BAG Urteil v. - 2 AZR 812/05

Leitsatz

[1] 1. Nimmt der Arbeitgeber die Sozialauswahl allein durch Vollzug eines zulässigen Punktesystems vor, so kann er auf die Rüge nicht ordnungsgemäßer Sozialauswahl mit Erfolg einwenden, der gerügte Auswahlfehler habe sich auf die Kündigungsentscheidung nicht ausgewirkt, weil der Arbeitnehmer nach der Punktetabelle ungeachtet des Auswahlfehlers zur Kündigung angestanden hätte (Aufgabe der bisherigen gegenteiligen Rechtsprechung, vgl. - BAGE 47, 80; - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34).

2. Ein Punktesystem zur Gewichtung der Sozialdaten muss nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG in der seit dem geltenden Fassung keine individuelle Abschlussprüfung vorsehen.

3. Die ordnungsgemäße Durchführung des nach § 95 Abs. 1 BetrVG für das Punktesystem erforderlichen Mitbestimmungsverfahrens ist nicht Wirksamkeitsvoraussetzung einer Kündigung, die unter Anwendung des Systems erfolgt ist.

Gesetze: KSchG § 1 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 3; BetrVG § 95

Instanzenzug: ArbG Ludwigshafen 5 Ca 485/04 vom 08.09.2004LAG Rheinland-Pfalz 6 Sa 893/04 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und einen Antrag auf Weiterbeschäftigung.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Der am geborene Kläger trat 1998 als "Maschinenbediener II" in die Dienste der Beklagten. Er ist geschieden, einem sechsjährigen Sohn zum Unterhalt verpflichtet und erhielt zuletzt ein Bruttomonatsgehalt von 2.500,00 Euro.

Auf Grund von Umsatzrückgängen beschloss die Geschäftsleitung der Beklagten im Frühjahr 2004 im Produktionsbereich (Presswerk und Aggregatewerk) insgesamt 57 gewerbliche Arbeitsplätze abzubauen. Die Beklagte führte eine Sozialauswahl unter insgesamt 595 gewerblichen Mitarbeitern durch. Dabei berücksichtigte sie neben dem direkten Personal (Maschinenbediener, Maschinenführer, Schweißer) in den sog. 6 Focusbereichen auch indirektes Personal (Lager- und Transportarbeiter). Sie ging hierbei nach Feststellung des Landesarbeitsgerichts von einem Auswahlschema aus, dem folgende Punktbewertung zugrunde lag: "- Lebensalter: 1 Punkt bis maximal 55 Jahre,

- Betriebszugehörigkeit: bis zu 10 Jahren 1 Punkt; ab dem 11. Jahr 2 Punkte,

- Unterhaltspflichten: je unterhaltsberechtigtem, auf der Lohnsteuerkarte eingetragenem Kind 3 Punkte

- Familienstand: verheiratet 4 Punkte

- Schwerbehinderteneigenschaft: ab 50 % 5 Punkte, darüber pro je weiteren 10 % MDE jeweils 1 weiterer Punkt."

Nachdem zwei Arbeitnehmer Eigenkündigungen ausgesprochen hatten, erstellte die Beklagte eine Liste der 55 auf Grund der Punktezuteilung sozial stärksten Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer mit der geringsten Punktzahl (23) findet sich auf Platz 1, der mit der höchsten Punktzahl (45) auf Platz 55 der Liste. Der Kläger steht mit insgesamt 41 Punkten auf Platz 43 der Liste. Der Arbeitnehmer H, dem insgesamt unter Anrechnung von 5 Punkten für einen Grad der Behinderung von 30 eine Gesamtpunktzahl von 44 Punkten zuerkannt wurde, ist auf der Liste nicht aufgeführt. Ihm wurde auch nicht gekündigt.

Die Beklagte kündigte nach Anhörung des Betriebsrates, der der Kündigung widersprach, die Arbeitsverhältnisse der 55 in der Liste aufgeführten Arbeitnehmer, darunter das des Klägers ordentlich zum . Die Beklagte beschäftigte in der Folge die ebenfalls zunächst gekündigten Mitarbeiter He (35 Punkte, Listenplatz 21) und Ho (40 Punkte, Listenplatz 39) weiter. Sie schloss jedoch mit zwei nicht auf der Liste befindlichen Mitarbeitern (K und W) Aufhebungsverträge.

