Gleiche Besteuerung von Dividenden inländischer und nicht im Inland ansässiger Gesellschaften
Leitsatz
[1]Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 Absatz 1 EG) steht dem Recht eines Mitgliedstaats wie dem belgischen Steuerrecht nicht entgegen, das im Rahmen der Einkommensteuer die Dividenden im Gebiet dieses Staates ansässiger Gesellschaften und die Dividenden in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften einem gleichen einheitlichen Steuersatz unterwirft, ohne eine Anrechnung der im Wege der Quellensteuer in diesem anderen Mitgliedstaat erhobenen Steuer vorzusehen.
Gesetze: EG Art. 234; EG-Vertrag Art. 73b Abs. 1
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag (jetzt Artikel 56 Absatz 1 EG).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits von Herrn Kerckhaert und Frau Morres (im Folgenden: Eheleute Kerckhaert-Morres) gegen die Gewestelijke Directie Antwerpen I (im Folgenden: belgische Steuerbehörden) wegen deren Weigerung, ihnen den Pauschalanteil an ausländischer Steuer von 15 % anzurechnen, der in Artikel 19A Absatz 1 Unterabsatz 2 des zwischen Frankreich und Belgien am geschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Festlegung von Regeln über die gegenseitige Verwaltungs- und Rechtshilfe im Bereich der Einkommensteuer in der durch die am unterzeichnete Zusatzvereinbarung geänderten Fassung (im Folgenden: französisch-belgisches Abkommen) vorgesehen ist.
Das belgische Steuerrecht
Der Code des impôts sur les revenus (Einkommensteuergesetzbuch)
3 Nach Artikel 171 Absatz 3 des Einkommensteuergesetzbuchs (im Folgenden: Steuergesetzbuch) unterliegen Dividenden einem Steuersatz von 25 %.
4 Artikel 187 des Steuergesetzbuchs sah ursprünglich vor, dass für Einkünfte aus Aktien oder Anteilen und aus Investitionskapital, die im Ausland der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer oder der Steuer für Gebietsfremde unterlagen, die Steuer vorab um einen Pauschalanteil dieser ausländischen Steuer herabgesetzt wird.
5 Infolge von Gesetzesänderungen können natürliche Personen dieses Steuerguthaben nicht mehr beanspruchen, wenn sie Dividenden von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften beziehen, die aus Einkünften stammen, die bereits in diesem Staat der Einkommensteuer unterlagen, so dass diese Einkünfte mit der in diesem Staat abgezogenen Quellensteuer und mit einem Steuersatz von 25 % nach Artikel 171 Absatz 3 des Steuergesetzbuchs belastet sind.
Das französisch-belgische Abkommen
6 Das französisch-belgische Abkommen soll insbesondere Fälle von Doppelbesteuerung vermeiden, die die Erhebung von Einkommensteuer auf Einkünfte betreffen, mit der ein und dieselbe Person in Frankreich und in Belgien belastet wird.
7 Es sieht in Artikel 15 Absatz 3 vor:
"Die von einer in Frankreich ansässigen Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden, die in Frankreich ansässige Personen zur Inanspruchnahme eines steuerlichen Anrechnungsguthabens berechtigen würden, berechtigen auch eine in Belgien ansässige natürliche Person nach Abzug einer Quellensteuer auf die Bruttodividende zu einem Satz von 15 % zur Inanspruchnahme dieses Steuerguthabens, wobei die Bruttodividende aus dem Betrag der ausgeschütteten Dividende zuzüglich des Steuerguthabens besteht."
8 Nach Artikel 19A Absatz 1 des Abkommens würde dann, wenn Dividenden einer in Frankreich ansässigen Gesellschaft an eine in Belgien ansässige Person, die keine der Körperschaftsteuer unterliegende Gesellschaft ist, gezahlt werden, und diese Dividenden in Frankreich der Quellensteuer unterlagen, die Steuer, die in Belgien auf den nach Abzug der Quellensteuer netto verbleibenden Betrag erhoben wird, zum einen um die zum Normalsatz erhobene Quellensteuer und zum anderen um einen Pauschalanteil ausländischer Steuer, der nach im belgischen Recht festgelegten Bedingungen abzugsfähig ist, ermäßigt, wobei dieser Anteil nicht niedriger als 15 % des Nettobetrags sein darf.
