BAG Beschluss v. - 1 ABR 29/04

Leitsatz

[1] 1. Ein Punkteschema für die soziale Auswahl ist auch dann eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie, wenn es der Arbeitgeber nicht generell auf alle künftigen betriebsbedingten Kündigungen, sondern nur auf konkret bevorstehende Kündigungen anwenden will.

2. Verletzt der Arbeitgeber in einem solchen Fall das Mitbestimmungsrecht, kann ihm auf Antrag des Betriebsrats die Wiederholung des mitbestimmungswidrigen Verhaltens auf der Grundlage des allgemeinen Unterlassungsanspruchs gerichtlich untersagt werden.

Gesetze: BetrVG § 95

Instanzenzug: ArbG Hannover 13 BV 21/02 vom LAG Niedersachsen 16 TaBV 45/03 vom

Gründe

A. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Betriebsrat nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitzubestimmen hat, wenn die Arbeitgeberin der Sozialauswahl bei konkret anstehenden betriebsbedingten Kündigungen ein Punktesystem zugrunde legen will.

Die Arbeitgeberin betreibt ein Möbelhaus. Sie beschäftigt etwa 200 Arbeitnehmer. Am informierte sie den Betriebsrat über einen geplanten Personalabbau im Umfang von 14,44 (Vollzeit-)Stellen. Sie legte ihm hierbei Mitarbeiterlisten und ein Punkteschema für die Sozialauswahl bei den vorgesehenen Kündigungen vor. In der Folgezeit sprach sie unter Anwendung dieses Schemas betriebsbedingte Kündigungen aus.

Der Betriebsrat hat in dem danach eingeleiteten Beschlussverfahren die Auffassung vertreten, das von der Arbeitgeberin ausgearbeitete Punktesystem für die soziale Auswahl sei eine Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG. Sie dürfe ohne seine Zustimmung oder einen diese Zustimmung ersetzenden Spruch der Einigungsstelle nicht angewandt werden.

Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt,

der Arbeitgeberin zu untersagen, ohne seine Zustimmung oder eine die Zustimmung ersetzende Entscheidung der Einigungsstelle bei Kündigungen Punktesysteme anzuwenden, nach denen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird,

hilfsweise

festzustellen, dass er ein Mitbestimmungsrecht bei der Anwendung eines Punktesystems hat, nach dem bei betriebsbedingten Kündigungen die Sozialauswahl der zu kündigenden Beschäftigten vorgenommen wird.

Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge des Betriebsrats abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, ein Punktesystem, das lediglich die Sozialauswahl konkret anstehender betriebsbedingter Kündigungen steuern solle und keine Geltung für die Zukunft beanspruche, sei keine mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG.

Das Arbeitsgericht hat den - erstinstanzlich allein gestellten - Unterlassungsantrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat seine Anträge weiter.

B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist begründet. Er kann verlangen, dass die Arbeitgeberin bei der Sozialauswahl kein Punktesystem anwendet, dem er nicht zugestimmt hat. Ein derartiges Schema ist eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie. Da der Unterlassungsantrag Erfolg hat, war über den hilfsweise gestellten Feststellungsantrag nicht zu entscheiden.

I. Der Unterlassungsantrag ist zulässig.

1. Der Antrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er lässt ausreichend erkennen, was der Arbeitgeberin untersagt werden soll. Diese soll anlässlich betriebsbedingter Kündigungen bei der sozialen Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer die Anwendung eines Punktesystems unterlassen, das sie ohne - erteilte oder von der Einigungsstelle ersetzte - Zustimmung des Betriebsrats erstellt hat. Die Arbeitgeberin wendet ein Punktesystem dann an, wenn sie unter dessen Zugrundelegung aus einer Mehrzahl von Arbeitnehmern bestimmte Arbeitnehmer auswählt, um ihnen betriebsbedingt zu kündigen. Diese Entscheidung zeigt sich nach außen zB dann, wenn die Arbeitgeberin dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG oder dem Arbeitnehmer im Rahmen ihrer Auskunftspflicht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 2. Halbs. KSchG mitteilt, die Sozialauswahl sei entsprechend einem bestimmten Punkteschema erfolgt.