Der Kläger hat mit der Klage geltend gemacht, es habe kein dringendes betriebliches Erfordernis für die Kündigung bestanden. Jedenfalls aber sei die Sozialauswahl nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Das von der Beklagten angewendete Punkteschema sei sozial nicht ausgewogen, weil es zu sehr auf das Alter und die Betriebszugehörigkeit abstelle. Außerdem sei der Kreis der vergleichbaren Mitarbeiter nicht richtig bestimmt worden. Zumindest gegenüber dem Arbeitnehmer H sei er als sozial schwächer einzuordnen. Diesem seien zu Unrecht 5 Punkte für eine Schwerbehinderung zugemessen worden. Im Übrigen sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden.

Der Kläger hat zuletzt beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die mit Schreiben der Beklagten vom , zugegangen am , ausgesprochene Kündigung nicht zum 30. September 2004 aufgelöst ist.

2. Für den Fall des Obsiegens nach der Güteverhandlung die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung dieses Rechtsstreits zu den bisherigen Bedingungen als Schweißer weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat Klageabweisung begehrt und zur Begründung angeführt, durch die hinzunehmende Unternehmerentscheidung zur Reduzierung des Personals sei ein betriebsbedingter Grund zur Kündigung gegeben. Auch die Sozialauswahl sei nicht zu beanstanden. Die Vergleichsgruppe sei zutreffend gebildet worden. Selbst wenn man beim Mitarbeiter H 5 Sozialpunkte abziehe, hätte der Kläger entsprechend seiner Punktzahl zur Kündigung angestanden. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin Klageabweisung.

Gründe

Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.

A. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Es liege zwar ein dringender betrieblicher Kündigungsgrund iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG vor. Die Beklagte habe die unternehmerische Entscheidung getroffen, anhand eines auf Dauer angelegten organisatorischen Konzeptes die Anzahl der Mitarbeiter zu verringern. Anlass seien die bisherige Umsatzentwicklung und Auftragslage gewesen. Die Kündigung sei jedoch deshalb nicht wirksam, weil der Kläger im Vergleich zum Mitarbeiter H besser gestellt sei. Herrn H seien 5 Punkte zuviel zuerkannt worden. Richtigerweise sei er mit nur 39 Punkten auf den Plätzen 30 - 33 anzusiedeln. Herrn M mit 45 Punkten (Platz 55 der Liste) sei deshalb nicht zu kündigen gewesen. Hierauf könne sich nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ( - 2 AZR 543/83 - BAGE 47, 80) auch der Kläger berufen, da es ausreiche, wenn nur ein vergleichbarer sozial stärkerer Arbeitnehmer von der betriebsbedingten Kündigung ausgenommen worden sei.

B. Dem folgt der Senat weder in allen Teilen der Begründung noch im Ergebnis.

I. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann der Kündigungsschutzklage nicht stattgegeben werden. Die Sozialauswahl ist nicht wegen eines etwaigen Auswahlfehlers in Bezug auf den Arbeitnehmer H zu beanstanden. Da die Sache nicht entscheidungsreif ist, war sie an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 ZPO.

1. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung des Klägers sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt (§ 1 Abs. 2 KSchG), ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach den für den Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat sich die Beklagte Ende März 2004 entschieden, künftig die vorhandenen Produktionsaufträge mit 407 Mitarbeitern abarbeiten zu lassen, weil sie auf Grund der Entwicklung der vorangegangenen Geschäftsjahre eine Zahl von Arbeitsstunden prognostizierte, zu deren Bewältigung nur noch diese reduzierte Anzahl von Mitarbeitern erforderlich sein würde. Die Beklagte hat es nicht bei der Schilderung der rückläufigen Umsätze belassen, sondern vorgetragen, wie sie ihren geänderten Personalbedarf anhand des sog. Manpower Models ermittelt hat. Die Berechnung ist nachvollziehbar. Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Ausübung des unternehmerischen Gestaltungsspielraums sind nicht erkennbar. Möglichkeiten zur anderweitigen Beschäftigung hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt.