Das Ausgangsverfahren und die Vorabentscheidungsfrage
9 Die Eheleute Kerckhaert-Morres, die in Belgien wohnen, bezogen in den Jahren 1995 und 1996 Dividenden von der in Frankreich ansässigen Eurofers SARL.
10 Ein Teil der Einkünfte entsprach dem steuerlichen Anrechnungsguthaben in Höhe von 50 % der ausgeschütteten Dividenden, das die französischen Steuerbehörden gemäß Artikel 15 Absatz 3 des französisch-belgischen Abkommens zum Ausgleich der Körperschaftsteuer zubilligten. Nach dieser Vorschrift steht dieses steuerliche Anrechnungsguthaben Einkünften aus Dividenden gleich. Die Bruttodividenden unterlagen in Frankreich der Einkommensteuer mit einer Quellensteuer von 15 %.
11 Die Eheleute Kerckhaert-Morres erklärten, von Eurofers SARL Einkünfte in Höhe von 34 566 204 BEF (856 873,81 Euro) für 1995 und in Höhe von 7 173 702 BEF (177 831,43 Euro) für 1996 erhalten zu haben. Sie beantragten in ihrer Einkommensteuererklärung, ihnen den in Artikel 19A Absatz 1 des französisch-belgischen Abkommens vorgesehenen Steuervorteil, der der französischen Quellensteuer entspricht, zu gewähren.
12 Da dieser Steuervorteil vom belgischen Gesetzgeber abgeschafft worden war, wurde ihr Antrag abgelehnt.
13 Die Eheleute Kerckhaert-Morres waren der Ansicht, dass die Weigerung, ihnen den betreffenden Steuervorteil zu gewähren, zur Folge habe, dass die Dividenden französischen Ursprungs einer höheren steuerlichen Belastung unterworfen würden als Dividenden in Belgien ansässiger Gesellschaften, und erhoben bei der Rechtbank van eerste aanleg te Gent Klage auf Aufhebung der Entscheidung der belgischen Steuerbehörden, mit der ihr Antrag abgelehnt worden war, wobei sie insoweit u. a. einen Verstoß gegen Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag geltend machten.
14 Da die Rechtbank van eerste aanleg te Gent der Auffassung ist, dass der bei ihr anhängige Rechtsstreit die Auslegung des Gemeinschaftsrechts erfordert, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 56 Absatz 1 EG (zur Zeit der streitigen Ereignisse: Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag) so auszulegen, dass eine Beschränkung verboten ist, die sich aus einer Vorschrift des Einkommensteuerrechts eines Mitgliedstaats (im vorliegenden Fall Belgiens) ergibt, wonach Dividenden in diesem Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften und Dividenden in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften dem gleichen einheitlichen Steuersatz unterworfen werden, ohne dass im letzteren Fall die Anrechnung der in jenem anderen Mitgliedstaat erhobenen Quellensteuer vorgesehen wird?
Zur Vorabentscheidungsfrage
15 Vorab ist daran zu erinnern, dass die direkten Steuern zwar nach ständiger Rechtsprechung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, diese ihre Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen (Urteile vom in der Rechtssache C-80/94, Wielockx, Slg. 1995, I-2493, Randnr. 16, vom in der Rechtssache C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Randnr. 32, vom in der Rechtssache C-334/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2004, I-2229, Randnr. 21, vom in der Rechtssache C-315/02, Lenz, Slg. 2004, I-7063, Randnr. 19, und vom in der Rechtssache C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Randnr. 19).
16 In den genannten Urteilen Verkooijen, Lenz und Manninen war der Gerichtshof der Auffassung, dass die Rechtsvorschriften der betreffenden Mitgliedstaaten die Einkünfte aus Dividenden im Wohnsitzmitgliedstaat des betroffenen Steuerpflichtigen ansässiger Gesellschaften und die Einkünfte aus Dividenden in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften ungleich behandeln, indem den Empfängern der letztgenannten Dividenden die den anderen Dividendenempfängern gewährten Steuervorteile verweigert werden. Er stellte fest, dass sich die Situation der Steuerpflichtigen, die Dividenden von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften erhalten, von der jener Steuerpflichtigen, die Dividenden von in dem Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes ansässigen Gesellschaften erhalten, nicht objektiv unterscheidet, und befand, dass die betreffenden Rechtsvorschriften eine Behinderung der im EG-Vertrag verankerten Freiheiten darstellen.
