BGH Urteil v. - 3 StR 396/06

Leitsatz

[1] Zum notwendigen Umfang der Prüfung, ob Tatsachen für den Richter des Ausgangsverfahrens erkennbar waren, und zu den Anforderungen an die Darstellung im Urteil.

Gesetze: StGB § 66 b Abs. 1; StGB § 66 b Abs. 2; StPO § 267 Abs. 1 Satz 1; StPO § 267 Abs. 3 Satz 1

Instanzenzug: LG Duisburg vom

Gründe

Das Landgericht hat gegen den Verurteilten nachträglich die Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Verurteilten. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Im Ausgangsverfahren hatte das Landgericht gegen den Verurteilten im September 2001 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren (Einzelstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren sechs Monaten) verhängt. Nach den Feststellungen hatte der Verurteilte im Zeitraum von 1995 bis 2000 mit seinen beiden, 1985 bzw. 1986 geborenen Töchtern jeweils den Geschlechtsverkehr vollzogen.

Nunmehr hat das Landgericht festgestellt, bei dem Verurteilten liege eine gefestigte und genuine Pädophilie vor, die sich - beginnend Anfang der neunziger Jahre - in einem Zeitraum von 15 Jahren entwickelt habe. Aufgrund dieser sexuellen Devianz habe der Verurteilte während der Strafverbüßung nicht nur weiterhin pädosexuelle Phantasien gehabt, sondern auch geplant, am 24. Sep-tember 2005 anlässlich eines Tags der offenen Tür in der Sozialtherapeutischen Anstalt ein Kind in seinen Haftraum zu locken und dort sexuell zu missbrauchen; an diesem Tag habe er Kontakt zu einem in Begleitung seiner Mutter in der Vollzugsanstalt befindlichen Kind aufgenommen, sich indes entfernt, als er sich von der Mutter beobachtet gefühlt habe. Diese im straflosen Vorbereitungsstadium gescheiterte Tat hat das Landgericht als neue Tatsache im Sinne von § 66 b Abs. 1 StGB angesehen. Es ist - sachverständig beraten - darüber hinaus davon ausgegangen, dass der Angeklagte einen Hang zu gleichartigen Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern habe und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.

2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht im Ergebnis rechtsfehlerfrei nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet.

a) Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt nach § 66 b Abs. 1 und 2 StGB u. a. voraus, dass nach einer Verurteilung wegen einer bestimmten Anlasstat und vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen.

Diesen "erkennbar werdenden" Tatsachen - in Literatur und Rechtsprechung durchweg als "neue" Tatsachen bezeichnet - kommt bei der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 b StGB eine zentrale Bedeutung zu. Sie sind nicht nur Voraussetzung dafür, dass ein Verfahren mit dem Ziel der nachträglichen Anordnung eingeleitet werden kann; in ihnen muss sich auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln (vgl. BGHSt 50, 275, 279).

Bei der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Bereits unabhängig von der Art ihrer Anordnung (§§ 66, 66 a oder 66 b StGB) ist die Sicherungsverwahrung die mit dem intensivsten Eingriff in das Freiheitsrecht verbundene Sanktion des Strafgesetzbuchs. Für die Maßregel nach § 66 b StGB kommt hinzu, dass sie den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein (BGHSt 50, 275, 278 m. w. N.; BVerfG [Kammer] StV 2006, 574 Rdn. 18). An die Annahme neuer Tatsachen sind deshalb strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; BVerfG aaO Rdn. 20).

Erkennbar sind Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist (BGHSt 50, 275), bzw. solche Tatsachen, die der Tatrichter nach dem Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO zur Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu erforschen hatte und bei hinreichender Aufklärung gefunden hätte (BGH NStZ-RR 2006, 172). Mit diesen Wendungen hat - in den Worten des Bundesverfassungsgerichts - die Rechtsprechung den Begriff der neuen Tatsachen "dahin konkretisiert, dass die Tatsachen dem letztinstanzlich zuständigen Gericht im Ausgangsverfahren auch nicht bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht hätten bekannt werden können" (BVerfG aaO Rdn. 20). Als Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht tauglich sind deshalb Tatsachen, für die es im Ausgangsverfahren Anhaltspunkte gegeben hat, die aber damals vom Gericht unbeachtet geblieben sind.

