BFH Urteil v. - VI R 42/03

Erwerbsbedingt entstandene Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten; Fortgeltung des § 33c EStG für Zeiträume vor 2000 nicht verfassungswidrig

Leitsatz

Nach der Systematik des EStG sind Kinderbetreuungskosten nicht als Erwerbsaufwendungen abziehbar, sondern einkommensteuerrechtlich nur unter den Voraussetzungen der §§ 10 und 33 ff. EStG zu berücksichtigen. Das gilt auch dann, wenn diese Aufwendungen Voraussetzung für die Berufsausübung eines Elternteils sind. Auch von Verfassungs wegen ist es nicht geboten, abweichend davon erwerbsbedingt entstandene Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten einkommensteuerlich zu berücksichtigen. Auch Art. 2 der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen gibt nicht bindend vor, dass berufsbedingte Kinderbetreuungskosten als Erwerbsaufwendungen auf der Ebene der Einkünfteermittlung, bemessen nach ihrem tatsächlichen Aufwand, abzuziehen sind. Die Entscheidung des BVerfG zur Fortgeltung des § 33c Abs. 1 bis 4 EStG für Zeiträume vor 2000 verstößt nicht gegen das GG und die EMRK.

Gesetze: EStG § 9 Abs. 1 Satz 1; EStG § 12 Nr. 1; EStG § 33c; GG Art. 3; GG Art. 6

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), ,

Gründe

I. Streitig ist, ob die Aufwendungen der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für die Betreuung ihrer drei Kinder als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen sind.

Die Kläger, zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Eheleute, waren im Streitjahr (1999) als Polizeibeamte im Schichtdienst tätig. Mit ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr begehrten sie die einkünftemindernde Berücksichtigung ihrer Aufwendungen für die Betreuung ihrer drei in den Jahren 1989, 1991 und 1992 geborenen Kinder. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) lehnte dies im streitigen Einkommensteuerbescheid vom ab.

Mit der Klage gegen den Einkommensteuerbescheid machten die Kläger Kinderbetreuungskosten in Höhe von 14 398 DM als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Die Aufwendungen seien beruflich veranlasst, da die Berufstätigkeit der Klägerin als Polizistin durch unregelmäßige Arbeitszeiten eine andere Form der Kinderbetreuung nicht ermögliche.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 1231 veröffentlichten Gründen ab.

Die Kläger rügen mit der Revision die Verletzung der §§ 9, 12, 33c des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) i.V.m. Art. 3 des Grundgesetzes (GG), Art. 6 GG, Art. 19 GG, Art. 14 GG, Art. 20 GG, Art. 2 GG und Art. 6, 8, 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

Aus verfassungsgerechten Gründen seien die Kinderbetreuungskosten als beruflich bedingte Werbungskosten i.S. des § 9 EStG anzuerkennen, jedenfalls aber nach § 33c EStG zu berücksichtigen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— (Beschluss vom 2 BvR 1057/91, u.a.) sei selbst verfassungswidrig, soweit dort eine rückwirkende Korrektur der verfassungswidrigen Rechtslage unterlassen worden sei.

Das objektive Nettoprinzip gebiete den Abzug, denn die geltend gemachten Kinderbetreuungskosten hätten ihre Ursache darin, dass die Zeiten der beruflichen Tätigkeit sich mit den Kinderbetreuungszeiten deckten. Die Kinderbetreuungskosten seien daher durch doppelte Berufstätigkeit der Kläger und nicht durch die Lebensführung veranlasst.

Ohne Berücksichtigung der berufsbedingt angefallenen Kinderbetreuungskosten würden die Kläger nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit besteuert. Das den Klägern 1999 gewährte Kindergeld in Höhe von insgesamt 9 600 DM habe überwiegend eine andere Funktion. Auch wenn Kinderbetreuungskosten einen gewissen Bezug zur Lebensführung hätten, seien aber grundsätzlich Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten zu berücksichtigen, wenn sie ihre Veranlassung in der Einkunftssphäre hätten, wie etwa Mehraufwendungen für Verpflegung, Arbeitskleidung oder doppelte Haushaltsführung.

Art. 2 der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen stehe dem jetzigen Rechtszustand entgegen. Bei der Berücksichtigung berufsbedingter Kinderbetreuungskosten sei die Stellung der Frau im Berufsleben zu beachten.

Die Entscheidung des habe keine Bindungswirkung, weil es nicht über die Frage der Abzugsfähigkeit erwerbsbedingter Werbungkosten entschieden habe. Die Rechtsprechung des BVerfG aus dem Jahre 1977 (BStBl II 1978, 174) halte verfassungsrechtlichen Prüfungen im Hinblick auf den mittlerweile eingetretenen Wandel nicht mehr Stand.

