BSG Urteil v. - B 4 RA 59/01 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGG § 103; RÜG Art 2 § 1; RÜG Art 2 § 1 Nr 2

Instanzenzug: SG Braunschweig vom

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger ein Recht auf eine Invalidenrente für Behinderte nach dem Übergangsrecht des Art 2 Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) hat.

Der im Februar 1976 in der DDR geborene Kläger leidet seit seiner Geburt an einer spastischen Tetraplegie (Lähmung aller vier großen Extremitäten) mit schwerer Muskelatrophie, massiven Verformungen am Skelettsystem, chronischer Bronchitis, einem Zustand nach Encephalitis (Gehirnhautentzündung) sowie unter Sprachunfähigkeit. Er wurde bzw wird von seinen Eltern pflegend betreut. Im Dezember 1989 übersiedelte die Familie in die Bundesrepublik. Hier erhält der Kläger Pflegeleistungen aus der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III. Er ist als Schwerbehinderter mit einem GdB von 100 anerkannt und ihm sind verschiedene Merkzeichen zuerkannt.

Nachdem die Beklagte einen Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Berufs-/Erwerbsunfähigkeit im November 1998 wegen fehlender Versicherungszeiten abgelehnt hatte, beantragte er im Januar 1999 die Zuerkennung des Rechts auf Invalidenrente nach dem Übergangsrecht des Art 2 § 10 RÜG. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Kläger zwei der gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfülle; er habe am weder seinen Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in der DDR gehabt, sondern sei bereits vorher in die alten Bundesländer verzogen; auf Grund der Antragstellung im Jahre "1998" sei kein Rentenbeginn in der Zeit vom bis gegeben (Bescheid vom idF des Widerspruchsbescheides vom ).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung ist ausgeführt worden, dass die Beklagte die Rentenablehnung zutreffend auf die Nichterfüllung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen gestützt habe. Eine andere Rechtsfolge lasse sich nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten, da ein "Fehlverhalten" der Beklagten nicht vorliege. Die gesetzliche Stichtagsregelung sowie die zeitlich begrenzte Dauer des Übergangsrechts des Art 2 RÜG sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Mit seiner Revision rügt der Kläger, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensfehler; das LSG habe die Frage des Wohnsitzwechsels, der tatsächlich vor dem nicht stattgefunden habe, nicht aufgeklärt, obgleich dies nach Aktenlage und seinem Vortrag geboten gewesen sei. Selbst wenn man von einer Wohnsitzverlegung vor dem ausgehe, sei dieser nicht rechtserheblich. Zwar deute der Wortlaut des Art 2 § 1 Nr 2 RÜG auf eine andere Interpretation hin, im Lichte der Vertrauensschutzregelung des Art 20 Abs 7 des Staatsvertrags sei er jedoch als "Versicherter des Beitrittsgebiets" iS des Art 2 § 1 RÜG zu behandeln.

Der Kläger beantragt,

das und das Urteil des SG Braunschweig vom aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom zu verurteilen, ihm eine Invalidenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die angefochtene Entscheidung rechtlich nicht zu beanstanden sei.

II

Die Revision ist unbegründet.

Gegenstand der Revision ist das Begehren des Klägers, die vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Invalidenrente für Behinderte nach dem für die Zeit vom bis maßgeblichen Art 2 § 10 RÜG zu gewähren. Die vom Kläger gegen die Ablehnung im Bescheid vom in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom in Kombination erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklagen sind zulässig (§ 54 Abs 4 SGG), aber nicht begründet.

Das LSG hat zu Recht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Der Kläger kann schon deshalb keine Invalidenrente für Behinderte nach Art 2 § 10 RÜG beanspruchen, weil er nicht dem persönlichen Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegt.

Nach Art 2 § 1 Nr 2 RÜG stehen Personen die in diesem Artikel verankerten Rentenrechte nur zu, wenn sie am ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat der Senat davon auszugehen, dass der Kläger am weder einen Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der ehemaligen DDR und damit im Beitrittsgebiet hatte. Hiergegen hat der Kläger zulässige Verfahrensrügen nicht erhoben.

