Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses durch Teilerlass der Steuerforderung; unterschiedliche Auslegung einer Einspruchsentscheidung kein Verfahrensmangel
Gesetze: FGO § 96 Abs. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Instanzenzug: VBr
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist eine in Spanien ansässige Brennerei, die u.a. Wodka herstellt. Im Jahr 1998 eröffnete sie u.a. 28 Steuerversandverfahren mit denen 27 LKW-Ladungen Wodka und eine LKW-Ladung Whisky in die Ukraine und nach Litauen ausgeführt werden sollten. Die in 1-Liter Flaschen abgefüllten branntweinsteuerpflichtigen Erzeugnisse wurden in Spanien von osteuropäischen oder deutschen Transportunternehmen abgeholt und in der Regel vor Ort bar bezahlt; sie wurden sodann an der französischen Grenze zur Ausfuhr abgefertigt und sollten über Ausgangszollstellen in X, Y oder Z ausgeführt werden. Nach Feststellungen der Zollfahndung sind die streitgegenständlichen Steueraussetzungsverfahren jedoch nicht ordnungsgemäß erledigt worden. Zum einen Teil konnte eine Erledigung überhaupt nicht festgestellt werden, zum anderen Teil ergaben die Ermittlungen, dass zur Erledigung der Rückscheine gefälschte oder bereits eingezogene Stempel verwendet worden waren. Aufgrund dieser Erkenntnisse nahm der Beklagte und Beschwerdeführer (das Hauptzollamt —HZA—) die Klägerin mit Steuerbescheid vom nach § 143 Abs. 2 und 4 Satz 1 Nr. 1 des Branntweinmonopolgesetzes (BranntwMonG) auf Zahlung von mehreren Millionen DM Branntweinsteuer in Anspruch.
Den Einspruch gegen den Steuerbescheid wies das HZA als unbegründet zurück. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens und während des sich anschließenden Verfahrens vor dem Finanzgericht (FG) ergingen gegen mehrere Tatbeteiligte Strafurteile. Mit diesen wurden die Beteiligten wegen gewerbsmäßigen Schmuggels zu Freiheitsstrafen verurteilt. Während des Rechtsbehelfsverfahrens beantragte die Klägerin den Erlass der Branntweinsteuer. Daraufhin fand bei der Klägerin in Spanien eine Liquiditätsprüfung statt, an der auch ein Prüfer des HZA teilnahm. In seinem Bericht führte er aus, dass ein erheblicher Liquiditätsmangel vorliege. Die Firma befinde sich in einer kritischen Situation, so dass eine steuerliche Inanspruchnahme nicht nur eine exzessive Erhöhung der langfristigen Schulden, sondern gleichzeitig einen Verlust von ca. ... Mio. Peseten bewirken würde. Die Gesellschaft würde sich auflösen und das Vermögen veräußern müssen.
Mit Bescheid vom erließ das HZA die festgesetzte Branntweinsteuer bis auf einen Betrag von 1 Mio. DM. Hierzu führte es u.a. aus, dass der Klägerin zumindest teilweise ein schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen sei, denn sie habe ein hohes Risiko in Kauf genommen und dabei keine Vorsorgemaßnahmen getroffen. Ein Erlass über die gesamte Summe könne und dürfe deshalb nicht in Frage kommen, um zumindest eine gewisse Steuergerechtigkeit zu gewährleisten. Da die Klägerin in vorangegangenen Jahren immer einen Gewinn erwirtschaftet habe, könne sie die Summe vom 1 Mio. DM bei ggf. zu bewilligenden angemessenen Ratenzahlungen erbringen. Sachliche Billigkeitsgründe seien nicht ersichtlich.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtete das FG das HZA, den auf den Erlass der weiteren 1 Mio. DM gerichteten Antrag der Klägerin erneut zu bescheiden. Es urteilte, dass im Streitfall Art. 239 des Zollkodex keine Anwendung finden könne, vielmehr richte sich der Erlass nach § 227 der Abgabenordnung (AO). Hinsichtlich der vom Erlass erfassten Lieferungen sei darauf hinzuweisen, dass sich der Erlass nur auf diejenigen Lieferungen erstrecken sollte, zu denen die Klägerin auch Rückscheine erhalten habe. Dies ergebe sich daraus, dass das HZA in der Einspruchsentscheidung ausdrücklich zugunsten der Klägerin habe berücksichtigen wollen, dass bei ihr tatsächlich Rückscheine eingetroffen seien, ohne dass sie einen Anlass gehabt hätte, an der Echtheit der Stempel der Ausgangszollstellen zu zweifeln. Voraussetzung für einen Erlass sei jedoch das Bestehen eines Steueranspruchs. Dies sei bei denjenigen Lieferungen nicht der Fall, in denen die Klägerin keine Rückscheine erhalten habe und in denen der Ort der Zuwiderhandlung auch nicht habe festgestellt werden können. In diesen Fällen könne die Besteuerung nicht auf § 143 Abs. 1 BranntwMonG gestützt werden. Denn es sei nur bekannt, dass die in Spanien eröffneten Steueraussetzungsverfahren nicht erledigt worden seien. Ein im Steuergebiet erfolgter Entzug der Waren aus dem Steueraussetzungsverfahren habe hingegen nicht festgestellt werden können. Auch eine Anwendung von § 143 Abs. 2 BranntwMonG komme im Streitfall nicht in Betracht. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in seinem Urteil vom VII R 25/01 (BFHE 208, 334) entschieden, dass mit dieser Vorschrift das Gemeinschaftsrecht nicht korrekt umgesetzt worden sei. Denn nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren —Systemrichtlinie— (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 76/1) liege in Fällen, in denen die verbrauchsteuerpflichtigen Waren am Bestimmungsort nicht angekommen seien und der Ort der Zuwiderhandlung nicht festgestellt werden könne, die Erhebungskompetenz beim Abgangsmitgliedstaat. Im Streitfall liege die Erhebungskompetenz deshalb insoweit bei Spanien.