Soweit das entschieden habe, dass bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber die bisherigen Regelungen anwendbar seien, verstoße dies gegen Art. 1, 3, 6, 19 Abs. 4, 20 GG und gegen Art. 6, 8 und 14 EMRK.

Die Kläger beantragen, den Einkommensteuerbescheid 1999 in der zuletzt gültigen Fassung, die Einspruchsentscheidung vom sowie das Urteil des aufzuheben und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten in Höhe von 7 628 DM als Werbungskosten des Klägers und in Höhe von 8 415 DM als Werbungskosten der Klägerin neu festzusetzen, hilfsweise eine verfassungsgemäße rückwirkende Korrektur von Kinderbetreuungskosten im Rahmen des Familienleistungsausgleichs vorzunehmen.

Das FA beantragt, die Revision aus den Gründen der Vorentscheidung zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die von den Klägern geltend gemachten Aufwendungen für die Betreuung ihrer Kinder (Kinderbetreuungskosten) im Streitjahr einkommensteuerrechtlich nicht zu berücksichtigen sind.

1. Die Beteiligten gehen zu Recht übereinstimmend davon aus, dass die Kinderbetreuungskosten der Kläger im Streitfall nicht nach § 33c EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung abziehbar sind. Denn danach sind nur wegen Erwerbstätigkeit erwachsene Aufwendungen für Dienstleistungen zur Betreuung eines zum Haushalt eines Alleinstehenden gehörenden Kindes als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der verheirateten und nicht getrennt lebenden Kläger nicht vor.

2. Kinderbetreuungskosten sind Aufwendungen, die stets auch privat mit veranlasst sind. Sie zählen zu den für den Haushalt des Steuerpflichtigen und für den Unterhalt seiner Familienangehörigen aufgewendeten Beträgen i.S. des § 12 Nr. 1 EStG. Dennoch darf der Steuergesetzgeber auf die Mittel, die zur Pflege und Erziehung der Kinder unerlässlich sind, nicht in der Weise zugreifen, wie auf finanzielle Mittel, die zur Befriedigung beliebiger Bedürfnisse eingesetzt werden (vgl. , u.a., BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182).

a) Nach der Systematik des Einkommensteuergesetzes sind Kinderbetreuungskosten nicht als Erwerbsaufwendungen abziehbar, sondern einkommensteuerrechtlich nur unter den Voraussetzungen der §§ 10 und 33 ff. EStG zu berücksichtigen. Das gilt auch dann, wenn diese Aufwendungen Voraussetzung für die Berufsausübung eines Elternteils sind (vgl. , BFH/NV 2006, 297; , BFH/NV 1999, 1213; vom VI R 94/96, BFHE 185, 8, BStBl II 1998, 211, jeweils m.w.N.). Auch das BVerfG ging in seiner Entscheidung zu der verfassungsrechtlich gebotenen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten (Beschluss in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) davon aus, dass Betreuungsbedarf —auch soweit durch Erwerbstätigkeit veranlasst— nicht die Erwerbssphäre, sondern die Privatsphäre der Steuerpflichtigen betrifft, indem es diesen Betreuungsbedarf als notwendigen Bestandteil des familiären Existenzminimums qualifizierte (a.a.O., unter B. I. 3. b der Entscheidungsgründe) und dem Gesetzgeber anheim stellte, die gesamte kindbedingte Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit in einem Grundtatbestand zu erfassen, der alle kinderbezogenen Entlastungen einbezieht (a.a.O., unter C. III. der Entscheidungsgründe).

b) Aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG folgt, dass bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Staat den Unterhaltsaufwand für Kinder des Steuerpflichtigen in dem Umfang als steuerbares Einkommen außer Betracht lassen muss, in dem dieses zur Gewährleistung des Existenzminimums der Kinder erforderlich ist. Die Leistungsfähigkeit von Eltern wird über den existentiellen Sachbedarf hinaus durch den erwerbsbedingten Betreuungsbedarf des Kindes gemindert, der ebenfalls als Bestandteil des kindbedingten Existenzminimums steuerlich zu verschonen ist. Der Betreuungsbedarf ist notwendiger Bestandteil des familiären Existenzminimums, der steuerfrei bleiben muss, ohne dass unterschieden werden dürfte, ob die Eltern das Kind persönlich betreuen oder eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 99, 216, BStBL II 1999, 182).

c) Nach der Entscheidung des BVerfG erfasst die Verfassungswidrigkeit der Regelungen des Abzugs von Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit (§ 33c Abs. 1 bis 4 EStG) diese Vorschriften in den jeweils geltenden Fassungen und mithin auch in der Fassung für den streitigen Veranlagungszeitraum 1999. Daher sind die Kläger —wie alle anderen ehelichen Erziehungsgemeinschaften— in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG verletzt, soweit ihr Kinderbetreuungsbedarf nicht nach § 33c EStG einkommensteuerlich berücksichtigt wurde.