Der Kläger macht geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensfehler, ohne diesen zu spezifizieren. Soweit er meint, das LSG habe zwischen einem gewöhnlichen Aufenthalt und einem Wohnsitz unterscheiden und den Sachverhalt weiter aufklären müssen, rügt er eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Er hat aber nicht dargelegt, warum sich das LSG unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung zu einer Sachaufklärung hätte gedrängt fühlen müssen. Die Rechtsauffassung des LSG hat er in diesem Zusammenhang nicht dargestellt. Die Behauptung, er habe am noch einen Wohnsitz im Beitrittsgebiet gehabt, hat er erstmals im Revisionsverfahren erhoben, ohne allerdings mitzuteilen, wo ein solcher Wohnsitz am im Beitrittsgebiet bestanden haben könnte. Insbesondere hat er nicht dargetan, weshalb das LSG nach dem ihm vorliegenden Gesamtergebnis des Verfahrens vor allem im Blick auf das Vorbringen der Beteiligten im Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahren sich hätte gedrängt fühlen müssen, weiteren Beweis zu der Frage zu erheben, ob der Kläger im Dezember 1989 seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet verlegt hatte und bis zum auch nicht dorthin zurückgekehrt war. Die Feststellung des LSG, es habe sich so verhalten, ist auch nicht mit einer Rüge zulässig angegriffen worden, das Berufungsgericht habe die Grenzen der Befugnis zur freien Beweiswürdigung verletzt.

Das LSG ist rechtlich zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die persönliche Anwendungsvoraussetzung des Art 2 § 1 Nr 2 RÜG nicht erfüllt hat. Dessen Wortlaut lässt sich nicht dahingehend interpretieren, dass alle "im Beitrittsgebiet Versicherten" im Lichte des Art 20 Abs 7 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (nachfolgend: Staatsvertrag) vom (BGBl II 537) unter den Anwendungsbereich des Art 2 RÜG fallen sollten. Hiergegen spricht schon eindeutig der ausdrücklich normierte Stichtag. Dieser bildete rentenrechtlich eine Zäsur, wie gerade die Kollisionsnorm des Art 20 Abs 7 des Staatsvertrages zeigt. Danach galt für diejenigen, die - wie der Kläger - vor dem in die Bundesrepublik übergesiedelt waren und hier ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten, ausschließlich das bundesdeutsche Rentenrecht.

Der vom Gesetzgeber gewählte "Stichtag", der , also der Tag des Abschlusses des Staatsvertrages, und die damit zusammenhängende Stichtagsregelung verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG. Die Verfassungsnorm verwehrt es dem Gesetzgeber nicht, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Die Wahl des Zeitpunktes muss sich allerdings am gegebenen Sachverhalt orientieren ( BVerfGE 87, 1, 43). Insoweit beruht die Wahl des Stichtages "" in Art 2 § 1 Nr 2 RÜG auf sachlich vertretbaren Erwägungen (zur verfassungsrechtlich legitimierten Ungleichbehandlung von Versicherten die am im Beitrittsgebiet lebten und den Versicherten, die diese Voraussetzung zu jenem Zeitpunkt nicht erfüllten, vgl auch: Urteil des 5. Senats des SozR 3-8575 Art 2 § 4 Nr 1; ferner zur Wahl des gleichen Stichtages im Rahmen des § 259a SGB VI: Urteil des erkennenden Senats vom , 4 RA 56/95).

Die Stichtagswahl knüpft an die zeitliche Zäsur in Art 20 Abs 7 des Staatsvertrages an. Dieser war nicht dazu bestimmt, die Grundlagen für eine Wiedervereinigung und ua für ein einheitliches bundesdeutsches Rentenrecht zu schaffen, wie es die Aufgabe des späteren Einigungsvertrages (EinigVtr) vom (BGBl II 889) war. Vielmehr ging der Staatsvertrag noch vom Fortbestand beider Staaten in Deutschland aus, allerdings verbunden in einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Ziel der Sozialunion war ua eine Annäherung, nicht aber Vereinheitlichung der Rentensysteme; vielmehr sollte jeder Staat seine Sozialleistungssysteme eigenständig weiterführen. Demzufolge war es geboten, einen Stichtag zu wählen, der eine klare Zuordnung zum jeweiligen System und damit gleichzeitig eine eindeutige Verteilung der Versicherungslast erlaubte. Insoweit war es nahe liegend, an den Tag des Abschlusses des Staatsvertrages und an den an diesem Tag bestehenden Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt anzuknüpfen, um bis dahin geschaffene Vertrauenspositionen ausreichend zu berücksichtigen.

