Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: GG Art 103 Abs 1; SGG § 62; SGG § 124; SGG § 103
Instanzenzug:
Gründe
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit einem sog Hand-Bike.
Der im März 1963 geborene Kläger leidet als Folge eines Autounfalls an einer Querschnittslähmung. Sein behandelnder Arzt verordnete ihm im Februar 1996 ein sog Hand-Bike. Hierbei handelt es sich um eine Handkurbel in Brusthöhe mit Kette oder Kupplungsgestänge zur Kraftübertragung auf die Räder des Rollstuhls, wodurch ein effektiverer Antrieb als mit den Greifreifen ermöglicht wird. Der Kläger verfügt über zwei handbetriebene Rollstühle. Der auf Veranlassung der Beklagten gehörte Medizinische Dienst kam zu dem Ergebnis, dass die beim Kläger bestehende Querschnittslähmung lediglich eine Gebrauchsunfähigkeit der Beine verursache; der Oberkörper sei nicht betroffen. Die Arme seien normal einsetzbar; eine Nutzung der vorhandenen Rollstühle sei uneingeschränkt möglich.
Mit Bescheid vom lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ).
Die hiergegen gerichtete Klage blieb in beiden Vorinstanzen erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <SG> vom , Urteil des Landessozialgerichts <LSG> vom ). Das LSG hat in Abwesenheit des Klägers verhandelt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei nicht verpflichtet, den Kläger mit dem von diesem begehrten Hand- bzw Rollstuhl-Bike zu versorgen. Ein solcher Gegenstand sei bei erwachsenen Versicherten nicht als Hilfsmittel iS des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) anzusehen. Die gesetzliche Krankenversicherung sei nicht verpflichtet, einen Behinderten durch die Bereitstellung von Hilfsmitteln in die Lage zu versetzen, Wegstrecken jeder Art und Länge zurückzulegen, die ein Nichtbehinderter zu Fuß bewältigen könne. Die Hilfsmittelversorgung des Versicherten beschränke sich lediglich auf einen Basisausgleich. Bezüglich des Grundbedürfnisses auf freie Bewegung in der eigenen Wohnung und in deren Nahbereich sei der Kläger durch die von der Beklagten zur Verfügung gestellten handbetriebenen Rollstühle hinreichend versorgt.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie einen Verstoß gegen § 124 und § 103 SGG. Darüber hinaus rügt er Verstöße gegen materiell-rechtliche Vorschriften des Krankenversicherungs- und Behindertenrechts. Das LSG habe die mündliche Verhandlung in seiner Abwesenheit durchgeführt, obwohl er vor Beginn der mündlichen Verhandlung per Mobiltelefon das Gericht darüber informiert habe, dass er in einem Stau stehe und deshalb nicht pünktlich erscheinen könne. Er habe am Telefon darum gebeten, mit dem Beginn der Verhandlung zu warten, bis er im Gericht eintreffe. Dadurch, dass das LSG in seiner Abwesenheit verhandelt und entschieden habe, habe es sein Recht auf Gehör verletzt. Es bestehe zumindest die Möglichkeit, dass das LSG bei ordnungsgemäßer Durchführung der mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Ihm sei die Möglichkeit genommen worden, einen Antrag auf Einholung eines Sacherständigengutachtens nach § 109 SGG zu stellen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen sowie das und den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Hand-Bike zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet.