2. Die zum eingetretene Änderung des § 1 Abs. 4 KSchG stellte keine so wesentliche Änderung der entscheidungserheblichen rechtlichen Verhältnisse dar, als dass sie zweitinstanzlich zu einer Änderung des Streitgegenstands hätte führen können (vgl. dazu - BAGE 103, 304, 306, zu B I 2 der Gründe). Im Übrigen wäre der Senat nach § 81 Abs. 3 Satz 3, § 87 Abs. 2 Satz 3 2. Halbs. ArbGG andernfalls an die vom Landesarbeitsgericht nicht beanstandete Antragsänderung gebunden.

II. Der Unterlassungsantrag ist begründet. Der Betriebsrat hat einen Anspruch darauf, dass die Arbeitgeberin die Anwendung eines Punkteschemas auf die Sozialauswahl unterlässt, wenn er diesem nicht zugestimmt oder die Einigungsstelle seine Zustimmung ersetzt hat.

1. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist ein Punkteschema für die soziale Auswahl nicht nur dann eine nach § 95 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Auswahlrichtlinie, wenn es generell für alle künftig auszusprechenden Kündigungen gelten soll, sondern auch dann, wenn es nur einmalig für die Sozialauswahl bei den konkret anstehenden betriebsbedingten Kündigungen maßgeblich sein soll.

a) Nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bedürfen Richtlinien über die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen der Zustimmung des Betriebsrats. Auswahlrichtlinien sind nach der Rechtsprechung des Senats Grundsätze, die zu berücksichtigen sind, wenn bei beabsichtigten personellen Einzelmaßnahmen, für die mehrere Arbeitnehmer oder Bewerber in Betracht kommen, zu entscheiden ist, welchen gegenüber sie vorgenommen werden sollen. Ihr Sinn und Zweck ist es festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die betreffenden personellen Einzelmaßnahmen erfolgen sollen. Dadurch soll die jeweilige Personalentscheidung versachlicht und für die Betroffenen durchschaubar gemacht werden. Der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er und nicht ein anderer von einer ihn belastenden Personalmaßnahme betroffen wird oder warum eine günstige Maßnahme nicht ihn, sondern einen anderen trifft. Die Auswahl selbst ist Sache des Arbeitgebers. Die Richtlinien sollen lediglich seinen Ermessensspielraum durch die Aufstellung von Entscheidungskriterien einschränken. Sie dürfen ihn grundsätzlich nicht gänzlich beseitigen ( - 1 ABR 27/01 - BAGE 104, 187, 198, zu B III 3 a der Gründe mwN). Um diesen Anforderungen zu genügen, müssen Auswahlrichtlinien iSv. § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG abstrakt-generelle Grundsätze enthalten, welche die für die jeweilige personelle Auswahl maßgeblichen fachlichen, persönlichen oder sozialen Gesichtspunkte gewichten (vgl. etwa Kraft GK-BetrVG 7. Aufl. § 95 Rn. 11).

aa) Dies gilt grundsätzlich auch für Auswahlrichtlinien bei Kündigungen. Sie kommen in erster Linie für betriebsbedingte Kündigungen, bei denen eine (soziale) Auswahl zwischen mehreren Arbeitnehmern zu treffen ist, in Betracht (vgl. Kraft GK-BetrVG 7. Aufl. § 95 Rn. 35, 36 mwN; Richardi/Thüsing BetrVG 9. Aufl. § 95 Rn. 3). Zwar folgt bereits aus § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG, dass hierbei die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind. Gleichwohl verbleibt den Betriebsparteien zumindest hinsichtlich der Gewichtung dieser Gesichtspunkte ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum. Dies zeigt auch § 1 Abs. 4 KSchG, wonach - ua. - in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG festgelegt werden kann, wie die sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG im Verhältnis zueinander zu bewerten sind. Dabei bedarf die Frage, ob die Betriebsparteien bei einer derartigen Regelung frei oder ob sie auf Grund des mehrfach geänderten § 1 Abs. 4 KSchG (vgl. zur Gesetzesgeschichte Fitting 22. Aufl. § 95 Rn. 4) auf die Kriterien des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG festgelegt sind und ob Raum für eine abschließende Berücksichtigung individueller Besonderheiten des Einzelfalls verbleiben muss oder darf, im Streitfall keiner Entscheidung (vgl. dazu etwa DKK-Klebe 9. Aufl. § 95 Rn. 21 mwN; zur früheren Rechtslage: - BAGE 43, 357, 363, zu B II 1 der Gründe; - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34, 45, zu II 4 a bb der Gründe; - 2 AZR 549/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49, zu B III 2 der Gründe). Insbesondere kann hier dahinstehen, ob - etwa wegen § 1 Abs. 4 KSchG - bei einem zwischen den Betriebsparteien vereinbarten Punkteschema für die Sozialauswahl eine Ausnahme von dem Grundsatz gerechtfertigt ist, wonach Auswahlrichtlinien iSv. § 95 Abs. 1 Satz 1 BetrVG den Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers grundsätzlich nicht gänzlich beseitigen dürfen (vgl. - BAGE 104, 187, 198, zu B III 3 a der Gründe mwN).

