Abwarten eines Musterverfahrens als zureichender Grund für Nichtbescheidung eines Einspruchs
Gesetze: FGO § 46, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 20
Instanzenzug:
Gründe
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist zu 1/3 Miterbe nach seinem am verstorbenen Vater (V). Das damals zuständige Finanzamt (FA) X setzte die Erbschaftsteuer gegen den Kläger mit Bescheid vom unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zunächst erklärungsgemäß fest.
Am erhöhte das FA X die Festsetzung. Hiergegen legte der Kläger am wegen zahlreicher Einzelpunkte Einspruch ein. Am selben Tag begann beim Kläger eine wegen der Erbschaftsteuerfestsetzung angeordnete Außenprüfung. Nach Abschluss der Außenprüfung setzte der Beklagte und Beschwerdegegner (das FA) die Erbschaftsteuer mit Bescheid vom weiter herauf.
Eine Einspruchsentscheidung gegen den Kläger ist bisher nicht ergangen. Allerdings erließ das FA am gegen Z, der zu 1/6 Miterbe nach V ist, eine Einspruchsentscheidung, gegen die Klage erhoben wurde. Im Verfahren des Z waren zunächst dieselben Rechtsfragen streitig wie im vorliegenden Verfahren; seit dem Erlass eines auf § 129 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheids gegen Z am geht es dort zusätzlich um Fragen der Anwendbarkeit des § 129 AO 1977, die vorliegend nicht von Bedeutung sind. Über die von Z erhobene Klage entschied das das Z mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen hat.
Auf die Bitte des Klägers um Erlass einer Einspruchsentscheidung auch in seinem Verfahren teilte das FA mit, das Verfahren des Z sei herausgegriffen worden, um es als Musterfall gerichtlich entscheiden zu lassen und unnötigen Verwaltungsaufwand sowie Kostenrisiken zu vermeiden. Bei der Bearbeitung der noch offenen Einsprüche des Klägers und zweier weiterer Miterben werde das rechtskräftige Ergebnis des Musterverfahrens berücksichtigt.
Daraufhin erhob der Kläger am Untätigkeitsklage, die das als unzulässig verwarf. Zur Begründung führte es aus, dem Kläger sei vor Erhebung der Untätigkeitsklage ein zureichender Grund für das Zurückstellen des Erlasses der Einspruchsentscheidung mitgeteilt worden. Das anhängige Musterverfahren stelle —auch ohne ein förmliches Ruhen oder eine Aussetzung des Verfahrens— einen solchen zureichenden Grund dar. Die im Musterverfahren zusätzlich zu beurteilenden Rechtsfragen zu § 129 AO 1977 brächten keine gravierenden Unterschiede in der Rechtslage mit sich.
Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen verfahrensfehlerhafter Anwendung des § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und wegen überlanger Verfahrensdauer.
Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Es stellt keinen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, dass das FG über die Klage durch Prozessurteil entschieden hat. Denn die Untätigkeitsklage war unzulässig, weil das FA dem Kläger vor Klageerhebung einen zureichenden Grund für die Zurückstellung der Entscheidung über den Einspruch mitgeteilt hatte (§ 46 Abs. 1 Satz 1 FGO; zur Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage in diesen Fällen , BFHE 105, 92, BStBl II 1972, 546).
Als „zureichender Grund” i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO kommt auch das Abwarten der noch ausstehenden Entscheidung in einem finanzgerichtlichen „Musterverfahren” in Betracht. Ein solches Musterverfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass dort dieselbe Streitfrage entscheidungserheblich ist wie in demjenigen Verfahren, in dem die Entscheidung über den Einspruch zurückgestellt werden soll (Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 46 FGO Rz. 140, Stand März 2005).
Vorliegend hat das FG das Verfahren des Z zu Recht als Musterverfahren für das vorliegende Verfahren angesehen. Über sämtliche materiell- und verfahrensrechtlichen Streitpunkte des Einspruchsverfahrens des Klägers war auch im Verfahren des Z zu entscheiden.
Die im letztgenannten Verfahren zusätzlich zu entscheidende Frage im Zusammenhang mit § 129 AO 1977 ändert bei wertender Betrachtung unter den besonderen Umständen des Streitfalls nichts am Charakter als Musterverfahren. Zum einen war diese Rechtsfrage nicht vorgreiflich in dem Sinne, dass —je nach ihrer Beurteilung— über die anderen, sich auch im vorliegenden Verfahren stellenden Rechtsfragen im Verfahren des Z möglicherweise gar nicht mehr zu entscheiden wäre. Entscheidend ist aber, dass die zusätzliche Rechtsfrage sowohl rechtlich als auch tatsächlich für das Verfahren des Z nur von ganz untergeordneter Bedeutung war. In tatsächlicher Hinsicht ging es insoweit um einen streitigen Steuerbetrag von lediglich 2 163 DM, der im Verhältnis zur insgesamt festgesetzten —und weitgehend streitigen— Steuer von ca.…Mio. DM als geringfügig anzusehen ist. In rechtlicher Hinsicht war die Zulässigkeit der Änderung nach § 129 AO 1977 unschwer zu bejahen, so dass wegen dieser Rechtsfrage auch keine zusätzliche Verzögerung der Entscheidung im Verfahren des Z zu erwarten war.
2. Die Rüge einer überlangen Verfahrensdauer ist nicht schlüssig erhoben, da in der Beschwerdebegründung nicht hinreichend dargelegt wird, worauf die lange Verfahrensdauer beruht (vgl. dazu auch , BFH/NV 2006, 799, unter 4.). Weil weder das Grundgesetz noch die Europäische Menschenrechtskonvention eine absolute Höchstgrenze für die Dauer von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren enthalten, kann sich die Beurteilung der Dauer eines Verfahrens als „überlang” nur aus einer zusammenfassenden Würdigung der unterschiedlichen Einflüsse ergeben, denen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren von innen und außen ausgesetzt sein können (zu den insoweit maßgebenden Kriterien —bezogen auf ein Zivilverfahren— vgl. etwa , Neue Juristische Wochenschrift 2004, 3320, unter B.II.2.a).
Der Kläger hat sich vorliegend auf einen Hinweis auf die absolute Dauer des Verwaltungsverfahrens beschränkt, aber keine Tatsachen dafür vorgetragen, die dem Senat die Vornahme einer zusammenfassenden Würdigung der maßgebenden Einflüsse auf die Verfahrensdauer ermöglichen würden. Aus den vorliegenden Verwaltungsakten ist lediglich der Ablauf des Einspruchsverfahrens seit dem Abschluss der Betriebsprüfung bis zur Erhebung der Untätigkeitsklage ersichtlich. Daraus ergibt sich, dass die Dauer dieses Verfahrensabschnitts von 3 1/2 Jahren darauf beruht, dass die Beteiligten zahlreiche schriftsätzliche Stellungnahmen auf jeweils hohem inhaltlichen Niveau ausgetauscht haben und der Kläger zusätzlich die Oberfinanzdirektion —mit den daraus resultierenden Berichtspflichten für das FA— eingeschaltet hat. Ein derartiger Verfahrensablauf ist aber —auch im Hinblick auf das Ausmaß der für derart intensive rechtliche Erörterungen naturgemäß benötigten Zeitdauer— ersichtlich nicht rechtsstaatswidrig, so dass für ein Entfallen des staatlichen Steueranspruchs unter dem Gesichtspunkt einer überlangen Verfahrensdauer kein Raum ist.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 2296 Nr. 12
KÖSDI 2006 S. 15304 Nr. 11
KÖSDI 2006 S. 15306 Nr. 11
VAAAC-17977