Wenn insoweit Branntweinsteuer in der Person der Klägerin überhaupt nicht habe entstehen können, beeinflusse dieser Umstand auch die zur Frage der Erlassbedürftigkeit anzustellenden Erwägungen. Denn das HZA habe gerade bei diesen Lieferungen das Verhalten der Klägerin als besonders vorwerfbar eingestuft. Auch sei die rechtsfehlerhafte Annahme einer Steuerentstehung in Deutschland der Überprüfung der Liquiditätslage zugrunde gelegt worden. Da sich die Ausgangslage für die Erlassentscheidung in wesentlichen Punkten anders als angenommen darstelle, sei über den Erlassantrag neu zu befinden.
Die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge seien abzulehnen. Eine Vernehmung des vom HZA eingesetzten Prüfers sei entbehrlich, da dieser in seinem Prüfungsvermerk unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, dass er die Klägerin für erlassbedürftig halte. Für die Vorlage der Korrespondenz zwischen dem HZA und dem Bundesministerium der Finanzen einschließlich der internen Stellungnahmen bestehe weder ein Bedürfnis noch eine Rechtsgrundlage. Denn ob vorgesetzte Behörden bei der Entscheidungsfindung beteiligt gewesen seien, sei für die rechtliche Beurteilung der Erlassentscheidung unerheblich. Auch die Vorlage und Auswertung der Bilanzen sowie der Gewinn- und Verlustrechnungen für die Jahre 2001 bis 2005 sei für die Urteilsfindung entbehrlich gewesen.
Mit seiner Beschwerde, die es auf das Vorliegen einer Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) und eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) stützt, wendet sich das HZA gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG. Zur Begründung trägt es vor, dass das FG von der Entscheidung des (BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297) abgewichen sei. Denn es habe zu Unrecht nur über denjenigen Teil der angefochtenen Steuerfestsetzung befunden, der von dem Teilerlass nicht betroffen gewesen sei. Nach der Rechtsprechung des BFH sei eine Billigkeitsentscheidung jedoch materiell-rechtlich und formell-rechtlich unabhängig von der Rechtmäßigkeitsprüfung zu treffen, auch wenn diese in einem gestuften Verfahren vorgenommen werde. Der Erlass beseitige nicht die Steuerentstehung als solche, deshalb hätte das FG die Steuerfestsetzung im vollen Umfang überprüfen müssen.
Ein Verfahrensmangel sei darin zu sehen, dass das FG der Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt und damit § 96 Abs. 1 FGO verletzt habe. Denn es sei unzutreffend davon ausgegangen, dass der Teilerlass nicht die letzten vier Sendungen, zu denen keine Rückscheine eingegangen seien, erfasst habe. Zumindest eine Lieferung, die noch vor Ablauf der in Art. 19 Abs. 5 der Systemrichtlinie festgelegten Drei-Monats-Frist erfolgt sei, habe das FG zu Unrecht in seine Entscheidung miteinbezogen.
Die Klägerin ist der Beschwerde entgegengetreten. Sie hält die vom HZA aufgeworfene Rechtsfrage für nicht klärungsbedürftig. Hinsichtlich des Verfahrensmangels teilt sie die Auffassung des HZA.