bb) Ein solches Punkteschema ist auch dann eine Auswahlrichtlinie iSv. § 95 BetrVG, wenn es keine Geltung für alle künftig auszusprechenden Kündigungen beansprucht, sondern lediglich für konkret anstehende Kündigungen bestimmt ist. Ein solches Verständnis entspricht dem Wortlaut, dem systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

(1) Der Begriff der Richtlinie setzt allerdings eine gewisse Generalisierung voraus. Erforderlich ist daher ein über eine Einzelmaßnahme hinausgehender kollektiver Bezug. Dieser kollektive Bezug ist gegeben, wenn aus einer Mehrzahl vergleichbarer, für die jeweilige(n) Kündigung(en) in Betracht kommender Arbeitnehmer eine Auswahl zu treffen ist.

(2) Es entspricht auch dem gesetzlichen Gesamtzusammenhang, dass bereits ein für eine konkret anstehende Sozialauswahl maßgebliches Punkteschema eine Auswahlrichtlinie iSv. § 95 BetrVG darstellt. Das Vorliegen einer Richtlinie nach § 95 BetrVG ist (Tatbestands-)Voraussetzung ua. in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a KSchG, in § 1 Abs. 4 KSchG sowie in § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG. In all diesen Bestimmungen ist die - für den Arbeitnehmer oder den Arbeitgeber günstige - Rechtsfolge erkennbar nicht davon abhängig, dass das Punkteschema über die konkret anstehenden Kündigungen hinaus für alle künftigen Kündigungen Anwendung finden soll. Vielmehr würde durch ein solches Erfordernis die Anwendbarkeit dieser Vorschriften erheblich eingeschränkt und der mit ihnen verfolgte Zweck nicht mehr in vollem Umfang erreicht. Beispielsweise würde der Zweck des § 1 Abs. 4 KSchG verfehlt, wenn ein Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess erfolgreich einwenden könnte, die soziale Auswahl sei deshalb uneingeschränkt überprüfbar, weil ein zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbartes Punkteschema nur die konkret ausgesprochenen Kündigungen betreffe und daher keine Auswahlrichtlinie iSv. § 1 Abs. 4 KSchG sei.

Ein bei der Sozialauswahl angewandtes Punkteschema wird auch nicht etwa erst dadurch zu einer Auswahlrichtlinie iSv. § 95 BetrVG, dass der Arbeitgeber sich mit dem Betriebsrat darauf verständigt. Bei einer solchen Betrachtung würden Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolge des § 95 Abs. 1 BetrVG verwechselt. Auch wenn § 95 Abs. 1 BetrVG - anders als § 95 Abs. 2 BetrVG - dem Betriebsrat kein Initiativrecht verleiht, hängt dessen Mitbestimmungsrecht nicht davon ab, ob der Arbeitgeber bereit ist, ihn an der Erstellung der bei der personellen Auswahl anzuwendenden Grundsätze zu beteiligen.

