BSG Urteil v. - B 4 RA 16/04 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: AAÜG § 1 Abs 1; AAÜG § 5 Abs 1; AAÜG § 8 Abs 3; AAÜG § 8 Abs 1; AAÜG § 8 Abs 2

Instanzenzug:

Gründe

I

Streitig ist, ob der beklagte Zusatzversorgungsträger für den Zeitraum bis 30. Juni 1990 für den Kläger Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) nach Nr 1 der Anlage 1 zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) und die in diesem Zeitraum erzielten Arbeitsentgelte festzustellen hat.

Der Kläger erwarb im August 1964 an der Universität G. den akademischen Grad des Diplom-Physikers. Nach den Feststellungen des LSG war er im Anschluss daran bis als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim WTZ der VVB Büromaschinen in K. beschäftigt. Ab wechselte er als Entwicklungsingenieur zum VEB Elektronische Rechenmaschinen, wissenschaftlicher Industriebetrieb. Bis zum war er dort als Forschungsphysiker und bis als Themenverantwortlicher tätig. Vom bis war er beim VEB Kombinat R. Großforschungszentrum bzw beim VEB R. Zentrum für Forschung und Technik - Fachgebiet Geräte - als Forscher und ab als Mitarbeiter Forschung und Entwicklung tätig. Er war in der DDR in kein Zusatz- oder Sonderversorgungssystem einbezogen worden.

Seinen Antrag auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit zur AVItech lehnte die Beklagte ab, weil die Qualifikation als Physiker nicht berechtige, den Titel eines Ingenieurs oder Technikers iS der Versorgungsordnung zu führen (Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ).

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg ( ). Das LSG hat in seinem Urteil im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Kläger habe keinen mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage durchsetzbaren Anspruch auf Feststellung von Zeiten der Zugehörigkeit zur AVItech. Das AAÜG sei auf ihn nicht anwendbar. Ihm sei zu keinem Zeitpunkt in der DDR eine Versorgungszusage erteilt worden. Er hätte auch keinen fiktiven Anspruch auf Erteilung einer Zusage auf Grund der am gegebenen tatsächlichen Umstände nach dem am gültigen Bundesrecht gehabt. Dieser fiktive Anspruch sei nach der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen ihnen gleichgestellten Betrieben (nachfolgend: VO-AVItech) von drei Voraussetzungen abhängig. Der Kläger erfülle weder die betriebliche Voraussetzung (VEB im Bereich der Industrie) noch die persönliche Voraussetzung für die Einbeziehung in die AVItech. Er sei nicht berechtigt gewesen, den Titel eines Ingenieurs zu führen. Er habe auch nicht die Berufsbezeichnung als "Konstrukteur" erlangt.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, mit der er eine Verletzung der §§ 1 Abs 1, 5 Abs 1, 8 Abs 3 iVm Abs 1 und 2 AAÜG rügt. Er sei auf Grund seiner Tätigkeit als Konstrukteur vom persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG erfasst. Als versorgungsberechtigt würden nach § 1 der VO-AVItech ua Konstrukteure gelten. Wer als "Konstrukteur" anzusehen sei, beantworte diese Vorschrift nicht. Für Konstrukteure gebe es auch keine der Verordnung über die Führung der Berufsbezeichnung "Ingenieur" vom vergleichbare Regelung. Das LSG sei davon ausgegangen, dass der Kläger zwar als Konstrukteur gearbeitet habe, er jedoch nicht die Berufsbezeichnung Konstrukteur erlangt habe. Es fehlten Ausführungen dazu, wann eine Person berechtigt gewesen sei, den Titel Konstrukteur zu führen. In der DDR habe es nur bis Anfang der 50er Jahre eine Ausbildung gegeben, die mit dem Abschluss des Konstrukteurs geendet habe. Danach seien auch Personen als Konstrukteure eingestuft worden, die keine entsprechende Ausbildung abgeschlossen hätten. Auch der Kläger sei als Konstrukteur tätig gewesen, ohne im Besitz einer entsprechenden abgeschlossenen Ausbildung gewesen zu sein. Auch die Bezeichnung im Arbeitsvertrag führe nicht dazu, dass die Person berechtigt gewesen wäre, den Titel eines Konstrukteurs zu führen. Maßgeblich sei deshalb allein die ausgeübte Tätigkeit.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Beschäftigungszeiten vom bis als Zeiten der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem der technischen Intelligenz sowie die in diesem Zeitraum erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass das AAÜG auf Grund der am gegebenen Sachlage auf den Kläger nicht anwendbar sei. Er erfülle nicht die Voraussetzungen der AVItech, denn es sei nicht nachgewiesen, dass er den Beruf des Konstrukteurs ausgeübt habe. Er sei im Juni 1990 als Mitarbeiter Forschung und Entwicklung beschäftigt gewesen. Die Qualifikationshandbücher bestätigten die unterschiedlichen Anforderungen und Arbeitsaufgaben des Konstrukteurs und des Mitarbeiters Forschung und Entwicklung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision ist in dem Sinne begründet, dass das angefochtene Urteil des LSG mit den ihm zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren des Klägers, das und den sowie die ablehnenden Entscheidungen der Beklagten im Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und diese zu verpflichten, die Beschäftigungszeiten vom bis als Tatbestände von Zeiten der Zugehörigkeit zur AVItech sowie die dabei erzielten tatsächlichen Arbeitsentgelte festzustellen. Der Kläger hat sein Begehren zulässig in Kombination von Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 SGG) verfolgt. Ob die Klagen begründet sind, kann der Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.