17 Entgegen dem Vorbringen der Eheleute Kerckhaert-Morres unterscheidet sich das Ausgangsverfahren jedoch von den Verfahren, die zu den genannten Urteilen geführt haben, weil das belgische Steuerrecht keine Unterscheidung zwischen den Dividenden in Belgien ansässiger Gesellschaften und den Dividenden in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften vornimmt, denn diese Dividenden werden nach dem belgischen Gesetz mit einem identischen Satz von 25 % zur Einkommensteuer herangezogen.
18 Außerdem kann dem Argument nicht gefolgt werden, dass sich die in Belgien wohnenden Aktionäre im vorliegenden Fall in einer unterschiedlichen Situation befänden je nachdem, ob sie Dividenden einer gebietsansässigen Gesellschaft oder einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft bezögen, so dass ihre identische Behandlung, d. h. die Anwendung eines einheitlichen Einkommensteuersatzes, eine Diskriminierung darstelle.
19 Zwar kann eine Diskriminierung nicht nur darin bestehen, dass unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden, sondern auch darin, dass dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird (vgl. Urteile vom in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnr. 30, und vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651, Randnr. 26). Hinsichtlich des Steuerrechts des Wohnsitzstaats wird die Stellung eines Aktionärs, der Dividenden bezieht, jedoch nicht notwendigerweise allein dadurch eine im Sinne dieser Rechtsprechung unterschiedliche, dass er diese von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft erhält und dieser Mitgliedstaat in Ausübung seiner Besteuerungsbefugnis diese Dividenden im Rahmen der Einkommensteuer mit einer Quellensteuer belegt.
20 Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles ergeben sich die nachteiligen Folgen, zu denen die Anwendung eines Systems der Besteuerung von Einkommen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende belgische Regelung führen könnte, daraus, dass zwei Mitgliedstaaten parallel zueinander ihre Besteuerungsbefugnis ausüben.
21 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, wie sie in Artikel 293 EG vorgesehen sind, dazu dienen, die negativen Wirkungen, die sich aus dem in der vorigen Randnummer dargestellten Nebeneinander nationaler Steuersysteme für das Funktionieren des Binnenmarktes ergeben, zu beseitigen oder abzumildern.
22 Das Gemeinschaftsrecht schreibt in seinem gegenwärtigen Stand und in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens in Bezug auf die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft keine allgemeinen Kriterien für die Verteilung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten untereinander vor. Abgesehen von der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6), dem Übereinkommen vom über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (ABl. L 225, S. 10) und der Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (ABl. L 157, S. 38) ist bis heute im Rahmen des Gemeinschaftsrechts keine Maßnahme der Vereinheitlichung oder Harmonisierung zum Zweck der Beseitigung von Doppelbesteuerungstatbeständen erlassen worden.
23 Folglich ist es Sache der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Situationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu vermeiden, indem u. a. die in der internationalen Besteuerungspraxis befolgten Verteilungskriterien verwendet werden. Dies ist im Wesentlichen die Zielsetzung des französisch-belgischen Abkommens, das in diesen Situationen eine Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Französischen Republik und dem Königreich Belgien vornimmt. Dieses Abkommen ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.
24 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 73b Absatz 1 EG-Vertrag dem Recht eines Mitgliedstaats wie dem belgischen Steuerrecht nicht entgegensteht, das im Rahmen der Einkommensteuer die Dividenden im Gebiet dieses Staates ansässiger Gesellschaften und die Dividenden in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Gesellschaften einem gleichen einheitlichen Steuersatz unterwirft, ohne eine Anrechnung der im Wege der Quellensteuer in diesem anderen Mitgliedstaat erhobenen Steuer vorzusehen.
Kostenentscheidung:
Kosten
25 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
JAAAC-19455
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg