurückgezahlt. Mit Bescheid vom August 2000 versuchte das HZA daher den Rückforderungsbetrag bei der Zessionarin durchzusetzen. Es hob diesen Bescheid jedoch aufgrund Einspruchs alsbald wieder auf, weil es bemerkte, dass dieser Bescheid an eine nicht (mehr) existierende juristische Person gerichtet war, die mit der Klägerin verschmolzen war. Deshalb erließ es im Dezember 2001 einen Haftungsbescheid gegen die Klägerin; die Bekanntgabe dieses Bescheides lässt sich jedoch erst für den Mai 2004 nachweisen.
Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid erfolgreich Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) urteilte, der auf Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 5 der hier noch anzuwendenden Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 (VO Nr. 3665/87) über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen gestützte Rückforderungsanspruch bestehe nicht mehr, weil er aufgrund des Art. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 (VO Nr. 2988/95) über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften —ABlEG— Nr. L 312/1) durch Verjährung erloschen sei.
II.
Der beschließende Senat setzt das Verfahren aus und ersucht den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) um eine Auslegung der Vorschriften, von denen die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt.
1. Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 beträgt die Verjährungsfrist für die Verfolgung von Unregelmäßigkeiten bei einem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit. Die Vorschrift lautet:
„Artikel 3
(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.
Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. Bei den mehrjährigen Programmen läuft die Verjährungsfrist auf jeden Fall bis zum endgültigen Abschluss des Programms.
.
(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 bzw. Absatz 2 vorgesehene Frist anzuwenden.”
Unregelmäßigkeiten sind nach Art. 1 Abs. 2 der genannten Verordnung alle Verstöße gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat oder haben würde.
In Deutschland bestand in dem hier in Betracht zu ziehenden Zeitraum keine Vorschrift, welche die Verjährung eines Anspruches auf Rückforderung zu Unrecht gewährter Ausfuhrerstattung oder —allgemeiner— zu Unrecht gewährter verwaltungsrechtlicher Vergünstigungen speziell regelte. Von der Verwaltung und der Rechtsprechung wurde insofern vielmehr das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) entsprechend angewandt, das bis Ende des Jahres 2001 Folgendes regelte:
„§ 194
(1) Das Recht, von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung.
.
§ 195
Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt dreißig Jahre.”
Inzwischen beträgt die in dieser Vorschrift geregelte „regelmäßige” Verjährungsfrist nur noch drei Jahre.
2. Im Streitfall kann dem Ausführer, in dessen Rechtsposition die Klägerin durch Zession eingetreten ist, nicht vorgeworfen werden, für eine Unregelmäßigkeit verantwortlich zu sein. Der beschließende Senat hält es insbesondere für ausgeschlossen, i.S. des Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 2988/95 eine Unregelmäßigkeit —in der Form eines Verstoßes gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Unterlassung der L— darin zu sehen, dass diese sich bei dem HZA nicht darüber beschwert hat, dass ihr entgegen ihrem Zahlungsantrag und ihrer ausdrücklichen Anzeige, dass eines der zur Ausfuhr angemeldeten Tiere vor dem Verlassen der Gemeinschaft verendet ist, sowie entgegen den diesbezüglichen Eintragungen in dem Kontrollexemplar T5 Ausfuhrerstattung auch für dieses Tier gewährt worden ist. Es besteht keine Rechtsgrundlage dafür, von einem Ausführer zu verlangen, die ihm von der Behörde gewährte Ausfuhrerstattung gleichsam nachzurechnen und, wenn er dabei feststellt, dass ihm zu viel gewährt worden ist, die Zahlung zurückzuweisen oder von sich aus zurückzuerstatten. Das gilt insbesondere dann, wenn der Ausführer eine zutreffende Ausfuhranmeldung abgegeben hat und ihm ferner —wie im Streitfall— keineswegs auf den ersten Blick ins Auge springen muss, dass die von der Behörde gezahlte Ausfuhrerstattung zu Unrecht gewährt wird (was etwa der Fall sein könnte, wenn einem Marktbeteiligten Ausfuhrerstattung gewährt wird, obwohl er überhaupt keinen diesbezüglichen Antrag gestellt hat oder die ihm gewährte Erstattung zu der nach Lage der Dinge in Betracht kommenden offenkundig außer Verhältnis steht).
Der beschließende Senat hält es erst recht für ausgeschlossen, die vorgenannte Vorschrift dahin zu verstehen, dass eine Unregelmäßigkeit auch dann vorliegt, wenn ohne Verstoß des Marktbeteiligten gegen eine Gemeinschaftsbestimmung ein Schaden für die Gemeinschaft eintritt bzw. eintreten würde, wenn er nicht rechtzeitig —hier: durch Rückforderung der gewährten Ausfuhrerstattung— abgewendet wird.
3. Es stellt sich für den beschließenden Senat daher die —von der Vorinstanz bejahte— Frage, ob Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 auch in solchen Fällen (analog) anwendbar ist, in denen eine Unregelmäßigkeit i.S. des Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 2988/95 nicht vorliegt. Der beschließende Senat möchte diese Frage verneinen, bittet jedoch den EuGH hierzu um eine Vorabentscheidung, weil sich eine andere rechtliche Beurteilung möglicherweise nicht völlig ausschließen lässt.
Das einzige für den beschließenden Senat erkennbare tragfähige Argument zugunsten vorgenannter analoger Anwendung ergibt sich allerdings daraus, dass ohne eine solche Anwendung ein Ausführer, der keine Unregelmäßigkeit begangen hat, bis zum Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 800/1999 (VO Nr. 800/1999) der Kommission vom (ABlEG Nr. L 102/11) und der dort für einen solchen Ausführer ausdrücklich getroffenen Verjährungsregelung in Deutschland im Hinblick auf die Verjährung wesentlich schlechter gestanden hätte als ein Ausführer, dem eine Unregelmäßigkeit vorzuwerfen ist und der in den Genuss der Regelungen der VO Nr. 2988/95 gekommen wäre. Dieser Befund ist ein Argument dafür, dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 aufgrund des Art. 3 Abs. 3 VO Nr. 2988/95 hinter nationale Vorschriften zurücktreten soll, die —wie der im Streitfall noch einschlägige § 195 des deutschen BGB a.F.— eine längere Verjährungsfrist für den Anspruch der Behörde auf Rückzahlung zu Unrecht gewährter Vergünstigungen vorsehen, sofern die Vorschrift —woran bei dem beschließenden Senat auch unter Berücksichtigung des („Handlbauer” - EuGHE 2004, I-6171) Zweifel verblieben sind— nicht überhaupt lediglich die Verfolgungsverjährung im buchstäblichen Sinne des Begriffes (Verfolgung zur Verhängung von Kriminal- oder Verwaltungsstrafen) regelt, nicht jedoch die Verjährung von Rückforderungsansprüchen der Behörde.
Die bei Anwendung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 VO Nr. 2988/95 auch auf die Rückforderung zu Unrecht gewährter Leistungen der Behörde nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften bestehende Ungleichbehandlung des Ausführers, der eine Unregelmäßigkeit begangen hat, und des „gutgläubigen” Ausführers durch eine analoge Anwendung der Vorschrift auch auf Letzteren zu schließen, könnte nach Ansicht des Senats nur dann in Betracht kommen, wenn anzunehmen wäre, dass der Verordnungsgeber jene Ungleichbehandlung nicht bedacht, also in Art. 3 VO Nr. 2988/95 eine „lückenhafte” Regelung getroffen hat. Indes liegt die Möglichkeit von Fällen, in denen Leistungen der Behörde nicht wegen einer Unregelmäßigkeit des Leistungsempfängers, sondern eines Versäumnisses der Behörde zu Unrecht gewährt worden sind, so offenkundig auf der Hand, dass kaum ernstlich in Betracht kommen dürfte, der Verordnungsgeber habe diese Möglichkeit übersehen, als er Art. 3 VO Nr. 2988/95 schuf.
