Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: SGB VI § 44; SGB VI § 116 Abs. 1 Satz 1
Instanzenzug: SG Saarland
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die 1968 geborene Klägerin hat keine förmliche Berufsausbildung abgeschlossen. Sie arbeitete zuletzt seit 1984 als Näherin (Zuschneiderin) in einer Kleiderfabrik und war im Anschluss daran ab März 1996 arbeitslos. Im Juni 1997 zog sie sich bei einem privaten Sportunfall eine Knieverletzung zu.
Am beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diese lehnte den Antrag durch Bescheid vom idF des Widerspruchsbescheides vom mit der Begründung ab, dass die Klägerin wegen eines vollschichtigen Restleistungsvermögens weder erwerbs- noch berufsunfähig sei.
Nach dem Ergebnis des im anschließenden Klageverfahren eingeholten orthopädischen Gutachtens war die Klägerin nicht mehr in der Lage, Wegstrecken von 500 m zu Fuß zurückzulegen oder einen Pkw selbst zu führen, wenn dieser nicht mit einem Automatikgetriebe ausgestattet ist. Daraufhin erließ die Beklagte unter dem einen Bescheid, mit dem sie sich bereit erklärte, der Klägerin Leistungen nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV) zu gewähren, wenn diese infolge ihrer Behinderung nicht nur vorübergehend auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sei, um ihren Arbeits- oder Ausbildungsort oder die Orte durchzuführender Bewerbungsgespräche zu erreichen. Weiter heißt es darin ua:
Dies sei der Fall, wenn
a) die zu Fuß zurückzulegende Wegstrecke zwischen der Wohnung der Klägerin und dem Arbeits-, Ausbildungs- oder Bewerbungsort länger als 500 m sei oder
b) wenn ein Teil des Weges mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus oder Bahn) zurückgelegt werden könne, jedoch die zu Fuß zurückzulegende Wegstrecke zwischen Wohnung und Haltestelle bzw. Haltestelle und Arbeits-, Ausbildungs- bzw. Bewerbungsort mehr als 500 m betrage.
Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom verpflichtet, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt:
Die Klägerin sei erwerbsunfähig. Sie sei zwar noch in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Arbeiten mit bestimmten näher bezeichneten Einschränkungen vollschichtig zu verrichten; sie könne jedoch einen Arbeitsplatz nicht mehr erreichen, da sie nur noch fähig sei, Fußwege von weniger als 500 m zurückzulegen. Zu einem Arbeitsplatz könne sie auch nicht mit einem vorhandenen Kraftfahrzeug gelangen, denn sie vermöge nur einen Pkw mit Automatikgetriebe selbst zu fahren, über den sie nicht verfüge. Daran habe sich auch nichts durch die von der Beklagten mit Bescheid vom abgegebene Zusicherung geändert. Der Klägerin sei keine Leistung gewährt, sondern allenfalls für den Fall in Aussicht gestellt worden, dass sie eine konkrete Arbeitsstelle erhalte. Dies reiche nicht aus, um die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen. Der Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" verlange, dass die Beklagte der Klägerin Leistungen bereits für die Erlangung eines Arbeitsplatzes gewähre.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte mit Zustimmung der Klägerin die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, dass aus ihrer Sicht im Monat Februar 1998 sowohl die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen als auch der Versicherungsfall der EU gegeben waren.