Das Urteil des LSG ist verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen und war deshalb aufzuheben. Das LSG hat die mündliche Verhandlung in Abwesenheit des Klägers durchgeführt und anschließend entschieden, obwohl der Kläger rechtzeitig vor Beginn der mündlichen Verhandlung telefonisch mitgeteilt hatte, dass er sich wegen eines Verkehrsstaus kurzfristig verspäten würde. Hierdurch hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt. Dass der Spruchkörper keine Kenntnis davon hatte, dass sich der Kläger vor Beginn der mündlichen Verhandlung telefonisch bei einer Bediensteten des Gerichts gemeldet hatte, ist unerheblich. Der rechtssuchende Bürger kann darauf vertrauen, dass die Organisation eines Gerichts so beschaffen ist, dass telefonisch vorgebrachte Anträge auf Verlegung des Beginns einer zeitlich unmittelbar bevorstehenden mündlichen Verhandlung unverzüglich dem Vorsitzenden des Spruchkörpers zugeleitet werden. Dies ist vorliegend unterblieben; die Tatsache, dass der Kläger unmittelbar vor Beginn der festgesetzten Terminstunde mit einem Mobiltelefon eine telefonische Verbindung mit dem Gericht hatte, ist durch den Gesprächsnachweis seines Netzbetreibers erbracht. In dieser Situation ist nach aller Lebenserfahrung der von ihm geschilderte Inhalt des Telefongesprächs glaubwürdig.
Der Gesetzgeber des SGG hat als Mittel zur Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) den Grundsatz der mündlichen Verhandlung als eine der Prozessmaximen des sozialgerichtlichen Verfahrens ausgestaltet und den Beteiligten in § 124 Abs 1 SGG grundsätzlich einen Anspruch auf ihre Durchführung eingeräumt (vgl bereits BSGE 1, 277, 278; 17, 44, 46). Die Beteiligten haben daher ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung als dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (BSGE 44, 292, 293 mwN) zu erscheinen und dort mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Macht ein Beteiligter von seinem Teilnahmerecht keinen Gebrauch, so besteht für das Gericht grundsätzlich keine Verpflichtung, von sich aus noch (weitere) Gelegenheit zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu geben (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4). Das Gesetz nimmt damit insoweit auch die - aus "objektiver" Sicht - unverschuldete Nichtteilnahme am festgesetzten Termin und das Entfallen entsprechender Äußerungsmöglichkeiten ohne Verfassungsverstoß in Kauf (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33). Eine andere Wertung trifft das Gesetz jedoch für die Fälle, in denen einem Beteiligten die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung aus "erheblichen" und für das Gericht erkennbaren Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Hat ein Verfahrensbeteiligter alles in seinen Kräften Stehende und nach Lage der Dinge Erforderliche getan, um sich durch Wahrnehmung des Verhandlungstermins rechtliches Gehör zu verschaffen, ist er hieran jedoch ohne Verschulden verhindert, verbleibt dem Gericht kein Ermessensspielraum. Es muss die Durchführung der mündlichen Verhandlung vertagen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33).
Ob die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten und unter diesen Umständen einen absoluten Revisionsgrund darstellt oder einem absoluten Revisionsgrund iS des § 551 Nr 5 Zivilprozessordnung (ZPO) gleich zu stellen ist (so: BAG AP Nr 9 zu § 128 ZPO), kann hier dahin stehen, denn das Vorbringen des Klägers lässt die Möglichkeit erkennen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruht (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der Kläger macht insoweit vor allem geltend, dass er in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte, aus medizinischen Gründen auf die Nutzung des von ihm beanspruchten sog Hand-Bikes angewiesen zu sein, weil er wegen der bei ihm bestehenden Behinderungen gehindert sei, sich mit Hilfe der Greifreifen des vorhandenen Faltrollstuhls fortzubewegen, und die Benutzung eines Elektrorollstuhls andererseits kostenaufwändiger wäre. Zwar hat sich das LSG im angefochtenen Urteil im Ansatz mit diesem Einwand auseinander gesetzt, soweit er bereits schriftsätzlich vorgebracht bzw dem Akteninhalt zu entnehmen war. Dies schließt aber die Möglichkeit, dass es sich auf Grund des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung veranlasst gesehen hätte, den Sachverhalt weiter aufzuklären, und dass es danach zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, nicht aus; zumal der Kläger bereits vor der mündlichen Verhandlung einen Antrag nach § 109 SGG gestellt hatte, der allerdings noch einer weiteren Konkretisierung bedurfte. Da auf Grund des festgestellten Sachverhalts noch keine abschließende Entscheidung möglich war, war die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NAAAC-15359