Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: SGG § 136 Abs. 1 Nr. 6
Instanzenzug:
Gründe
I
Die Beteiligten streiten in der Sache über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU). Vorgreiflich geht es um die Frage, ob das Berufungsurteil mit einem Verfahrensmangel behaftet ist.
Den im September 1988 gestellten ersten Antrag des im Jahre 1954 geborenen Klägers auf Gewährung von Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, lehnte die Beklagte mit bindend gewordenem Bescheid vom ab. Den zweiten im September 1991 gestellten Rentenantrag lehnte sie mit Bescheid vom wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers ab. Dessen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom zurück, weil es noch ausreichende Verweisungstätigkeiten für den Kläger gebe.
Das Sozialgericht Duisburg (SG) hat mit Gerichtsbescheid vom die Klage wegen fehlender versicherungsrechtlicher Voraussetzungen abgewiesen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat mit Urteil vom die Berufung des Klägers gegen diesen Gerichtsbescheid im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen: Ein Anspruch auf Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, bestehe nicht, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Der für den Kläger maßgebende 60-Monatszeitraum - einen Leistungsfall der EU oder BU im September 1991 unterstellt - umfasse keine 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung. Pflichtbeiträge seien zuletzt von Februar bis April 1985 entrichtet worden. Einen Eintritt des Leistungsfalls vor September 1991, insbesondere zu einem Zeitpunkt, zu dem die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt gewesen seien, habe der Kläger nicht geltend gemacht, denn er habe am die auf Gewährung von EU bzw BU gerichtete Klage vor dem SG (S 11 J 14/90) zurückgenommen. Damit sei der entsprechende Bescheid (vom ) bestandskräftig geworden. Auch bei Annahme eines Leistungsfalls der EU oder BU nach dem seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision, mit der der Kläger einen Verstoß des LSG gegen § 136 Abs 1 Nr 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Das Urteil des LSG sei nicht mit Entscheidungsgründen versehen, weil es nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt und von den Richtern unterschrieben an die Geschäftsstelle übergeben worden sei. Das am verkündete Urteil hätte spätestens am schriftlich niedergelegt und von den Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle gegeben werden müssen. Dies sei nicht geschehen. Wie das LSG dem erkennenden Senat mit der Auskunft vom mitgeteilt habe, seien Tatbestand und Entscheidungsgründe erst am unterschrieben an die Geschäftsstelle übergeben worden.
Der Kläger beantragt,
das aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG. Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel - Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG - liegt vor. Obwohl das Berufungsurteil ausführliche Entscheidungsgründe enthält, ist es nicht iS des § 547 Nr 6 der Zivilprozessordnung (ZPO) idF des Gesetzes vom (BGBl I 1887), der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 SGG), mit Gründen versehen.
Nach § 134 Abs 2 Satz 1 SGG soll das Urteil bereits vor Ablauf eines Monats, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übergeben werden. Hierbei handelt es sich jedoch um eine so genannte Soll-Vorschrift; ein Verstoß gegen diese Vorschrift ist grundsätzlich unschädlich (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl, § 134 RdNr 4). Nach § 547 Nr 6 ZPO ist eine Entscheidung jedoch stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. Dem Fehlen von Gründen werden nach der Rechtsprechung auch die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgesetzt. Ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind (Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes SozR 3-1750 § 551 Nr 4; s auch BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5, 7; BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 5, 6 - jeweils zu der Vorgängervorschrift § 551 Nr 7 ZPO).
Vorliegend ist das Urteil des LSG auf die mündliche Verhandlung vom hin verkündet worden. Die schriftliche Niederlegung ist am erfolgt; das Urteil ist von der den Vorsitz führenden Richterin - zugleich für die beiden anderen an der Unterschriftsleistung verhinderten Richterinnen - am unterschrieben und an diesem Tag der Geschäftsstelle übergeben worden. Dies ergibt sich aus der Auskunft des und den vom LSG übersandten Unterlagen (Originalfassung des Urteils und Kopie des Verhandlungskalenders). Damit ist die Fünf-Monats-Frist eindeutig überschritten worden.