Auf diese Konsequenz für ein eventuelles Folgeverfahren nach § 66 b StGB muss im Übrigen bereits im Ausgangsverfahren Bedacht genommen werden: Aus vermeintlicher Rücksichtnahme auf Zeugenbelange darf dort eine ausreichende Aufklärung des Sachverhalts nicht unterbleiben. Dies gilt auch bei einer Verständigung über das Verfahrensergebnis, die eine Einschränkung der Sachaufklärung nicht zulässt (vgl. BGHSt 50, 40, 49).

b) Der zur Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung berufene Richter muss deshalb prüfen, ob das Gericht im Ausgangsverfahren seiner Pflicht zur Aufklärung von Tatsachen nachgekommen ist, deren Kenntnis Anlass gegeben hätte, die Sicherungsverwahrung schon damals näher zu prüfen und ggf. anzuordnen. Eine Tatsache, die zum Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens schon bestanden hat, darf er nur dann als neu ansehen und auf sie die Anordnung nach § 66 b StGB stützen, wenn er die Überzeugung gewinnt, dass damals insofern nicht gegen § 244 Abs. 2 StPO verstoßen worden ist. Dies kann nur auf der Grundlage der Kenntnis aller relevanten Einzelheiten des Ausgangsverfahrens beurteilt werden. Das Gericht kann sich deshalb nicht darauf beschränken, allein das ursprüngliche Urteil daraufhin zu untersuchen, ob die Tatsache in ihm schon Erwähnung gefunden hat. Vielmehr muss sich der neue Richter die Kenntnis der Akten des Ausgangsverfahrens verschaffen und sich so in den Stand versetzen, den der Richter damals hätte haben können.

Alle Umstände, die für die Beurteilung der Neuheit einer Tatsache von Bedeutung sind, müssen im Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden. Da es sich nicht um Verfahrensvoraussetzungen, sondern um die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel handelt, müssen sie ggf. im Strengbeweisverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dem Verurteilten steht die Möglichkeit offen, durch Beweisanträge darauf hinzuwirken, dass sich das Gericht eine für ihn günstige Überzeugung von der bereits zum Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens bestehenden Erkennbarkeit von Tatsachen bildet.

c) Für die Darlegungspflicht im Urteil, mit dem die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet wird, ergibt sich daraus Folgendes: In entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, von denen das Gesetz in § 66 b StGB die Anordnung der Maßregel abhängig macht. Mit Blick auf die Voraussetzung "neue Tatsachen" und die dargelegte Auslegung dieses Merkmals müssen deshalb grundsätzlich diejenigen Umstände mitgeteilt werden, deren Kenntnis für die Beurteilung erforderlich ist, ob die jetzt als neue Tatsachen angenommenen Umstände dem Richter des Ausgangsverfahrens erkennbar waren (so auch BGHSt 50, 180, 187: Darlegung des erkennbaren Gefährlichkeitssachverhalts). Was daraus konkret für den Einzelfall folgt, hängt von den diesen bestimmenden Umständen ab.

Jedenfalls dann, wenn die jetzt als neue Tatsachen gewerteten Fakten aus nachträglicher Sicht im Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung tatsächlich schon vorhanden waren, aber nicht erkannt worden sind, werden regelmäßig nähere Darlegungen notwendig sein, warum sie für das Ausgangsgericht nicht erkennbar waren. Dagegen werden sich entsprechende Darlegungen erübrigen, wenn die neuen Tatsachen erst nach der ersten Entscheidung entstanden sind und somit eine damalige Erkennbarkeit gar nicht in Frage steht. Für einen solchen Fall wird es ausreichen, dass in dem Urteil ausgeführt wird, es handele sich um neue Tatsachen. Eine über die Mitteilung des Ergebnisses der Prüfung hinausgehende Darstellung der Einzelheiten dieser Prüfung bedarf es dann nicht.

d) Die Annahme, es lägen neue Tatsachen vor, hält hier im Ergebnis rechtlicher Überprüfung Stand. Das Urteil leidet auch nicht unter einem durchgreifenden Darstellungsmangel.

