Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO (sog. Zwangsruhe)
1. Allgemeines
Ist die Steuer nicht vorläufig nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO festgesetzt, tritt insoweit „Zwangsruhe” kraft Gesetzes ein, wenn ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht (insbesondere BFH) wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer (anderen) Rechtsfrage anhängig ist und der Einspruch hierauf gestützt wird.
Der Umstand allein, dass ein Musterverfahren anhängig ist, reicht noch nicht zum Eintritt der „Zwangsruhe” aus. Der Steuerpflichtige muss nicht nur Einspruch eingelegt, er muss seinen Einspruch auch auf das anhängige Musterverfahren gestützt haben.
Wird festgestellt, dass in einer größeren Zahl von Fällen Einsprüche wegen eines Musterverfahrens eingelegt wurde, ist dies dem AO-Referat des BayLfSt anzuzeigen. Soweit es bei dem Musterverfahren um die Frage geht, ob ein Steuergesetz mit höherrangigem Recht vereinbar ist, sind Steuerfestsetzungen bis zum Ergehen einer Entscheidung der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder über die Aufnahme der Thematik im sog. „Vorläufigkeitskatalog” nicht für vorläufig zu erklären (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO).
2. Erteilung von Teil-Abhilfebescheiden und Teil-Einspruchsentscheidungen
Nach Eintritt der „Zwangsruhe”, die in den meisten Fällen nur einen Teil des Einspruchs erfasst, ist es geboten, den Einspruch hinsichtlich der Punkte, die nicht zum Ruhen geführt haben, weiter zu bearbeiten und diesbezüglich einen Teil-Abhilfebescheid oder nach entsprechender Ermessensausübung eine Teil-Einspruchsentscheidung (vgl. AEAO zu § 367 Nr. 6) zu erteilen. Gegen die Teil-Einspruchsentscheidung ist zur Weiterverfolgung des Rechtsbehelfs bezüglich des entschiedenen Teils Klage einzulegen; der Teil-Abhilfebescheid wird zum Gegenstand des ruhenden Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 AO).
Soweit im Veranlagungsbereich bereits bei Einspruchseinlegung der Antrag auf Ruhen des Verfahrens gestellt wird, ist die Überprüfung, ob ein Teil-Abhilfebescheid erlassen werden kann, noch von der Veranlagungsstelle vorzunehmen. Nach Erlass des Teil-Abhilfebescheids ist der Einspruch an die Rechtsbehelfsstelle abzugeben. Kommt der Erlass eines Teil-Abhilfebescheids nicht in Betracht, ist der Einspruch ungeachtet der „Drei-Monatsfrist” (vgl. DA-Allg Tz. III.6.2) an die Rechtsbehelfsstelle abzugeben. Vor der Abgabe des Einspruchs an die Rechtsbehelfsstelle hat die Veranlagungsstelle aber überschlägig noch zu prüfen, ob die angegebenen Ruhensgründe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO im Einzelfall überhaupt einschlägig sein können. Ist dies nicht der Fall, ist der Einspruchsführer darauf hinzuweisen und zur Rücknahme aufzufordern.
3. Überprüfung, ob Zwangsruhe eingetreten ist
Damit geprüft werden kann, ob die selbe Rechtsfrage Gegenstand sowohl des konkreten Einspruchsverfahrens als auch des anhängigen Musterverfahrens ist, muss der Einspruchsführer die strittige Rechtsfrage bzw. die in seinem Verfahren angewendete angeblich verfassungswidrige Regelung benennen. Er muss ferner darauf hinweisen, dass nach seiner Kenntnis hinsichtlich der Rechtsfrage bzw. der Norm ein Verfahren bei einem der in Frage kommenden Gerichte anhängig ist.