Der Kläger hat die Überschreitung der Fünf-Monats-Frist innerhalb der Revisionsbegründungsfrist gerügt. Diese Rüge ist auch wirksam erhoben worden. Grundsätzlich ist in der Revisionsbegründung das Datum der Niederlegung des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle als Tatsache nur dann hinreichend genau bezeichnet, wenn dieses Datum konkret benannt und auch dargelegt ist, dass diese Datumsangabe sich auf eigene Nachforschung stützt (BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 5, 6). Entsprechende Darlegungen dazu fehlen in der Revisionsbegründungsschrift. Der Kläger hat sich für die konkrete Bezeichnung des Datums, wann Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils an die Geschäftsstelle übergeben wurden, allein auf die vom erkennenden Senat im Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision eingeholte Auskunft des gestützt. Dies reicht zur konkreten Bezeichnung des gerügten Verfahrensmangels (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) aus.
Es ist dem Kläger vorliegend nicht verwehrt, sich zur Darlegung des Verfahrensmangels auf die vom erkennenden Senat eingeholte Auskunft zu stützen, wenn sich aus dieser Auskunft das Vorliegen des gerügten Verfahrensmangels ergibt. Diese Auskunft war vom Senat eingeholt worden, weil im vorangegangenen Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren der Kläger zwar ebenfalls diesen Verfahrensmangel gerügt hatte, es ihm trotz erfolgter Akteneinsicht aber nicht möglich war darzulegen, wann genau das Berufungsurteil niedergelegt und von den Richtern - im vorliegenden Fall nur von der den Vorsitz führenden Richterin allein - unterschrieben an die Geschäftsstelle gelangt war. Der Klägerbevollmächtigte hatte lediglich aufgrund anderer Vermerke in der ihm bei der Akteneinsicht vorgelegten Akte dartun bzw vermuten können, dass das Berufungsurteil erst nach Ablauf der Fünf-Monats-Frist unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt sein könne. Die definitive Klärung durch Einsicht in das Original des Berufungsurteils mit dem entsprechenden Originalvermerk und die Einsicht in den Verhandlungskalender waren ihm trotz der beantragten und gewährten Akteneinsicht nicht ermöglicht worden. Nachdem aufgrund der vom Senat eingeholten Auskunft vom feststeht, dass die Fünf-Monats-Frist tatsächlich überschritten worden ist - und zwar schon zum Zeitpunkt der Niederschrift des Urteils -, braucht der Kläger nun nicht mehr näher auszuführen, dass ihm selbst bei Akteneinsicht diese Kenntnisnahme nicht möglich war, obwohl er davon hatte ausgehen dürfen, dass ihm auf sein Akteneinsichtsgesuch hin alle verfahrensrelevanten Vorgänge vorgelegt worden seien.
Grundsätzlich ist ein Gericht gehalten, bei Gewährung von Akteneinsicht alle das Verfahren betreffenden Akten und Aktenteile vorzulegen oder zumindest darauf hinzuweisen, dass außerhalb der Akten noch weitere Unterlagen vorliegen. Denn alle das Verfahren betreffenden Unterlagen, soweit sie nicht unter die Ausnahmevorschrift des § 120 Abs 4 SGG fallen, gehören zu den Akten (zum Begriff der Akten s Meyer-Ladewig, aaO, § 120 RdNr 3; Roller in Binder/Bolay ua, SGG-Handkomm, 1. Aufl, § 120 RdNr 2; Knittel in Hennig, SGG-Komm, § 120 RdNr 3), auch wenn bestimmte Unterlagen, wie zB Urschriften von Urteilen, gesondert aufbewahrt werden (Zeihe, SGG-Komm, § 120 RdNr 4 unter Hinweis auf RG JW 1898, 183, wo aber eine entspr Äußerung nicht zu finden ist). Ein Beteiligter ist bei der Anbringung seines Akteneinsichtsgesuchs nicht gehalten, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ihm alle das Verfahren betreffenden und etwa getrennt aufbewahrten Schriftstücke vorgelegt werden, sondern er darf davon ausgehen, dass bei einer uneingeschränkt beantragten und gewährten Akteneinsicht die Akten vollständig vorgelegt werden und weitere Unterlagen nicht vorhanden sind. Dies muss vor allem dann gelten, wenn - wie hier - die Akten offenkundig deshalb nach Abschluss des Verfahrens eingesehen werden, um eventuelle Verfahrensfehler aufdecken zu können. Vorliegend war dem Bevollmächtigten des Klägers nach Abschluss des Berufungsverfahrens uneingeschränkte Akteneinsicht gewährt worden. Mit dem Vorhandensein von getrennt aufbewahrten Sammelordnern brauchte er dementsprechend nicht zu rechnen und er war daher auch nicht gehalten, sein Akteneinsichtsgesuch ausdrücklich hierauf zu erstrecken, zumal in der vom Kläger eingesehenen Berufungsakte kein Hinweis auf die Existenz weiterer das Berufungsverfahren betreffender Unterlagen enthalten ist.