2. Ob die Kündigung wegen fehlerhafter Sozialauswahl, § 1 Abs. 3 KSchG, sozial ungerechtfertigt ist, steht noch nicht fest. Der Annahme des Landesarbeitsgerichts, bei Verwendung eines Punktesystems führe ein Auswahlfehler selbst dann zur Unwirksamkeit einer Kündigung, wenn dem klagenden Arbeitnehmer auch bei richtiger Auswahl zu kündigen gewesen wäre, stimmt der Senat nicht zu. Soweit der Senat bisher eine gegenteilige Auffassung vertreten hat ( - 2 AZR 543/83 -BAGE 47, 80; 18. Januar 1990 - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34), hält er daran nicht fest.

a) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats, die das Landesarbeitsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, können dann, wenn auch nur ein vergleichbarer sozial stärkerer Arbeitnehmer von der betriebsbedingten Kündigung ausgenommen worden ist, ohne dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG vorliegen, sich beliebig viele sozial schwächere zur gleichen Zeit gekündigte Arbeitnehmer auf den Auswahlfehler berufen ( - 2 AZR 543/83 - BAGE 47, 80; 18. Januar 1990 - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34).

b) Diese Rechtsprechung hat Kritik erfahren, da der sog. "Domino-Effekt" (vgl. Bitter/Kiel RdA 1994, 333, 358) bei unabdingbaren Massenentlassungen zu dem Ergebnis führt, dass zahlreiche Kündigungen sozial ungerechtfertigt sein können, wenn der Arbeitgeber die soziale Auswahl in Bezug auf einen einzigen Arbeitnehmer fehlerhaft durchgeführt hat. Aus der Kritik sind unterschiedliche Lösungsvorschläge entwickelt worden.

aa) Teilweise wird empfohlen, in Fällen von Massenentlassungen die endgültige Sozialauswahl anhand von zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarten Punktetabellen vorzunehmen (Linck Die Kündigung von Arbeitsverträgen 1993, S. 137; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 13. Aufl. § 1 Rn. 487). Das Landesarbeitsgericht Hamm hat es in seiner Entscheidung vom (- 10 (19) Sa 1907/93 -LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 13; vgl. auch - LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 36), der der Senat nicht gefolgt ist ( - 2 AZR 1008/94 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 29 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 35), als rechtsmissbräuchlich angesehen, wenn sich ein Arbeitnehmer auf eine fehlerhafte Sozialauswahl beruft, obwohl sich diese nicht zu seinen Gunsten ausgewirkt hat. Kiel hält insoweit eine eingeschränkte Kausalitätsprüfung für angemessen und die Sozialauswahl für nicht zu beanstanden, wenn der betroffene Arbeitnehmer auch bei zutreffender Würdigung der Sozialdaten und bei jedem zulässigen Abwägungsergebnis zur Kündigung angestanden hätte (APS/Kiel 2. Aufl. § 1 KSchG Nr. 776). Berkowsky will die soziale Schutzbedürftigkeit der betroffenen Arbeitnehmer nur "feldartig" erfassen, so dass jeweils Gruppen von Arbeitnehmern bei geringfügig unterschiedlicher Wertigkeit ihrer Sozialdaten im Ergebnis als gleichermaßen schutzbedürftig anzusehen sein sollen; innerhalb der Gruppe könne der Arbeitgeber ohne Verstoß gegen die Grundsätze der Sozialauswahl alternativ mehreren Arbeitnehmern kündigen, während es Arbeitnehmern einer sozial weniger schutzbedürftigen Gruppe versagt sei, sich auf den Auswahlfehler zu berufen (Berkowsky Die betriebsbedingte Kündigung 5. Aufl. § 11 Rn. 68).

