Vorsteuerabzug im Billigkeitsweg; zu den Voraussetzungen einer Überraschungsentscheidung
Gesetze: UStG § 15; AO § 227; FGO § 115
Instanzenzug: FG des Landes Brandenburg Urteil vom 1 K 197/04
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, war mehrheitlich an der X-GmbH (GmbH) beteiligt. In den Streitjahren (1993 und 1995) zahlte die Klägerin einen als Mietzuschuss bezeichneten Betrag von 180 000 DM netto (1993) bzw. 160 000 DM netto (1995) an die GmbH. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) versagte der Klägerin nach einer steuerlichen Betriebsprüfung den Vorsteuerabzug mit der Begründung, den Zahlungen habe kein Leistungsaustausch zugrunde gelegen.
Mit der Ladung vom zur mündlichen Verhandlung am wies das Finanzgericht (FG) darauf hin, dass zu prüfen sei, ob eine umsatzsteuerliche Organschaft vorgelegen habe.
Das FG wies die Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Vorsteuerabzug scheide aus, weil die Klägerin Organträger der GmbH gewesen sei. Bei den Leistungen der GmbH habe es sich deshalb um Innenumsätze gehandelt. Außerdem sei der Vorsteuerabzug zu versagen, weil die Leistungsbeschreibungen in den Abrechnungspapieren nicht ausreichend seien. Sie enthielten Beschreibungen wie „Mietzuschuss ...anlage” oder „Mietzuschuss gemäß Absprache”, die nicht zur Identifizierung der Leistung geeignet seien.
Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision. Sie macht Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) geltend. Das FG habe nicht rechtzeitig mitgeteilt, dass es die Annahme einer Organschaft in Betracht ziehe. Außerdem sei eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Das Urteil des FG ziehe nicht die Konsequenzen aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom C-454/98, Schmeinck & Cofreth und Manfred Strobel (Slg. I 2000, 6973). Außerdem sei klärungsbedürftig und von grundsätzlicher Bedeutung, ob ihr, der Klägerin, zur Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes die Vorsteuer ggf. im Billigkeitswege zu gewähren sei. Die GmbH habe die Umsatzsteuer ordnungsgemäß abgeführt und eine Berichtigung sei nicht mehr möglich, da die GmbH 1996 in Konkurs gegangen sei.
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Nach § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
1. Die Klägerin rügt ohne Erfolg das Vorliegen von Verfahrensmängeln. Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind Verstöße des FG gegen Vorschriften des Verfahrensrechts. Ein Verfahrensmangel liegt zwar bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes —GG—), insbesondere durch Erlass einer verbotenen Überraschungsentscheidung vor. Das Urteil des FG stellt aber keine Überraschungsentscheidung dar. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen mussten. Vorliegend hat das FG die Beteiligten mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung nahezu zwei Monate vor deren Durchführung auf die seiner Ansicht nach in Betracht kommende Rechtsfrage der Organschaft hingewiesen. Das genügt zur Gewährung rechtlichen Gehörs.
Für eine schlüssige Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung wäre außerdem die substantiierte Darlegung erforderlich gewesen, was die Klägerin bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und inwiefern dieses Vorbringen möglicherweise zu einer anderen Entscheidung des Gerichts geführt hätte (, BFH/NV 2005, 1841). Hierzu fehlt es an einem Vortrag der Klägerin.
Schließlich kommt eine Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln auch deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht vorgetragen hat, dass sie den behaupteten Verstoß in der Vorinstanz gerügt habe bzw. aus welchen entschuldbaren Gründen sie an einer solchen Rüge vor dem FG gehindert gewesen sei. Ein derartiger Vortrag ist aber erforderlich, wenn —wie hier— die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wird, auf deren Beachtung der Betroffene verzichten kann (BFH-Beschlüsse vom VII B 1/00, BFH/NV 2000, 1125; vom II B 169/91, BFH/NV 1993, 258).
2. Im vorliegenden Fall ist eine Entscheidung des BFH nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 115 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alternative FGO). Eine die Rechtseinheit gefährdende Abweichung liegt nur vor, wenn das FG bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage seiner Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit den tragenden Rechtsausführungen in der Divergenzentscheidung nicht übereinstimmt (, BFH/NV 2005, 1832). Die Klägerin hat keine tragenden und abstrakten Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen des EuGH und des BFH andererseits herausgearbeitet und einander gegenübergestellt. Das wäre zur Geltendmachung einer Divergenz aber erforderlich gewesen (, BFH/NV 2001, 624).
3. Soweit die Klägerin geltend macht, grundsätzliche Bedeutung habe die Frage, ob ihr der Vorsteuerabzug ggf. im Billigkeitswege zu gewähren sei, liegt bereits eine grundsätzlich klärende Rechtsprechung des BFH vor (vgl. Beschluss vom V B 73/01, BFH/NV 2002, 1072, m. Nachw.); im Übrigen erschöpft sich die Bedeutung der Sache in der Entscheidung des konkreten Einzelfalls. Das reicht zur Annahme der grundsätzlichen Bedeutung nicht aus (, BFH/NV 2002, 1350).
4. Schließlich kann die Beschwerde auch deshalb keinen Erfolg haben, weil sich die Angriffe der Klägerin allein gegen die Begründung des FG, es habe Organschaft vorgelegen, richtet. Das FG hat aber sein Urteil auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt. Neben der Annahme von Innenumsätzen im Rahmen einer Organschaft ist das FG davon ausgegangen, dass der Vorsteuerabzug auch deshalb zu versagen gewesen sei, weil die Abrechnungspapiere nicht ordnungsgemäß gewesen seien. Stützt sich das Urteil des FG —wie hier— kumulativ auf mehrere Gründe, von denen jeder für sich das Entscheidungsergebnis trägt, muss hinsichtlich aller tragenden Begründungen ein Zulassungsgrund i.S. des § 115 Abs. 2 FGO geltend gemacht werden (BFH-Beschlüsse vom VII B 130/03, BFH/NV 2004, 215; vom V B 85/04, BFH/NV 2005, 712; vom III B 14/04, BFH/NV 2005, 667). Mit der Ordnungsmäßigkeit der Abrechnungspapiere setzt sich die Beschwerdebegründung der Klägerin aber nicht auseinander.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 245 Nr. 2
AAAAC-31828