Diese in Art 20 Abs 7 des Staatsvertrages vorgenommene Zäsur konnte zugleich die Grundlage für die Stichtagsregelung in Art 2 § 1 Nr 2 RÜG bilden. Art 2 § 1 RÜG setzte den in Art 30 Abs 5 EinigVtr verankerten Vertrauensschutz um, der den Bürgern der ehemaligen DDR für eine Übergangszeit ab Einführung eines einheitlichen bundesdeutschen Rentenrechts in ganz Deutschland (also ab ) bisher erworbene Rechte und Anwartschaften erhielt, sofern dies für sie günstiger war. Einer solchen Vertrauensschutzregelung bedurften naturgemäß nur diejenigen Personen, die zu jenem Zeitpunkt Anwartschaften und Rechte in der DDR erworben hatten. Somit waren von vornherein nicht diejenigen Personen in die Vertrauensschutzregelung einzubeziehen, die bereits mit Blick auf Art 20 Abs 7 des Staatsvertrages keine Rechtspositionen in der Rentenversicherung der DDR mehr hatten. Art 2 § 1 Nr 2 RÜG konnte somit an den Stichtag "" anknüpfen.

Da alle Personen, die vor dem ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der DDR aufgegeben hatten, gleichbehandelt werden, liegt keine Verletzung des Art 3 Abs 1 GG vor. Eine solche Verletzung lässt sich auch nicht damit begründen, dass der Gesetzgeber es gleichheitswidrig unterlassen habe, den Besonderheiten des Personenkreises, dem der Kläger zugehört, durch Erlass einer Sonderregelung Rechnung zu tragen. Die bundesdeutsche Rentenversicherung kennt als echte, dh auf Vorleistung des Versicherten angewiesene Versicherung keine dem Art 2 § 10 RÜG vergleichbare Leistung, nach der eine Invalidenrente auch solchen Personen zuzuerkennen ist, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und wegen Invalidität keine Erwerbstätigkeit aufnehmen konnten. Personen, die - wie der Kläger - vor dem die DDR verlassen hatten, konnten von diesem Zeitpunkt an Ansprüche nach dem Rentenrecht der DDR nicht mehr geltend machen; denn dieses Recht erkannte Rentenrechte nur den Personen zu, die ihren Wohnsitz in der DDR hatten. Bei der "Übersiedlung" in die Bundesrepublik im Dezember 1989 konnten die Eltern des Klägers nur davon ausgehen, dass er Rechte und Ansprüche allein nach Maßgabe des bundesdeutschen Sozialrechts erlangen konnte. Auch wenn dieses Rechtssystem keine Invalidenrente für Behinderte ohne Vorleistung des Versicherten kennt, bleibt diese Personengruppe nicht ohne ausreichenden sozialen Schutz. Insoweit wird deren besonderer Situation durch Leistungen im Rahmen der Pflegeversicherung und ggf ergänzende Leistungen der Sozialhilfe Rechnung getragen. Weitere Vergünstigungen sieht das Schwerbehindertengesetz vor. Bei dieser Sachlage war es für den bundesdeutschen Gesetzgeber nicht zwingend geboten, Zusatzleistungen für solche Schwerstbehinderten einzuführen, die vor dem ihren Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt aus der DDR verlegt und damit Rechte in der Rentenversicherung der DDR verloren hatten.

Die Rentenablehnung im angefochtenen Bescheid der Beklagten greift somit nicht rechtswidrig in Rechte des Klägers ein; seine Anfechtungsklage konnte damit keinen Erfolg haben. Damit erweist sich insoweit zugleich die in Kombination mit dieser Klage erhobene Leistungsklage als unbegründet.

Der Kläger kann sein Begehren auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Ausführungen im Urteil des LSG Bezug genommen.

Die Entscheidung des LSG stellt sich somit als im Ergebnis richtig dar, sodass die Revision gemäß § 170 Abs 1 Satz 2 SGG zurückzuweisen war, obwohl das LSG Bundesrecht insoweit verletzt hat, als es das geltend gemachte Recht - wohl mit Blick auf Art 2 § 1 Abs 1 Nr 3 RÜG - auch deshalb verneint hat, weil der Rentenantrag erst nach Ablauf des gestellt worden war. Für die Entstehung des Stammrechts und damit den "Beginn der Renten" kommt es jedoch nicht auf die Antragstellung an. Eine "verspätete" Antragstellung gibt dem Rentenversicherungsträger lediglich gegenüber Einzelansprüchen, die aus dem Rentenstammrecht fließen, den anspruchsvernichtenden Einwand aus § 99 SGB VI; dies berührt jedoch nicht die Entstehung und damit den Beginn des Rechts auf Rente (vgl dazu SozR 3-2600 § 99 Nr 5 und SozR 3-2600 § 100 Nr 1).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Fundstelle(n):
DAAAC-13819