bb) Die dargestellte Kritik an der bisher vom Senat vertretenen Auffassung ist begründet. Jedenfalls in Fällen, in denen der Arbeitgeber die Sozialauswahl lediglich noch durch den korrekten Vollzug eines zulässigen Punkteschemas vornimmt, muss dem Arbeitgeber der Einwand gestattet sein, ein Auswahlfehler habe sich auf die Kündigungsentscheidung nicht ausgewirkt. Da der Arbeitgeber die sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bei der Auswahl der zu Kündigenden nur ausreichend zu berücksichtigen hat, ist der Senat bereits bisher davon ausgegangen, dass ihm ein Wertungsspielraum zusteht, so dass nur deutlich schutzbedürftigere Arbeitnehmer mit Erfolg die Auswahl rügen können (Senat - 2 AZR 480/04 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 75 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 63; - 2 AZR 543/83 - BAGE 47, 80). Hiermit ist es nicht zu vereinbaren, eine Kündigung für sozial unwirksam zu erachten, die auch bei zutreffendem Verhalten des Arbeitgebers hätte ausgesprochen werden dürfen. In ähnlicher Richtung hat der Senat bereits am (- 2 AZR 1008/94 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 29 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 35) - allerdings anlässlich einer individuellen Abschlussprüfung bei der Sozialauswahl - entschieden, dass ein Arbeitgeber das Angebot eines sozial schutzwürdigeren und deshalb nicht zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmers berücksichtigen darf, für den Fall einer Weiterbeschäftigung seines zur Kündigung vorgesehenen Sohnes auf seinen Arbeitsplatz zu verzichten (vgl. Bröhl BB 2006, 1050, 1055).

cc) Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass bei Kündigungszugang nicht absehbar sei, ob bzw. welche der entlassenen Arbeitnehmer Klage erheben, so dass in diesem Zeitpunkt für jeden gekündigten Arbeitnehmer zumindest theoretisch die Möglichkeit bestehe, dass nach erfolgreichem Kündigungsschutzprozess gerade sein Arbeitsverhältnis fortgesetzt werde. Die in § 7 KSchG angeordnete Rückwirkung dient allein dazu, die Rechtsfolgen einer nicht (fristgerecht) erhobenen Kündigungsschutzklage im Verhältnis zwischen dem entlassenen Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber zu bestimmen, ohne jedoch anderen gleichzeitig entlassenen Arbeitnehmern rechtliche Vorteile einzuräumen (Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1145; ähnlich: Rieble NJW 1991, 65, 71). Vor allem aber kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Senats für die Beurteilung der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung auf den Zeitpunkt des Kündigungszugangs an (vgl. nur - 2 AZR 241/04 - BAGE 114, 258; - 2 AZR 365/04 -; - 2 AZR 48/03 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 64 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 128; - 2 AZR 260/01 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 121 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 121). Steht fest, dass - bezogen auf diesen Zeitpunkt - dem klagenden Arbeitnehmer bei Anwendung des Punktesystems auch ohne den Auswahlfehler zu kündigen gewesen wäre, so ist die Sozialauswahl zumindest "ausreichend", wie es das Gesetz vorschreibt.

dd) Nicht überzeugen kann auch der Einwand, die Ermittlung der nach § 1 Abs. 3 KSchG zu kündigenden Arbeitnehmer dürfe - wegen des individualrechtlichen Konzepts des KSchG - nicht durch die Arbeitsgerichte erfolgen; die Schaffung von Punktesystemen durch die Gerichte sei in Ermangelung einer Rechtsgrundlage unzulässig (vgl. Senat 24. März 1983 - 2 AZR 21/82 - BAGE 42, 151).

(1) Es geht jedoch in Fällen der vorliegenden Art nicht um die Berücksichtigung einer vom Gericht in den Prozess eingeführten Rangfolge, sondern um die Berücksichtigung der vom Arbeitgeber der Auswahl zugrunde gelegten und in den Prozess eingeführten schematisierten Bewertungsmaßstäbe. Das individualrechtliche Konzept des Kündigungsschutzgesetzes wird dadurch nicht verletzt: Dem Arbeitnehmer bleibt es unbenommen, darzulegen, welcher mit ihm vergleichbare und nicht gekündigte Arbeitnehmer sozial weniger schutzwürdig ist als er. Es ist nicht einzusehen und jedenfalls mit dem individualrechtlichen Konzept des Kündigungsschutzes nicht zu begründen, weshalb es dem Arbeitgeber - der ebenfalls Prozesspartei ist - verwehrt sein soll, auf den beschriebenen Vortrag des Arbeitnehmers zu erwidern, der Auswahlfehler berühre die Kündigungsentscheidung nicht und selbst wenn dem vom Kläger benannten Arbeitnehmer gekündigt worden wäre, hätte bei Zugrundelegung des die sozialen Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigenden Punkteschemas gleichwohl auch dem Kläger gekündigt werden müssen.

