Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der sog. Mindestbesteuerung
Gesetze: EStG § 2 Abs. 3; FGO § 69
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Antragsteller, zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Eheleute, erzielten in den Streitjahren 2001 und 2002 Einkünfte aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit sowie aus Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung. 2001 belief sich die Summe der positiven Einkünfte auf 1 605 311 DM; die Summe der negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung betrug 1 405 585 DM, davon Absetzung für Abnutzung (AfA) 725 721 DM. Im Jahr 2002 betrug die Summe der positiven Einkünfte 940 099 €, die Summe der negativen Einkünfte belief sich auf 658 985 €, die Höhe der AfA betrug 366 821 €. Die Steuerlast 2001 (Einkommensteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag) betrug 301 583 DM, die Steuerlast 2002 belief sich auf 183 744 € (Einkommensteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag).
Mit der Begründung, die sog. Mindestbesteuerung des § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) a.F. sei verfassungswidrig, wendeten sich die Antragsteller gegen die Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 vom 4. bzw. vom i.d.F. der Änderungsbescheide vom bzw. vom . Bei einer Saldierung der Einkünfte, wie dies der Rechtslage bis zum entsprochen habe und wieder ab dem entspreche, hätten sie mit einer Erstattung rechnen können. In den Streitjahren liege die Steuerlast im Ergebnis höher als ihre Einkünfte. Bei Anwendung der Mindestbesteuerung verbleibe ihnen nicht einmal das Existenzminimum, so dass ein Verstoß gegen das subjektive Nettoprinzip vorliege.
Den gleichzeitig mit Einlegung der Einsprüche gestellten Antrag, die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 auszusetzen, lehnte der Antragsgegner (das Finanzamt —FA—) mit Bescheid vom im Wesentlichen mit der Begründung ab, bei Ermittlung der Verluste seien neben den Schuldzinsen auch Abschreibungen in nicht unerheblicher Höhe berücksichtigt worden.
Den daraufhin beim Finanzgericht (FG) gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wies das FG als unbegründet zurück.
Mit der Beschwerde machen die Antragsteller geltend, angesichts der massiven vom Bundesfinanzhof (BFH) gegen die Verfassungsmäßigkeit der Norm vorgebrachten Argumente, insbesondere der Schwere des Eingriffs in den Schutzbereich der Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 14, Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 des Grundgesetzes (GG), gewichte das FG bei der Interessenabwägung unzutreffend zu ihren Lasten.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur Anordnung einer Aussetzung der Vollziehung.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aussetzen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. dazu , BFHE 208, 213, BStBl II 2005, 287, m.w.N.).
2. Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der für die Besteuerung hier maßgeblichen Vorschrift des § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG a.F. ergeben sich aus dem (BFH/NV 2006, 2351), mit dem der BFH eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber eingeholt hat, ob § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/ 2000/2002) wegen Verletzung des Grundsatzes der Normenklarheit (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG) verfassungswidrig ist. Zur Vermeidung weiterer Wiederholungen verweist der Senat im Einzelnen auf die Ausführungen in diesem Beschluss.
a) Rechtschutz im Wege der Aussetzung der Vollziehung kann nach ständiger Rechtsprechung auch bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine einem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtsnorm gewährt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom XI B 68/02, BFHE 201, 14, BStBl II 2003, 341, und vom IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405).
b) Aus den ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm folgen im Streitfall auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide.
3. Die Antragsteller haben auch ein berechtigtes Interesse an der Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide. Ihr verfassungsrechtlicher Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) tritt nicht hinter das öffentliche Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft zurück.
Die ständige Rechtsprechung des BFH hält bei ernstlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer Rechtsnorm bislang ein berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für erforderlich. Geboten ist danach eine Interessenabwägung zwischen der einer Aussetzung der Vollziehung entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine Aussetzung der Vollziehung sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Beschlüsse vom III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II 1988, 134; vom XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18; vom X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; vom VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031, m.w.N.; vom VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567; vom III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, m.w.N., und vom IX B 16/03, BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663). Im Schrifttum wird diese vom BVerfG gebilligte Rechtsprechung (BVerfG-Beschlüsse vom 1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform —StRK—, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283; vom 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 1992, 726) zwar kritisiert (vgl. Seer, Steuer und Wirtschaft —StuW— 2001, 3, 17 f.; derselbe in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97; Drüen, Finanz-Rundschau —FR— 1999, 289; a.A. Klaus J. Wagner, Über effektiven vorläufigen Rechtsschutz im finanzgerichtlichen Verfahren, Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, 735, 751 ff.; Gosch in Beermann/Gosch, FGO § 69 Rz 132, 180, m.w.N.). Auch die finanzgerichtliche Rechtsprechung hat die staatlichen Haushaltsinteressen bei der Abwägung zunehmend zurückgestellt (vgl. die diversen Nachweise bei Seer in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 69 FGO Rz 96). Der Senat kann indes offenlassen, ob er dem folgt, denn im Streitfall jedenfalls fällt die Interessenabwägung zugunsten der Antragsteller aus.
a) Ein sofortiger Vollzug der angefochtenen Einkommensteuerbescheide würde den nach Auffassung des XI. Senats des BFH (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 2351) nicht zu rechtfertigenden Verstoß gegen den Grundsatz der Normenklarheit konkretisieren und verfestigen, obwohl die Nichthandhabbarkeit der Norm trotz Einsatzes elektronischer Datenverarbeitung letztlich mit zur Aufhebung der Regelung über die sog. Mindeststeuer ab dem Veranlagungszeitraum 2004 geführt hat (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 2351). Das hat zur Folge, dass gerade diejenigen Steuerpflichtigen, die —wie hier— von der sog. Mindeststeuerregelung betroffen werden, durch den Vollzug der Norm einen spezifischen Verfassungsverstoß erfahren.
b) Überwiegende öffentliche Belange, die es rechtfertigen könnten, den Rechtsschutzanspruch der Antragsteller zurückzustellen, sind dagegen nicht erkennbar. Insbesondere das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft ist im Streitfall nicht so gewichtig, um das Interesse der Antragsteller hintanzusetzen. Zum einen galt die sog. Mindeststeuerregelung nur für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2003, weil nicht zuletzt die schwere Handhabbarkeit der Norm mit zur Aufhebung der Mindeststeuerregelungen ab dem Veranlagungszeitraum 2004 geführt hat (vgl. BTDrucks 15/1518, S. 13). Zum anderen betrifft die Norm nur Steuerpflichtige, die bestimmte Einkunftsgrenzen erreichen, erfasst hingegen nicht typische „Massenverfahren”, die erhebliche Breitenwirkung haben, weil fast alle Steuerpflichtige von einer zu beurteilenden Regelung betroffen sind. Da selbst die Finanzverwaltung in den Fällen, in denen aufgrund der Fiktion eines verbliebenen Ertrags praktisch die Vorgaben der Rechtsprechung des BVerfG zum Verbleiben des Existenzminimums unterlaufen werden, Aussetzung der Vollziehung gewährt (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 2351, m.w.N.), ist nicht erkennbar, inwieweit hier das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft gefährdet sein könnte. Das gilt umso mehr, als für eine derartige Gefährdung nichts vorgetragen ist und es sich bei der sog. Mindeststeuerregelung um ausgelaufenes Recht handelt. Auf die weiteren vom FG und von den Antragstellern vorgetragenen Erwägungen kommt es daher nicht an.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NWB-Eilnachricht Nr. 37/2007 S. 3217
KAAAC-41001