aa) Das Landgericht hat allerdings für seine Entscheidung insoweit einen unzutreffenden Ausgangspunkt gewählt, als es den Vorfall in der Vollzugsanstalt während des Tags der offenen Tür als neue Tatsache angesehen hat. Das Bemühen des Verurteilten, zum Zweck des sexuellen Missbrauchs Kontakt mit einem Kind zu bekommen, war indes nach der auf sachverständiger Beratung beruhenden Überzeugung des Landgerichts nur Ausdruck der gefestigten und genuinen Pädophilie, die sich über einen Zeitraum von 15 Jahren bei dem Verurteilten entwickelt und demzufolge auch schon im Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens - zumindest im Ansatz - bestanden hat. Für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung kommt es deshalb darauf an, ob diese Störung der Sexualpräferenz (vgl. hierzu Dilling u. a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 F 65.4) für den Richter des Ausgangsverfahrens erkennbar war. Dabei ist nicht entscheidend, ob bei dem Verurteilten jetzt erstmals diese Diagnose gestellt worden ist, sondern vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits vorlagen und bekannt oder erkennbar waren (BGH StV 2006, 243; NStZ-RR 2006, 302).

bb) Das Urteil wird im Ergebnis auch den Darlegungsanforderungen gerecht. Es teilt zwar nur pauschal mit, dass die Entwicklung des Verurteilten nicht erkennbar gewesen sei, und nennt keine Einzelheiten über den Kenntnisstand des Richters im Ausgangsverfahren, die die Würdigung tragen könnten, dass Anknüpfungstatsachen für eine Pädophilie beim Verurteilten damals nicht erkennbar waren. Unter anderem wird auch nicht ersichtlich, ob der Verurteilte damals über sein Geständnis hinaus Angaben zu seinen sexuellen Präferenzen gemacht hat oder ob er einer psychiatrischen Begutachtung durch einen qualifizierten Sachverständigen unterzogen worden ist, bei der unter Anwendung entsprechender Untersuchungsmethoden ggf. weitergehende Erkenntnisse hätten gewonnen werden können (vgl. ThürOLG StV 2006, 640).

Das Fehlen dieser ausdrücklichen Darlegung gefährdet indes hier nicht den Bestand des Urteils. Der Senat kann dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen, dass auf eine gefestigte und genuine Pädophilie des Verurteilten hinweisende Anknüpfungstatsachen für den Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkennbar waren. Dies ergibt sich aus den Feststellungen zu den im Verlauf des Strafvollzugs über den Verurteilten abgegebenen Einschätzungen sowie zum Aussageverhalten des Verurteilten während seiner Inhaftierung. Danach hat ein Anstaltspsychologe im Mai 2002 die Delinquenz des Verurteilten als "typischen Missbrauch im leichter manipulierbaren familiären Nahbereich", als ein "pädosexuelles Verhalten" in "Erweiterung einer regelrechten und auf altersangemessene Partnerinnen ausgerichteten Praxis" eingeschätzt. Im August 2003 hielt eine Psychologin der Sozialtherapeutischen Anstalt das Rückfallrisiko für "nicht erheblich", da es keinen Befund gebe, "der die Diagnose eines pädophilen Täters rechtfertigen würde". Der Verurteilte hielt sich bei den Einzel- und Gruppensitzungen in der Anstalt zurück und musste zu mehr Offenheit ermuntert werden. Erst nachdem er an einer reaktiven Depression erkrankt und deshalb mit Antidepressiva behandelt worden war und Therapiegespräche mit einer Psychologin geführt hatte, offenbarte er "weitere Details aus seiner früheren Sexualbeziehung zu seiner Ehefrau und den beiden Töchtern". Zuletzt sprach er innerhalb der Therapie auch über seine fortbestehenden, auf Kinder fixierten sexuellen Phantasien und über die Kontaktaufnahme zu dem Jungen am Tag der offenen Tür. Diese Umstände waren bis dahin von Außenstehenden nicht bemerkt worden.

Diesen Feststellungen entnimmt der Senat, dass der Verurteilte während des Ausgangsverfahrens nicht bereit war, über das bloße Zugestehen der ihm von seinen Töchtern vorgeworfenen Missbrauchstaten hinaus von seiner Sexualität zu berichten. Die damals vorhandenen Anknüpfungstatsachen wären deshalb, auch wenn das Landgericht den Verurteilten damals besonders ausgiebig befragt oder einen Sachverständigen mit einer Exploration beauftragt hätte, nicht erkennbar gewesen.

3. Auch im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Verurteilten ergeben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 1148 Nr. 16
KAAAC-40577

1Nachschlagewerk: ja