(2) Die individualrechtliche Konzeption des Kündigungsschutzprozesses gebietet nicht, zwar dem Arbeitnehmer die Berufung auf die stets aus der kollektiven Sphäre, nämlich dem Vergleich der Arbeitnehmer untereinander, stammenden Gesichtspunkte zu gestatten, dem Arbeitgeber jedoch die Bezugnahme auf eben dieselbe kollektive Sphäre mit der Begründung zu verweigern, es handele sich allein um das Verhältnis zwischen ihm und dem klagenden Arbeitnehmer. Richtig erscheint vielmehr, die vom Gesetz durch § 1 Abs. 3 KSchG ausdrücklich als berücksichtigungsfähig anerkannten kollektiven Gesichtspunkte insoweit zu berücksichtigen, als sie von beiden Parteien vorgetragen werden. Dies bedeutet, dass sich der Arbeitnehmer auf jeden Auswahlfehler berufen kann, ihm dies also nicht etwa von vornherein aus Gründen der Treuwidrigkeit versagt ist. Es bedeutet ferner, dass die Kündigung, wenn der Arbeitgeber dem Vortrag des Arbeitnehmers nicht entgegentritt, als sozial ungerechtfertigt anzusehen ist. Das Gericht ist also - und insofern ist an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten - nicht berechtigt, von sich aus eine Bewertung vorzunehmen und eine Reihenfolge zu erstellen. Allerdings ist der Arbeitgeber seinerseits berechtigt, aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn der gerügte Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre.

ee) Diese Lösung entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Senats, derzufolge es bei der Sozialauswahl nicht auf einen fehlerfreien Auswahlvorgang, sondern auf ein ausreichendes Auswahlergebnis ankommt ( - 2 AZR 580/88 -BAGE 62, 116; - 2 AZR 23/05 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 81 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 67; vgl. ErfK/Ascheid 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 464; HWK 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 386; KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 687). Der Arbeitgeber kann, wenn der Arbeitnehmer Tatsachen vorgetragen hat, die eine fehlerhafte Sozialauswahl vermuten lassen, durch geeigneten Gegenvortrag diese Vermutung ausräumen ( - EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 47). Dem entspricht es, Fehler, die das auf den klagenden Arbeitnehmer bezogene Auswahlergebnis nicht beeinflussen, unbeachtet zu lassen.

c) Nach diesen Grundsätzen ist die vorgenommene Sozialauswahl in Bezug auf den Kläger nicht allein deshalb zu beanstanden, weil Herrn H nach Feststellung des Landesarbeitsgerichts 5 Punkte zuviel zugemessen worden sind.

d) Die Beklagte ist auch nicht aus anderen Gründen gehindert, die Ordnungsgemäßheit der Sozialauswahl anhand des von ihr verwendeten Punktesystems aufzuzeigen.

aa) Das Punkteschema wird der vorliegend anzuwendenden Neufassung des § 1 Abs. 3 KSchG gerecht (vgl. Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1117a).

(1) Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hat der Arbeitgeber die sozialen Gesichtspunkte der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers ausreichend zu berücksichtigen. Ihm steht bei der Gewichtung der Sozialkriterien deshalb ein Wertungsspielraum zu (Senat - 2 AZR 549/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49). Dem Gesetzeswortlaut ist nicht zu entnehmen, wie die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt - auch für die ab geltende Fassung des KSchG, die insoweit identisch ist mit § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG in der Fassung des Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung (Arbeitsrechtliches Beschäftigungsförderungsgesetz 1996) -, keinem der im Gesetz genannten Kriterien eine Priorität gegenüber den anderen zu ( - 2 AZR 480/04 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 75 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 63; - 2 AZR 549/01 - aaO; 2. Dezember 1999 - 2 AZR 757/98 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 45 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 42). Diesem Maßstab genügt das von der Beklagten verwendete Schema, das einem vom Senat in den Entscheidungen vom (- 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34) und 5. Dezember 2002 (- 2 AZR 549/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49) unbeanstandet gelassenen System entspricht.

