EuGH Urteil v. - 235/85

Notare und Gerichtsvollzieher im Rahmen ihrer Amtshandlungen - Mehrwertsteuerpflicht

Leitsatz

Das Königreich der Niederlande hat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 2 und Art. 4 Abs. 1, 2 und 4 der Richtline 77/388 verstoßen, indem es die Amtshandlungen der Notare und der Gerichtsvollzieher nicht der Mehrwertsteuer unterworfen hat.

Gesetze: RL 77/388/EWG Art. 4

Gründe

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich der Niederlande gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 2 und Artikel 4 Absätze 1, 2 und 4 der Sechsten Richtlinie (77/388) des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) verstoßen hat, indem es die Amtshandlungen der Notare und der Gerichtsvollzieher, die diese gegen ein Entgelt ihrer Auftraggeber vornehmen, nicht der Mehrwertsteuer unterworfen hat.

2 Wegen einer ausführlicheren Darstellung des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

3 Einleitend ist der Hinweis angebracht, daß es in diesem Rechtsstreit ausschließlich um die Erhebung der Mehrwertsteuer auf die von den Notaren und den Gerichtsvollziehern kraft Gesetzes verrichteten Amtshandlungen geht und die folgenden Ausführungen sich nur auf diesen Teil ihrer Tätigkeit beziehen.

Zum wirtschaftlichen Charakter der betreffenden Tätigkeiten

4 Nach Ansicht der Kommission sind die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden mehrwertsteuerpflichtig, da sie unbestreitbar selbständig, das heißt in keinerlei Unterordnungsverhältnis und in eigener rechtlicher Verantwortung, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, die als nachhaltige und entgeltliche Erbringung von Dienstleistungen anzusehen sei.

5 Dem hält der Beklagte entgegen, die Notare und die Gerichtsvollzieher übten keine Tätigkeit aus, für die die normalen Gesetze der Wirtschaft gälten, sondern erbrächten gegen eine gesetzlich festgelegte Vergütung Leistungen, die die Bürger aus Gründen des Gemeinwohls zwangsläufig in Anspruch nehmen müßten.

6 Bei der Entscheidung über die Frage, ob die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden für die von ihnen gegen Entgelt verrichteten Amtshandlungen mehrwertsteuerpflichtig sind, ist zu beachten, daß die Sechste Richtlinie den Anwendungsbereich für die Mehrwertsteuer sehr weit faßt, indem sie in Artikel 2, der die steuerbaren Umsätze betrifft, neben der Einfuhr von Gegenständen die im Inland gegen Entgelt ausgeführten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen nennt und in Artikel 4 Absatz 1 als Steuerpflichtigen definiert, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.

7 Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit umfaßt nach Artikel 4 Absatz 2 alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe.

8 Diese Definitionen zeigen klar, daß sich der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit auf einen weiten Bereich erstreckt, da er alle Dienstleistungen der freien Berufe erfaßt, und daß es sich dabei um einen objektiv festgelegten Begriff handelt, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird.

9 Angesichts der Weite des durch den Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit festgelegten Anwendungsbereichs, der alle freiberuflichen Tätigkeiten ohne Vorbehalt zugunsten der gesetzlich geregelten Berufe umfaßt, ist festzustellen, daß die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden, soweit sie nachhaltig und entgeltlich Dienstleistungen für Privatpersonen erbringen, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie ausüben.

10 Angesichts des objektiven Charakters des Begriffs der wirtschaftlichen Tätigkeit ist es unerheblich, daß die Tätigkeit der Notare und der Gerichtsvollzieher in der Wahrnehmung von Aufgaben besteht, die aus Gründen des Gemeinwohls vom Gesetz ihnen zugewiesen und geregelt worden sind. Nach Artikel 6 der Sechsten Richtlinie sind bestimmte kraft Gesetzes ausgeübte Tätigkeiten ausdrücklich der Mehrwertsteuerregelung unterworfen.

11 Die in Artikel 13 der Sechsten Richtlinie ausdrücklich unter anderem für bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten vorgesehenen Befreiungen von der Mehrwertsteuer und die den Mitgliedstaaten in Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit dem Anhang F eingeräumte Möglichkeit, während einer Übergangszeit bestimmte Umsätze, darunter die Dienstleistungen der Rechtsanwälte und anderer Angehöriger der freien Berufe, weiterhin zu befreien, zeigen klar, daß alle Dienstleistungen, die von den Angehörigen der freien und der diesen gleichgestellten Berufe gegen Entgelt erbracht werden, grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen.

Zur selbständigen Ausübung dieser Tätigkeiten

12 Nach Auffassung des Beklagten üben die Notare und die Gerichtsvollzieher selbst dann, wenn ihre Amtshandlungen wirtschaftliche Tätigkeiten darstellen sollten, keine selbständige Tätigkeit aus, da sie von der Krone ernannt würden, einer behördlichen Disziplinaraufsicht unterlägen und die Arbeitsbedingungen sowie das Arbeitsentgelt für die von ihnen verrichteten Amtshandlungen gesetzlich festgelegt seien.

13 Die Kommission hält dem entgegen, die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden übten ihre Tätigkeit für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung aus und stünden nicht in einem Unterordnungsverhältnis zu einem Arbeitgeber.