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Die vom HZA behauptete Divergenz zur Entscheidung des BFH in BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297 liegt nicht vor. Zu Recht hat das FG dem nach Klageerhebung gewährten Teilerlass und der dadurch erforderlichen Beschränkung des Klageantrages dadurch Rechnung getragen, dass es nur noch über den vom Teilerlass nicht betroffenen Anteil der Steuerschuld befunden hat. Denn durch den Teilerlass ist insoweit das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfallen (Senatsentscheidung vom VII R 134/81, BFH/NV 1987, 205). Mangels Rechtsschutzinteresses konnte das FG die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides auf diejenigen Lieferungen beschränken, die vom Teilerlass nicht erfasst worden sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Steuerbescheid insgesamt 28 Lieferungen erfasst, bei denen nach Auffassung des HZA 28 individualisierbare Steuerentstehungstatbestände verwirklicht worden sind. Das HZA wäre demnach nicht daran gehindert gewesen, hinsichtlich jedes einzelnen Steuerversandverfahrens einen eigenständigen Abgabenbescheid zu erlassen. Bei dieser Sach- und Rechtslage begegnet das Vorgehen des FG keinen rechtlichen Bedenken, die Überprüfung der Erlassentscheidung auf diejenigen Sendungen zu beschränken, auf die sich der Erlass bezieht.
Eine Abweichung von der BFH-Entscheidung in BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297 liegt deshalb nicht vor, weil das FG keinen von dieser Entscheidung abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat. Die zu beachtende Eigenständigkeit von Steuerbescheid und Erlassentscheidung und die daraus resultierende Zweigleisigkeit der Verfahren hat das FG nicht verkannt. Auch ist das FG nicht davon ausgegangen, dass hinsichtlich der Überprüfung von Steuer- und Erlassbescheid eine festgefügte zeitliche Abfolge oder verfahrensrechtliche Rangfolge besteht (vgl. hierzu von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz 190). Vielmehr hat das FG Überlegungen zur Steuerentstehung und zur Höhe der Abgabenschuld im Rahmen der Überprüfung der Ermessensausübung angestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Feststellung der Erlassbedürftigkeit eine Überprüfung der Liquiditätslage voraussetzt. Ausgehend von der geltend gemachten Steuerforderung ist zu prüfen, ob eine Begleichung dieser Steuerschuld zur Existenzgefährdung des Steuerschuldners führen würde. Deshalb begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, die voraussichtliche Höhe des geschuldeten Abgabenbetrages in die Ermessenserwägungen und in die gerichtliche Überprüfung der getroffenen Ermessensentscheidung miteinzubeziehen.
2. Soweit das HZA rügt, dass das FG zu Unrecht eine tatsächlich vom Teilerlass erfasste Lieferung in seine Überprüfung miteinbezogen und dagegen eine andere vom Erlass nicht erfasste Sendung unberücksichtigt gelassen habe, legt es keinen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, insbesondere keinen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 FGO dar. Im Kern seines Vorbringens rügt das HZA, dass das FG aufgrund des festgestellten Sachverhalts im Rahmen der ihm obliegenden Tatsachenwürdigung eine unzutreffende Schlussfolgerung gezogen und infolgedessen eine fehlerhafte Auslegung des angefochtenen Verwaltungsaktes vorgenommen habe. Fehler in der Beweis- und Sachverhaltswürdigung stellen jedoch keine Verfahrensfehler, sondern materiell-rechtliche Fehler dar (BFH-Entscheidungen vom I B 5/97, BFH/NV 1998, 461; vom XI B 29/98, BFH/NV 1999, 607, und vom XI B 172/97, BFH/NV 1999, 963).
Wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht, hat das FG den Inhalt der auszugsweise wiedergegebenen Einspruchsentscheidung zur Kenntnis genommen und den Akteninhalt und den Vortrag des HZA in der mündlichen Verhandlung entsprechend berücksichtigt. Es ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass das HZA die letzten vier Lieferungen vom Teilerlass ausgenommen wissen wollte, zu denen keine Rückscheine eingegangen waren. Demgegenüber interpretiert das HZA die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung dahingehend, dass unabhängig von der Erledigung der Rückscheine diejenigen vier Sendungen vom Erlass nicht erfasst werden sollten, die die Klägerin nach Ablauf der in Art. 19 Abs. 5 der Systemrichtlinie genannten Frist, gerechnet ab dem , auf den Weg gebracht hat. Darin tritt zwar ein Dissens in der Auslegung und Würdigung des Inhalts der Einspruchsentscheidung, jedoch keine rechtsfehlerhafte Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften zu Tage, die eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO erforderlich machen würde.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1323 Nr. 7
JAAAC-45777