d) Das BVerfG selbst hat allerdings diese Vorschriften mit Hinweis auf § 95 Abs. 3 Sätze 2 und 3, § 79 BVerfGG nur für mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb ausdrücklich als bis zum für weiterhin anwendbar erklärt. Diese im BGBL I 1999, 143 veröffentlichte Entscheidungsformel mit der angeordneten Weitergeltung bindet nach § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte. Sie hat nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft, so dass die steuerliche Nichtberücksichtigung von Kinderbetreuungskosten für Zeiträume vor 2000 geltendes Recht geblieben ist (vgl. zuletzt , BFH/NV 2006, 1297; , BFH/NV 2005, 513, jeweils m.w.N.).

3. Diese Anordnung, der Gesetzeskraft zukommt, ist auch nicht ihrerseits verfassungswidrig. Die Entscheidung des BVerfG, dass bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber die bisherigen Regelungen anwendbar sind, verstoßen nicht gegen Art. 1, 3, 6, 19 Abs. 4, 20 GG und gegen Art. 6, 8 und 14 EMRK. Die vom BVerfG als Verfassungsorgan getroffene Abwägung, dass aus Gründen des Gemeinwohls ein schonender Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage hinzunehmen geboten war, folgt aus der Anforderung, die Einheit der Verfassung zu wahren und dem ihr immanenten Gebot, verfassungserhebliche Rechtsgüter in einen schonenden und widerspruchsfreien Ausgleich zu bringen. Insoweit stellt dies eine Form richterlicher Rechtsfortbildung auf der Ebene des Verfassungsrechts dar, das dem Rechtsvakuum der ex-tunc-Nichtigkeit ein ausdifferenziertes Rechtsfolgenprogramm gegenüberstellt (vgl. Löwer in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Bd. II, § 56 Rz 105 f.; P. Kirchhof, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft —DStJG— 18 [1995], S. 39 ff.). Im Übrigen findet Art. 6 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im finanzgerichtlichen Verfahren keine Anwendung (vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 44759/98, Neue Juristische Wochenschrift 2002, 3453; vom 62023/00, EuGRZ 2005, 234).

4. Entgegen der Auffassung der Kläger ist es von Verfassungs wegen nicht geboten, abweichend von der im Streitjahr geltenden Systematik des Einkommensteuerrechts und der damit vorgegebenen materiell-rechtlichen Lage deren erwerbsbedingt entstandene Kinderbetreuungskosten als Werbungskosten einkommensteuerlich zu berücksichtigen. Denn das BVerfG hat mit seinem Beschluss in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182 nicht nur die unzureichende einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und deren übergangsweise Fortgeltung festgestellt, sondern damit zugleich die geltende Systematik der kindbedingten Abzüge bestätigt, die Kinderbetreuungskosten nicht zu den Erwerbsaufwendungen rechnet und den Gesetzgeber berechtigt, statt der nachgewiesenen tatsächlichen Kosten typisierend Freibeträge zu normieren (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 297 mit Hinweis auf , BVerfGE 112, 268, BGBl I 2005, 1622, BFH/NV 2005, Beilage 4, 356).

5. Auch Art. 2 der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen steht der Qualifikation des Kinderbetreuungsbedarfs als durch die private Lebensführung veranlasst nicht entgegen. Die von den Klägern angemahnte Berücksichtigung berufsbedingter Kinderbetreuungskosten ist nach den vorgenannten verfassungsrechtlichen Maßstäben zwar geboten. Aber Art. 2 der Richtlinie 76/207/EWG gibt nicht bindend vor, dass diese Berücksichtigung gerade in der Weise erfolgen müsste, dass sie als Erwerbsaufwendungen auf der Ebene der Einkünfteermittlung bemessen nach ihrem tatsächlichen Aufwand abzuziehen sind.

6. Soweit die Kläger eine überlange Verfahrensdauer des mit BVerfG-Beschluss in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182 abgeschlossenen Verfahrens rügen, können jedenfalls die an diesem Verfahren nicht beteiligten Kläger des hier zur Entscheidung stehenden Streitfalles daraus keine Rechtsfolgen für sich ableiten. Weiter bleibt auf den nicht für den Steuerprozess geltenden Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinzuweisen.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1312 Nr. 7
EStB 2007 S. 248 Nr. 7
HFR 2007 S. 968 Nr. 10
NJW 2007 S. 1999 Nr. 27
NWB-Eilnachricht Nr. 31/2007 S. 12
MAAAC-46936