14 Artikel 4 Absatz 4 schließt alle diejenigen von der Besteuerung aus, die an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft. Jedoch ist festzustellen, daß die Notare und die Gerichtsvollzieher nicht in einem Unterordnungsverhältnis zum Staat stehen, da sie nicht in die öffentliche Verwaltung eingegliedert sind. Sie üben nämlich ihre Tätigkeit für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung aus, regeln in bestimmten, gesetzlich festgelegten Grenzen frei die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit und vereinnahmen das Entgelt selbst, das ihr Einkommen darstellt. Der Umstand, daß sie einer behördlichen Disziplinaraufsicht unterliegen, was auch bei anderen gesetzlich geregelten Berufen der Fall sein kann, rechtfertigt ebensowenig wie der Umstand, daß ihre Vergütungen gesetzlich festgelegt sind, die Annahme, daß sie sich gegenüber einem Arbeitgeber in einem Verhältnis der Unterordnung im Sinne des Artikels 4 Absatz 4 befinden.

15 Somit sind die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden insoweit mehrwertsteuerpflichtig im Sinne des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie, als sie selbständig eine wirtschaftliche Tätigkeit in Form der Erbringung von Dienstleistungen gegenüber Dritten ausüben, für die sie als Gegenleistung für eigene Rechnung eine Vergütung erhalten.

Zur Mehrwertsteuerbefreiung für Einrichtungen des öffentlichen Rechts

16 Zur Begründung seiner Auffassung macht der Beklagte schließlich noch geltend, die Notare und die Gerichtsvollzieher müßten, unterstellt, daß sie wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie ausübten, in den Genuß der in Artikel 4 Absatz 5 vorgesehenen Befreiung für Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelangen, da sie zu diesen zu zählen seien. Bei der Auslegung dieser Vorschrift sei nicht das formelle Kriterium der Organisationsform der ausgeübten Tätigkeiten zugrunde zu legen, sondern auf die Art dieser Tätigkeiten abzustellen; in dieser Hinsicht könne es keinen Zweifel geben, daß die Notare und die Gerichtsvollzieher Handlungen vornähmen, die ihrer Natur nach der öffentlichen Gewalt zuzurechnen seien.

17 Nach Ansicht der Kommission ist im Hinblick auf die grundsätzliche Ausgestaltung der Mehrwertsteuer als allgemeine und umfassende Verbrauchsteuer eine enge Auslegung des Artikels 4 Absatz 5 geboten; diese Befreiung gelte nur für von Einrichtungen des öffentlichen Rechts vorgenommene Handlungen, die einen Bezug zu den grundlegenden Befugnissen und Aufgaben der öffentlichen Gewalt aufwiesen, nicht aber für Tätigkeiten, die ihrer Natur nach auch von Privatpersonen in der Absicht, Gewinn zu erzielen, ausgeübt werden könnten.

18 Bei der Prüfung der Frage, ob die Notare und die Gerichtsvollzieher in den Niederlanden für ihre Amtshandlungen Steuerbefreiung nach Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie beanspruchen können, ist der Gesamtzusammenhang des durch die Sechste Richtlinie eingeführten gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zu beachten.

19 Wie bei der Untersuchung des Begriffs der wirtschaftlichen Tätigkeit festgestellt worden ist, ist die Richtlinie durch die Allgemeinheit ihres Anwendungsbereichs und durch den Umstand gekennzeichnet, daß alle Befreiungen ausdrücklich und eindeutig sein müssen.

20 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß Artikel 4 Absatz 5 eine Befreiung ausschließlich für Einrichtungen des öffentlichen Rechts vorsieht, und zwar nur für Tätigkeiten und Leistungen, die diesen Einrichtungen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen.

21 Untersucht man diese Vorschrift unter Berücksichtigung der Ziele der Richtlinie, so zeigt sich, daß für die Steuerbefreiung zwei Voraussetzungen nebeneinander erfüllt sein müssen, nämlich erstens die Ausübung von Tätigkeiten durch eine öffentliche Einrichtung und zweitens die Vornahme dieser Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt. Dies bedeutet zum einen, daß nicht alle Tätigkeiten der Einrichtungen des öffentlichen Rechts automatisch von der Steuer befreit sind, sondern nur solche, durch die eine spezifische Aufgabe im Rahmen der öffentlichen Gewalt wahrgenommen wird (siehe Urteil vom in der Rechtssache 107/84, Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1985, 2663). Zum anderen ergibt sich daraus, daß die Tätigkeit einer Privatperson nicht allein deswegen von der Mehrwertsteuer befreit ist, weil sie in der Vornahme von an sich der öffentlichen Gewalt vorbehaltenen Handlungen besteht.

22 Selbst wenn man somit unterstellt, daß die Notare und die Gerichtsvollzieher bei der Vornahme von Amtshandlungen aufgrund einer öffentlichen Bestallung Befugnisse der öffentlichen Gewalt ausüben, folgt daraus nicht, daß sie in den Genuß der Befreiung nach Artikel 4 Absatz 5 kommen könnten. Da sie nicht in die öffentliche Verwaltung eingegliedert sind, verrichten sie diese Tätigkeiten nicht als Einrichtung des öffentlichen Rechts, sondern üben sie in Form einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit im Rahmen eines freien Berufs aus.

23 Somit ist festzustellen, daß das Königreich der Niederlande gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 2 und Artikel 4 Absätze 1, 2 und 4 der Sechsten Richtlinie verstoßen hat, indem es die Amtshandlungen der Notare und der Gerichtsvollzieher, die diese gegen ein Entgelt ihrer Auftraggeber vornehmen, nicht der Mehrwertsteuer unterworfen hat.

Kosten

24 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung sind der unterliegenden Partei die Kosten aufzuerlegen. Da der Beklagte mit seinem Vorbringen unterlegen ist, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
XAAAC-43237