(3) Ein anderes Verständnis widerspräche dem Sinn und Zweck der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 95 BetrVG. Diese bestehen neben der Gewährleistung von Durchschaubarkeit der Personalentscheidungen darin, dass der Betriebsrat im Interesse der Arbeitnehmer Einfluss nehmen kann, unter welchen fachlichen und persönlichen Voraussetzungen personelle Einzelmaßnahmen erfolgen sollen. Die Belegschaft hat ein schützenswertes Interesse daran, dass solche Maßnahmen nicht nur im Hinblick auf größtmögliche Effektivität, sondern auch unter Berücksichtigung persönlicher und sozialer Belange erfolgen und so als billig und angemessen empfunden werden können ( - BAGE 104, 187, 202, zu B III 3 c cc der Gründe mwN). Mit diesem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung wäre es nicht vereinbar, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats allein deshalb zu verneinen, weil sich das Punkteschema (nur) auf die soziale Auswahl bei konkret anstehenden Kündigungen bezieht. Auch hätte es andernfalls der Arbeitgeber in der Hand, das Mitbestimmungsrecht nach § 95 Abs. 1 BetrVG zu umgehen, indem er ein von ihm ständig angewandtes Punkteschema als gerade nur für die jeweils konkret anstehende Sozialauswahl maßgeblich deklariert.

(4) Eine teleologische Reduktion des Mitbestimmungsrechts nach § 95 Abs. 1 BetrVG ist weder geboten noch gerechtfertigt. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung eines Punkteschemas für die soziale Auswahl bei konkret beabsichtigten Kündigungen zu Verzögerungen führen kann, die nicht unerheblich über die für die Durchführung des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG erforderliche Zeitspanne hinausgehen. Wenn der Arbeitgeber der sozialen Auswahl ein Punktesystem zugrunde legen will - und ein solches wird gerade in größeren Betrieben bei umfangreicheren Kündigungsmaßnahmen häufig unumgänglich sein - muss er, sofern er mit dem Betriebsrat keine Einigung erzielt, gemäß § 95 Abs. 1 Satz 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen. Dies kann den Ausspruch der Kündigungen nicht unbeträchtlich verzögern. Doch wird die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt. Die Möglichkeit betriebsbedingter Kündigungen wird durch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Aufstellung generalisierender Grundsätze nicht beseitigt. Auch ist es dem Arbeitgeber unbenommen, mit dem Betriebsrat unabhängig von einem konkreten Anlass vorab Richtlinien über die Sozialauswahl bei künftig erforderlich werdenden betriebsbedingten Kündigungen zu vereinbaren. Trifft er keine Vorsorge und will er gleichwohl für konkret anstehende Kündigungen - ggf. auch um in den "Genuss" des § 1 Abs. 4 KSchG zu kommen - ein Punkteschema anwenden, muss er die mit der Mitbestimmung des Betriebsrats möglicherweise verbundene Verzögerung in Kauf nehmen.

b) Hiernach hat das Landesarbeitsgericht zu Unrecht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Festlegung eines Punktesystems für die soziale Auswahl verneint.

2. Die angefochtene Entscheidung erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Der Betriebsrat kann von der Arbeitgeberin die künftige Unterlassung des mitbestimmungswidrigen Verhaltens verlangen. Zwar sind die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht erfüllt. Der Betriebsrat kann sein Begehren aber auf den allgemeinen Unterlassungsanspruch stützen.

a) Die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG liegen nicht vor.

aa) Nach dieser Vorschrift kann der Betriebsrat bei groben Verstößen des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz beim Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber die Unterlassung bestimmter Handlungen aufzugeben. Ein grober Verstoß im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn es sich um objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzungen handelt. Auf ein Verschulden des Arbeitgebers kommt es dabei nicht an. Auch eine einmalige Pflichtverletzung kann einen groben Verstoß darstellen ( - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 105 = EzA BetrVG 1972 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 69, zu B II 2 b der Gründe mwN). An einer groben Pflichtverletzung fehlt es jedoch, wenn der Arbeitgeber in einer schwierigen und ungeklärten Rechtsfrage eine bestimmte, sich später als unzutreffend herausstellende Rechtsansicht vertritt (vgl. - BAGE 62, 314, 321 f., zu B III der Gründe; Oetker GK-BetrVG 7. Aufl. § 23 Rn. 172 mwN).

bb) Die Arbeitgeberin hat sich nicht grob pflichtwidrig verhalten. Zwar lässt sich die streitige Rechtsfrage recht eindeutig beantworten. Sie war allerdings nicht höchstrichterlich geklärt. Auch konnte sich die Arbeitgeberin für ihren Rechtsstandpunkt immerhin auf die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom (- 11 TaBV 90/94 - DB 1995, 2375) berufen.