In dem Verfahren nach § 8 AAÜG, das einem Vormerkungsverfahren nach § 149 Abs 5 SGB VI ähnlich und außerhalb des Rentenverfahrens durchzuführen ist (dazu stellvertr: Urteil des Senats vom - 4 RA 7/95, SozR 3-8570 § 8 Nr 2), ist die Beklagte nur dann zu den vom Kläger begehrten Feststellungen verpflichtet, wenn dieser dem persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG unterfällt (§ 1 Abs 1 AAÜG). Erst wenn dies zu bejahen ist, ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob Tatbestände von Zugehörigkeitszeiten iS von § 5 Abs 1 AAÜG und damit Tatbestände von gleichgestellten Pflichtbeitragszeiten iS des SGB VI vorliegen, auf deren Feststellungen der Kläger nach § 8 Abs 1 iVm Abs 2 und 3 AAÜG einen Anspruch gegen die Beklagte hätte.

1. Vom persönlichen Anwendungsbereich werden nach der Maßstabsnorm des § 1 Abs 1 AAÜG die Versorgungsberechtigungen (Ansprüche oder Anwartschaften) erfasst, die auf Grund der Zugehörigkeit zu Versorgungssystemen im Beitrittsgebiet erworben worden sind und beim Inkrafttreten dieses Gesetzes am bestanden haben (§ 1 Abs 1 Satz 1 AAÜG). War ein Verlust der Versorgungsanwartschaften deswegen eingetreten, weil die Regelungen des Versorgungssystems ihn beim Ausscheiden vor dem Leistungsfall vorsahen, gilt dieser Anwartschaftsverlust nach Satz 2 dieser Vorschrift als nicht eingetreten. Geht man vom Wortlaut der Vorschrift aus, erfüllt der Kläger beide Tatbestände nicht.

Der Kläger war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG nicht Inhaber einer bei Inkrafttreten des AAÜG am bestehenden Versorgungsanwartschaft. Eine Einzelfallentscheidung, durch die ihm zum 1. August 1991 eine Versorgungsanwartschaft zuerkannt worden ist, liegt nicht vor. Weder hatte er eine positive Statusentscheidung der Beklagten erlangt noch hatte er eine frühere Versorgungszusage in Form eines nach Art 19 Satz 1 EV bindend gebliebenen Verwaltungsakts. Der Kläger war auch nicht auf Grund eines Einzelvertrags oder einer späteren Rehabilitierungsentscheidung in ein Versorgungssystem (hier: AVItech) einbezogen worden.

Für den Kläger greift auch nicht § 1 Abs 1 Satz 2 AAÜG, denn er hatte nach den bindenden Feststellungen des LSG vor dem keine Rechtsposition inne, die er hätte verlieren können. Nur in diesen Fällen wird kraft Gesetzes eine Anwartschaft nach § 1 Abs 1 Satz 2 AAÜG fingiert (vgl ua Urteil des Senats vom - B 4 RA 31/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 15 und vom - B 4 RA 34/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 3 S 20 f).

2. Bei Personen, die am nicht einbezogen waren und auch nicht nachfolgend auf Grund originären Bundesrechts (Art 17 EV) einbezogen wurden, ist allerdings auf Grund einer vom Senat vorgenommenen erweiternden verfassungskonformen Auslegung des § 1 Abs 1 AAÜG zu prüfen, ob die Nichteinbezogenen aus der Sicht des am gültigen Bundesrechts nach der am gegebenen Sachlage einen Anspruch auf Erteilung einer Versorgungszusage gehabt hätten (vgl BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 12 f; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 3 S 20; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 4 S 26 f; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 5 S 32; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 39; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 7 S 59 f; BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 8 S 73). Dieser fiktive bundesrechtliche Anspruch auf Erteilung einer Zusage hängt von der Ausgestaltung der zu Bundesrecht gewordenen leistungsrechtlichen Regelungen der Versorgungssysteme ab.