Ebenso wie mit der Annahme einer „planwidrigen Regelungslücke”, von der das FG und die Klägerin ausgehen möchten, lässt sich jedoch die analoge Anwendung nach Auffassung des beschließenden Senats damit rechtfertigen, dass es „unbillig” wäre, wenn der gutgläubige Marktbeteiligte länger mit einer Rückforderung ihm zu Unrecht gewährter Vorteile rechnen müsste als derjenige, der infolge einer von ihm begangenen Unregelmäßigkeit in deren Genuss gelangt ist. Es steht außer Frage, dass solche unterschiedlichen Rechtsfolgen ungereimt wären. Diese Ungereimtheit dadurch zu beseitigen, dass eine vom Verordnungsgeber nur bei einer dieser Fallgruppen geschaffene Regelung —um die es sich, wie ausgeführt, handelt— auch auf die andere Fallgestaltung angewandt wird, überschritte indes die Grenzen der Möglichkeiten richterlicher Rechtsfortbildung. Auch aus den ungeschriebenen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts vermag der beschließende Senat (ebenso wie aus dem deutschen Verfassungsrecht) nicht herzuleiten, dass Ansprüche auf Rückforderung zu Unrecht gewährter Leistungen der Behörde in angemessener Frist verjähren müssen; abgesehen davon würde sich daraus kein Gesichtspunkt für die analoge Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 gewinnen, sondern allenfalls die Folgerung ziehen lassen, dass die Möglichkeit einer solchen Rückforderung einer äußersten, richterrechtlich zu bestimmenden Grenze zu unterwerfen ist, die möglicherweise enger als der —übrigens unter dem Gesichtspunkt höherrangigen Rechts kaum jemals angegriffene— § 195 des deutschen BGB a.F. zu ziehen wäre, jedoch nach Auffassung des beschließenden Senats nach den Gegebenheiten des Streitfalls zugunsten der Klägerin nicht eingreifen könnte.
Der beschließende Senat vermag im Übrigen die Möglichkeit einer analogen Anwendung des Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 auf Fälle, in denen eine Unregelmäßigkeit nicht vorliegt, auch deshalb nicht anzuerkennen, weil es für eine solche analoge Anwendung an einem Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Beginns der Verjährungsfrist offenkundig fehlte. Zwar liegt auf der Hand, dass es vernünftig oder zumindest naheliegend ist, insofern —wie Art. 52 VO Nr. 800/1999— auf das Ergehen des begünstigenden Bescheides abzustellen, sofern der Begünstigte dessen Unrechtmäßigkeit erkennen konnte. Es kann jedoch schwerlich angenommen werden, dass damit im Ergebnis der gutgläubige Marktteilnehmer „in vergleichbarer Weise” (analog) wie derjenige behandelt wird, der i.S. der VO Nr. 2988/95 eine Unregelmäßigkeit begangen hat, zumal eine solche Handhabung regelmäßig zu einer wesentlich später eintretenden Verjährung des Rückforderungsanspruches gegenüber dem „gutgläubigen” Marktteilnehmer führen müsste; wenn diese auch sachlich gerechtfertigt erscheint, wird sie nicht Ergebnis einer richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage der VO Nr. 2988/95 sein können.
4. Sollte der EuGH Art. 3 Abs. 1 VO Nr. 2988/95 auf die Rückforderung einem Ausführer, der keine Unregelmäßigkeit begangen hat, gewährter Ausfuhrerstattung für anwendbar halten, so wird er um Beantwortung auch der für den beschließenden Senat ebenfalls nicht völlig zweifelsfreien Frage gebeten, ob die Vorschrift —ungeachtet des nationalen Rechts, aus dem sich dies ergeben könnte— auch auf den Haftungsanspruch nach Art. 11 VO Nr. 3665/87 mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass zu Unrecht gewährte Vergünstigungen von einem Zessionar dann nicht mehr zurückgefordert werden können, wenn sie auch von dem Begünstigten nicht mehr zurückgefordert werden könnten, oder wie die Verjährung des Haftungsanspruches sonst nach Maßgabe der VO Nr. 2988/95 zu bestimmen ist.
Die Beantwortung dieser Frage würde sich allerdings erübrigen, wenn der EuGH aufgrund der diesbezüglichen heutigen Vorabentscheidungsersuchen des beschließenden Senats in seinen Verfahren VII R 22-24/06, auf die der Senat Bezug nimmt, zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass Art. 3 VO Nr. 2988/95 dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer bereits bei ihrem Erlass bestehenden, allgemeinen (also nicht spezifisch die Rückforderung öffentlich-rechtlicher Vergünstigungen oder von Ausfuhrerstattungen betreffenden) nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine längere Frist für die Rückforderung solcher Vergünstigungen vorsieht.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1613 Nr. 8
DB 2007 S. 2694 Nr. 49
DStRE 2007 S. 975 Nr. 15
HFR 2007 S. 830 Nr. 9
StB 2007 S. 285 Nr. 8
StBW 2007 S. 5 Nr. 14
PAAAC-47813