Da auch dem erkennenden Senat eine Überprüfung der Einhaltung der Fünf-Monats-Frist aufgrund der vom LSG übersandten Berufungsakten allein nicht möglich und das Vorhandensein weiterer Unterlagen nicht bekannt war, sah er sich veranlasst, im Beschwerdeverfahren die unter dem erteilte Auskunft einzuholen, aus der sich ganz zweifelsfrei das Überschreiten dieser Frist ergibt. Zur Geltendmachung des Vorliegens dieses Verfahrensmangels genügt nach diesem Verfahrensablauf der Hinweis des Klägers auf diese Auskunft vom . Eine Wiederholung seines Vorbringens aus dem Beschwerdeverfahren über seine Bemühungen, das exakte Datum der Übergabe des abgefassten und unterschriebenen Urteils an die Geschäftsstelle zu erfahren, wäre ein übertriebener Formalismus, nachdem nunmehr für alle Beteiligten und das Revisionsgericht eindeutig geklärt ist, dass der gerügte Verfahrensfehler vorliegt.
Es kann dahinstehen, ob das Fehlen der Entscheidungsgründe iS des § 547 Nr 6 ZPO als unbedingter (absoluter) Revisionsgrund immer zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung führt. Das Bundessozialgericht (BSG) ist zwar wiederholt davon ausgegangen, dass es sich bei einem Verstoß gegen den früheren - im Wesentlichen gleichlautenden - § 551 Nr 7 ZPO um einen absoluten Revisionsgrund handelt (BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5, 7), so dass es weiterer Ausführungen des Revisionsklägers zu der Frage, ob das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensfehler beruhen kann, nicht bedarf. Beim Vorliegen absoluter Revisionsgründe wird die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung unwiderleglich vermutet (Meyer-Ladewig, aaO, § 162 RdNr 10; Albers in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Albers, ZPO, 60. Aufl, § 547 RdNr 2).
Demgegenüber ist aber auch vertreten worden, dass trotz Vorliegens des absoluten Revisionsgrundes der verspäteten Urteilsabsetzung das BSG durchzuentscheiden habe, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet sei (BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12; vgl auch Zeihe, aaO, § 136 RdNr 13 Buchst j). Soweit trotz des Vorliegens eines absoluten Revisionsgrundes eine abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts ohne Zurückverweisung für möglich gehalten wird, kann dies allenfalls auf Ausnahmefälle beschränkt sein, in denen ein Erfolg in der Sache nach dem Klagevorbringen bereits ausgeschlossen ist und eine nochmalige Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zu einem anderen Sachergebnis kommen kann. Ob dies nur dann anzunehmen ist, wenn es sich um eine eindeutig rechtsmissbräuchliche Klage handelt (so in HFR 2003, 482 - 483) oder auch bereits dann, wenn aufgrund des Revisionsvorbringens die Klage unschlüssig ist und auch im Falle der Rückverweisung nicht schlüssig gemacht werden kann (so BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12), kann hier offen bleiben.
Für einen derartigen Ausnahmefall sind vorliegend keine Anhaltspunkte vorhanden. Das Vorbringen des Klägers, ihm stehe Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit jedenfalls in Form von BU-Rente zu, erscheint nicht unschlüssig. Soweit zwischen den Beteiligten streitig ist, ob die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Beantwortung dieser Frage ua abhängig vom Eintritt des so genannten Versicherungsfalls. Insoweit erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Vorinstanz nach erneuter Prüfung aller Sachumstände und Anspruchsvoraussetzungen zu einem anderen Ergebnis kommen kann.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
EAAAC-15080