b) Der Unterlassungsantrag ist auf Grund des dem Betriebsrat zur Verfügung stehenden allgemeinen Unterlassungsanspruchs begründet.

aa) Nach der Rechtsprechung des Senats kann dem Betriebsrat im Falle der Verletzung seiner Mitbestimmungsrechte unabhängig von § 23 Abs. 3 BetrVG ein allgemeiner Unterlassungsanspruch zustehen (vgl. grundlegend - 1 ABR 24/93 - BAGE 76, 364; vgl. auch Raab ZfA 1997, 183). Dieser beruht auf einer sich aus dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats iVm. § 2 BetrVG ergebenden Nebenpflicht des Arbeitgebers (vgl. - aaO, zu B III 1 der Gründe).

Allerdings führt nicht jede Verletzung von Rechten des Betriebsrats ohne weiteres zu einem Unterlassungsanspruch. Vielmehr kommt es auf die einzelnen Mitbestimmungstatbestände, deren konkrete gesetzliche Ausgestaltung und die Art der Rechtsverletzung an. Es ist daher nicht widersprüchlich, einen Unterlassungsanspruch bei Verstößen gegen § 87 BetrVG zu bejahen, ihn aber im Zusammenhang mit der Mitbestimmung bei bestimmten personellen Einzelmaßnahmen oder in wirtschaftlichen Angelegenheiten möglicherweise zu verneinen (vgl. -aaO).

bb) Unter Berücksichtigung der konkreten Ausgestaltung des dem Betriebsrat bei Auswahlrichtlinien für Kündigungen durch § 95 Abs. 1 BetrVG verliehenen Mitbestimmungsrechts ist bei dessen Verletzung ein allgemeiner Unterlassungsanspruch gegeben (so auch DKK-Klebe 9. Aufl. § 95 Rn. 32; Fitting 22. Aufl. § 95 Rn. 31; wohl auch Oetker GK-BetrVG 7. Aufl. § 23 Rn. 148; aA Raab ZfA 1997, 183, 229 f.). Dem Betriebsrat steht kein anderer wirksamer Weg zur Durchsetzung dieses Mitbestimmungsrechts zur Verfügung. Dessen Sicherung ist auch nicht auf andere Weise gewährleistet. Dem Arbeitgeber drohen für den Fall der Verletzung des Mitbestimmungsrechts - anders als etwa im Falle des § 102 BetrVG (vgl. § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) oder des § 111 BetrVG (vgl. § 113 Abs. 3 BetrVG) - keine Sanktionen. Auch gibt es - anders als etwa in den Fällen des § 99 BetrVG (vgl. § 101 BetrVG) - kein eigens für den Fall der Verletzung des Mitbestimmungsrechts vorgesehenes gesetzliches Verfahren. Die Regelung des § 23 Abs. 3 BetrVG steht dem allgemeinen Unterlassungsanspruch nicht entgegen. Das hat der Senat im Beschluss vom (- 1 ABR 24/93 - BA-GE 76, 364) im Einzelnen begründet. Hieran hält der Senat fest.

cc) Hiernach kann sich der Betriebsrat im Streitfall auf den allgemeinen Unterlassungsanspruch stützen. Die Arbeitgeberin hat sein Mitbestimmungsrecht nach § 95 Abs. 1 BetrVG durch die ohne seine Zustimmung erfolgte Aufstellung und Anwendung des Punkteschemas bei den betriebsbedingten Kündigungen Ende des Jahres 2002 verletzt. Damit ist das - jedenfalls beim allgemeinen Unterlassungsanspruch bestehende - Erfordernis der Wiederholungsgefahr erfüllt. Für diese besteht grundsätzlich eine tatsächliche Vermutung, wenn es bereits zu einer Verletzung des Mitbestimmungsrechts gekommen ist (vgl. etwa - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 105 = EzA BetrVG 1972 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 69, zu B II 2 a der Gründe).

Fundstelle(n):
BB 2005 S. 2819 Nr. 51
DB 2005 S. 2530 Nr. 46
NJW 2006 S. 1229 Nr. 17
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2005 S. 4018
ZIP 2005 S. 2080 Nr. 46
EAAAB-93307

1Für die Amtliche Sammlung: ja; Für die Fachpresse: nein