Zur Überprüfung, ob tatsächlich ein Musterverfahren anhängig ist, das die selbe Rechtsfrage zum Gegenstand hat, können Abfragen bei „juris online” durchgeführt werden. Lässt sich anhand dieser Abfrage nicht feststellen, dass das vom Einspruchsführer angeführte Musterverfahren tatsächlich anhängig ist, bzw. ist das Verfahren dem Finanzamt nicht aus der Fachliteratur bekannt, ist vom Einspruchsführer – ggf. fernmündlich – ein Nachweis über die Anhängigkeit (z.B. Benennung der Fundstelle in der Fachliteratur) zu verlangen.
4. Hinweis auf nicht eingetretene Zwangsruhe
Kann vom Einspruchsführer der Nachweis über die Anhängigkeit eines Musterverfahrens nicht erbracht werden bzw. kommt es nach Auffassung des Finanzamts nicht auf den Ausgang dieses Verfahrens an, ist der Einspruchsführer unter Angabe der maßgeblichen Gründe zu informieren und zur Rücknahme aufzufordern. Des weiteren ist er darauf hinzuweisen, dass die Rechtswidrigkeit der Ablehnung nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden kann (vgl. § 363 Abs. 3 AO). Wird trotz des Hinweises Einspruch gegen die Ablehnung des Antrags eingelegt, ist dieser als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung kann mit der Hauptsacheentscheidung verbunden werden.
5. Hinweis auf eingetretene Zwangsruhe
Ist eine „Zwangsruhe” kraft Gesetzes eingetreten, muss dies dem Einspruchsführer nicht mitgeteilt werden. Der Einspruchsführer kann aus dem Stillschweigen des Finanzamts schließen, dass das Einspruchsverfahren ruht. Es kann der Fall sein, dass sich ein Einspruchsführer nicht auf ein Musterverfahren beruft, obwohl ein solches Verfahren anhängig ist. Gleichwohl kann das Finanzamt ein Interesse am Ruhen des Verfahrens haben. Es empfiehlt sich in solchen Fällen, den Einspruchsführer anzuschreiben und ihn auf die Sachlage sowie darauf hinzuweisen, dass das Finanzamt – sofern sich der Einspruchsführer nicht gegenteilig äußert – davon ausgeht, dass er mit dem Ruhen des Verfahrens einverstanden ist.
6. Ende der Zwangsruhe
Mit dem rechtskräftigen Abschluss des Gerichtsverfahrens, auf das sich der Einspruchsführer gestützt hat, entfallen die Voraussetzungen für eine „Zwangsruhe”. Die Zwangsruhe endet insoweit „automatisch” (vgl. , BFH/NV 2007 S. 296 [1]).
Auch ein Einspruchsverfahren, das die Voraussetzungen für ein Ruhen nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO erfüllt, ist fortzusetzen, wenn der Einspruchsführer dies beantragt oder das Finanzamt dies dem Einspruchsführer mitteilt (sog. Fortsetzungsmitteilung). Dies gilt für alle Fälle der Verfahrensruhe gem. § 363 Abs. 2 AO (vgl. AEAO zu § 363, Nr. 3 Satz 2 und , BFH/NV 1999 S. 1587).
Der Antrag des Einspruchsführers auf Beendigung der Verfahrensruhe bedarf keiner Begründung. Er hat unmittelbar verfahrensgestaltende Wirkung, indem er das Ruhen des Verfahrens beendet.
Teilt die Finanzbehörde nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO die Fortsetzung eines ruhenden Einspruchsverfahrens mit, soll sie vor Erlass einer Einspruchsentscheidung den Beteiligten Gelegenheit geben, sich erneut zu äußern (vgl. AEAO zu § 363, Nr. 3 Satz 1). Die Fortsetzungsmitteilung ist stets zu begründen (, BFH/NV 2007 S. 296) [2]. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass Einwendungen hiergegen nur durch Klage gegen die noch zu erlassende Einspruchsentscheidung vorgebracht werden können (§ 363 Abs. 3 AO).
Bayer. Landesamt für Steuern v. - S 0622 - 14 St 41M
Fundstelle(n):
DB 2007 S. 889 Nr. 16
BAAAC-42644