(2) Der Anwendbarkeit des Punkteschemas steht nicht entgegen, dass es keine abschließende Einzelfallbetrachtung der Beklagten vorsieht (vgl. zu diesem Erfordernis Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1117; APS/Kiel 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 728; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 13. Aufl. Rn. 475 alle unter Bezugnahme auf die zur früheren Rechtslage ergangenen Entscheidungen des Senats - 2 AZR 549/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49 und - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34). Nach der im vorliegenden Fall anwendbaren Neufassung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG muss der Arbeitgeber die vier im Gesetz ausdrücklich bezeichneten Grunddaten berücksichtigen. Ob er darüber hinaus andere Gesichtspunkte einbeziehen darf, ist dem Gesetz nicht unmittelbar zu entnehmen. Jedenfalls aber braucht der Arbeitgeber neben den vier im Gesetz vorgeschriebenen Kriterien keine weiteren zu berücksichtigen. Ein Punktesystem muss deshalb auch keine individuelle Abschlussprüfung mehr vorsehen (vgl. KR-Etzel 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 678k; Annuß Betriebsbedingte Kündigung und arbeitsvertragliche Bindung 2004 S. 193 ff.; Löwisch BB 2004, 154; wohl auch ErfK/Ascheid/Oetker 7. Aufl. Rn. 490, 491; HWK 2. Aufl. § 1 KSchG Rn. 367, 387; insoweit auch Bader/Bram/Dörner/Wenzel-Bram Stand August 2006 § 1 KSchG Rn. 325 f.; Backmeister/Trittin/Mayer KSchG mit Nebengesetzen 3. Aufl. § 1 KSchG Rn. 392 ff.).

bb) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt ein Punkteschema für die soziale Auswahl allerdings auch dann eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie dar, wenn es der Arbeitgeber nicht generell auf alle künftigen, sondern nur auf konkret bevorstehende betriebsbedingte Kündigungen anwenden will (vgl. 26. Juli 2005 - 1 ABR 29/04 - AP BetrVG 1972 § 95 Nr. 43). Dies führt jedoch mangels einer § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG entsprechenden Norm nicht zur Unwirksamkeit der in Anwendung des - nicht mitbestimmten - Punktesystems ausgesprochenen Kündigung ( -). Gerade das Fehlen einer solchen Unwirksamkeitsnorm ist einer der Gründe dafür, dem Betriebsrat einen Unterlassungsanspruch zu gewähren ( - aaO; vgl. Jacobs/Burger SAE 2006, 256). Solange aber der Betriebsrat einen insoweit gegebenen Verstoß gegen sein Mitbestimmungsrecht nicht geltend gemacht hat, ist es dem Arbeitgeber nicht verwehrt, sich auf das Punkteschema zu berufen. Im vorliegenden Fall hat der Betriebsrat im Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG offenbar lediglich allgemein darauf hingewiesen, das Punktesystem entspreche nicht den gesetzlichen Auswahlkriterien. Die Geltendmachung eines Mitbestimmungsrechts oder gar die Berufung auf eine deshalb gegebene Unanwendbarkeit des Punktesystems liegt darin nicht.

3. Da sich das Berufungsurteil weder aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 561 ZPO) und die Sache nicht entscheidungsreif (§ 563 ZPO) ist, war sie an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Insbesondere zur Frage, ob die Beklagte den Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer richtig bestimmt hat sowie zur Frage der Betriebsratsanhörung kann es weiterer Feststellungen bedürfen.

Fundstelle(n):
BB 2007 S. 1172 Nr. 21
BB 2007 S. 1393 Nr. 25
DB 2007 S. 1087 Nr. 19
NJW 2007 S. 2429 Nr. 33
NWB-Eilnachricht Nr. 47/2006 S. 3967
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2007 S. 4298
SJ 2007 S. 52 Nr. 16
StuB-Bilanzreport Nr. 5/2007 S. 202
YAAAC-45182

1Für die amtliche Sammlung: ja; Für die Fachpresse: nein