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 44, § 116 Abs 1 Satz 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) und macht insoweit geltend: Das Leistungsspektrum der KfzHV sei angesichts der Möglichkeit einer weiten Ausschöpfung von Härteregelungen so umfassend, dass kein Versicherter auf Grund seiner Gehbehinderung außer Stande sein müsse, einen potenziellen Arbeitsplatz zu erreichen. Im Gegensatz zur abstrakten Beurteilung der Wegefähigkeit bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit richteten sich die Voraussetzungen für die Kraftfahrzeughilfe nach den Umständen des Einzelfalles. Es komme darauf an, welche Entfernung der Versicherte tatsächlich von seiner Wohnung zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels sowie zu seinem Arbeits- oder Ausbildungsort zu Fuß zurückzulegen habe. Dies könne bei einem arbeitslosen Versicherten noch nicht festgestellt werden. Die Finanzierung eines Kraftfahrzeugs im Voraus sei damit nicht möglich. Trotzdem müsse es möglich sein, die auf Wegeunfähigkeit zurückzuführende EU ohne überflüssige Kosten abzuwenden. Für den gehbehinderten Versicherten müsse deshalb gewährleistet werden, dass bei Anbahnung oder Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses eine angemessene Beförderungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werde, die ihn einem nichtbehinderten Arbeitnehmer gleichstelle. Mit dem Bescheid vom sei alles Mögliche getan worden, um der Klägerin Leistungen entsprechend den gesetzlichen Vorgaben der KfzHV zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Die Beklagte habe ihr keine konkreten Leistungen zur Rehabilitation bewilligt, sondern lediglich eine Absichtserklärung abgegeben. Dies sei nicht ausreichend, um ihre auf Wegeunfähigkeit beruhende EU zu beseitigen. Sie könne sich auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig bewerben, wenn sie nicht einmal in der Lage sei, eine Bewerbung auf einen eventuell gesundheitlich zumutbaren Arbeitsplatz vorzunehmen. Wegen der allenfalls angekündigten Bereitschaft der Beklagten zur Bewilligung einer Kraftfahrzeughilfe müsse sie vor einer Bewerbung an die Beklagte herantreten, um einen konkreten Antrag auf Bewilligung von Kraftfahrzeughilfe zu stellen. Eine lebensnahe Betrachtung mache deutlich, dass mit einer solchen zeitlich abgestuften Vorgehensweise die EU wegen mangelnder Wegefähigkeit eher manifestiert als beseitigt werde. Im Übrigen erweise sich die Entscheidung des SG aus anderen Gründen als richtig. Neben der Wegeunfähigkeit liege eine spezifische Leistungsbehinderung bzw eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, weil nicht nur Arbeiten im Freien, am Fließband oder an laufenden Maschinen ausgeschlossen seien, sondern darüber hinaus nur leichte Arbeiten, vor allem im Sitzen und mit der Möglichkeit zur Lagerung des linken Beines, verrichtet werden könnten.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig (vgl § 161 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>), aber nicht begründet. Das Urteil des SG hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.
Der Klägerin ist zu Recht Rente wegen EU zuerkannt worden. Der Anspruch richtet sich nach § 44 SGB VI in der bis zum geltenden Fassung. Die zum erfolgte Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom (BGBl I 1827) ist im vorliegenden Fall noch nicht anwendbar, da der Rentenanspruch der Klägerin aufgrund eines im März 1998 gestellten Antrages auch Zeiten vor dem betrifft (vgl § 300 Abs 2, § 99 Abs 1 SGB VI).
Gemäß § 44 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen EU, wenn sie
1. erwerbsunfähig sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben und
3. vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Nach dem Gesamtergebnis der vorinstanzlichen Feststellungen ist im Hinblick auf die übereinstimmenden Erklärungen der Beteiligten im Senatstermin davon auszugehen, dass die in dieser Vorschrift genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Belegungserfordernis nach § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI und Wartezeiterfüllung nach § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI) hier gegeben sind. Darüber hinaus liegt auch EU vor (vgl § 44 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 2 SGB VI).
Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgrößen (ab : 630 DM) übersteigt. Diese Vorschrift beschreibt den Versicherungsfall der EU im Wesentlichen dahin, dass das Herabsinken der Fähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt Einkommen zu erzielen, von einem bestimmten Grade an einen Rentenanspruch auslöst. Dazu hat das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass das Leistungsvermögen und die Umsetzungsfähigkeit an den individuellen Verhältnissen des Versicherten und den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes zu messen sind (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 29 mwN). Nur diejenigen Möglichkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt konkret feststellbar sind, können als Maßstab für die Fähigkeit eines Versicherten, Erwerbseinkommen zu erzielen, herangezogen werden. Folglich gehört nach der Rechtsprechung des BSG zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (vgl zB -, zur Veröffentlichung vorgesehen in SozR; BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10; BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 47, 50, 56; BSG SozR Nr 101 zu § 1246 RVO; BSGE 24, 142 = SozR Nr 56 zu § 1246 RVO; BSG SozR Nr 21, 27 zu § 1246 RVO). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 47, 50; BSG SozR Nr 101 zu § 1246 RVO). Dementsprechend sieht der erkennende Senat das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität als Teil des nach §§ 43, 44 SGB VI versicherten Risikos an (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10).
Hat der Versicherte, wie hier die Klägerin, keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein müssen, - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 53, 56). Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30 f). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 S 30). Dazu gehört zB auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeugs (vgl BSGE 24, 142, 144 = SozR Nr 56 zu § 1246 RVO Bl Aa 44 Rückseite).
Gemessen an diesen Kriterien ist es zunächst nicht zu beanstanden, dass das SG die Klägerin als erwerbsunfähig angesehen hat. Nach dessen nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen, mithin für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen (vgl § 163 SGG) ist die Klägerin nicht mehr in der Lage, Wegstrecken von über 500 m zu Fuß zurückzulegen. Die ihr zumutbare Gehstrecke liegt vielmehr unter 500 m. Zur Überwindung solcher Strecken kann sie auch nicht auf die Benutzung eines eigenen PKW verwiesen werden. Denn sie besitzt kein mit Automatikgetriebe ausgestattetes Kraftfahrzeug, das allein sie in Anbetracht ihrer Behinderung führen könnte.
Nach dem Gesamtergebnis der Tatsachenfeststellungen des SG lag die EU der Klägerin jedenfalls ab Februar 1998 vor. Davon gehen auch die Beteiligten übereinstimmend aus. In der Folgezeit ist dieser Versicherungsfall nicht durch die mit Bescheid vom erklärte Bereitschaft der Beklagten zur Bewilligung von Leistungen nach der KfzHV wieder behoben worden. Zwar kann eine derartige Änderung eintreten, wenn der Rentenversicherungsträger durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (vgl §§ 9 ff SGB VI) eine ausreichende Mobilität des Versicherten herstellt (vgl dazu BSG SozR 3-2600 § 44 Nr 10). Unabhängig davon, ob der betreffende Verwaltungsakt ansonsten die Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Leistungsangebot erfüllt, ist er bereits deshalb unzulänglich, weil er Leistungen nach der KfzHV nur für Wegstrecken vorsieht, die länger als 500 m sind, während die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin - wie das SG festgestellt hat - nur noch Fußwege von weniger als 500 m zulassen. Damit reichen die im Bescheid vom aufgeführten Leistungen von vornherein nicht aus, um das bei der Klägerin bestehende, EU begründende Mobilitätsdefizit auszugleichen.
Auf der Grundlage eines seit Februar 1998 bestehenden Versicherungsfalls und einer am erfolgten Antragstellung steht der Klägerin EU-Rente zumindest ab dem vom SG ausgeurteilten Zeitpunkt der Antragstellung zu (vgl § 99 Abs 1 SGB VI). Da die Klägerin das vorinstanzliche Urteil nicht angefochten hat, ist nicht darüber zu entscheiden, ob ein früherer Rentenbeginn in Betracht kommen könnte. Zwar ist eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit unter bestimmten Voraussetzungen nur auf Zeit zu leisten (vgl § 102 Abs 2 SGB VI), die Beklagte hat jedoch gegen ihre Verurteilung zu einer Dauerrente keine Revisionsgründe vorgebracht. Auch insoweit hat es mithin bei dem sozialgerichtlichen Urteilsspruch zu verbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Fundstelle(n):
CAAAC-15046