Ob der Kläger am Inhaber einer fingierten Versorgungsanwartschaft war, die sich aus der vom Senat vorgenommenen erweiterten verfassungskonformen Auslegung des § 1 Abs 1 AAÜG herleitet, kann der Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.

Eine solche fiktive Berechtigung hängt im Bereich der AVItech gemäß § 1 VO-AVltech vom 17. August 1950 (GBl 844) und der dazu ergangenen Zweiten Durchführungsbestimmung (2. DB) vom (GBl 487) von folgenden drei Voraussetzungen ab (vgl hierzu: BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 14, Nr 5 S 33, Nr 6 S 40 f, Nr 7 S 60, Nr 8 S 74), nämlich von

(1) der Berechtigung, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen (persönliche Voraussetzung), und

(2) der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit (sachliche Voraussetzung), und zwar

(3) in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens (§ 1 Abs 1 der 2. DB) oder in einem durch § 1 Abs 2 der 2. DB gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).

a) Auf Grund fehlender Feststellungen des LSG kann der Senat nicht beurteilen, ob der Kläger die persönliche Voraussetzung für eine Einbeziehung erfüllt.

Nach § 1 Abs 1 Satz 1 der 2. DB gelten als Angehörige der technischen Intelligenz ua Ingenieure, Konstrukteure, Architekten und Techniker aller Spezialgebiete. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass der Kläger auf Grund seiner Qualifikation als Diplom-Physiker nicht von dieser Norm erfasst wird (vgl dazu: Urteil des Senats vom - B 4 RA 62/01 R). Nicht entscheidend ist, ob er Ingenieurtätigkeiten verrichtet hat; denn bezüglich dieser Berufsgruppe erfüllte ein Beschäftigter in der DDR die persönliche Anwendungsvoraussetzung nur, wenn er berechtigt war, den Titel "Ingenieur" zu führen (Urteil des Senats vom - B 4 RA 18/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 8 S 77). Eine solche Berechtigung war dem Kläger nicht durch besonderen Staatsakt verliehen worden.

Ob das LSG zu Recht angenommen hat, der Kläger sei auch nicht der in § 1 Abs 1 Satz 1 der 2. DB genannten Berufsgruppe der Konstrukteure zuzuordnen, kann der Senat auf Grund fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.

Das LSG hat lediglich festgestellt, der Kläger habe nicht die Berufsbezeichnung "Konstrukteur" erlangt, ohne darzulegen, wie diese berufliche Qualifikation in der DDR erworben wurde. Das LSG wird nunmehr zu ermitteln haben, ob es in der DDR abstrakt-generelle Regelungen zum "Beruf des Konstrukteurs" gab. Hierbei wird es seine Ermittlungen ggf in einer dreistufigen Abfolge vorzunehmen haben (vgl Urteil des Senats vom - B 4 RA 61/03 R).

- Zunächst wird es zu ermitteln haben, ob es in der DDR von staatlicher Stelle erlassene Regelungen zum "Beruf des Konstrukteurs" gab, zB in Form von Gesetzen, Verordnungen, Erlassen, Richtlinien oder sonstigen staatlichen Bekundungen.

- Sollten sich derartige Regelungen nicht feststellen lassen, wird das LSG aufzuklären haben, ob abstrakt-generellen Vereinbarungen der beteiligten Berufskreise, und zwar insbesondere in sogenannten Kollektivverträgen iS des DDR-Arbeitsrechts, Aussagen zum "Beruf des Konstrukteurs" entnommen werden können.

- Erst wenn sich Regelungen der vorstehend genannten Art nicht ermitteln lassen, wird das LSG festzustellen haben, ob sich auf Grund sonstiger genereller tatsächlicher Gegebenheiten in der DDR eine Aussage dazu treffen lässt, welchem Anforderungsprofil ein Werktätiger genügen musste, um als Konstrukteur qualifiziert zu werden.

Das LSG wird sodann festzustellen haben, ob der Kläger eine diesen Regelungen bzw tatsächlichen Gegebenheiten entsprechende berufliche Qualifikation erworben hat. Dabei wird es auch zu beachten haben, dass es entgegen der Auffassung des Klägers nach der Rechtsprechung des Senats nicht ausreicht, dass lediglich eine Tätigkeit ausgeübt wird, die einer in § 1 Abs 1 Satz 1 der 2. DB genannten beruflichen Qualifikation entspricht (vgl zum Ingenieur: BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 8 S 79).

b) Der Senat kann ferner nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger am die sachliche Voraussetzung für eine Einbeziehung in die AVItech erfüllte, denn das LSG hat keine konkreten (individuellen) Feststellungen zur Art seiner Beschäftigung im hier maßgeblichen Zeitpunkt getroffen. Allein die Feststellung, der Kläger sei ab als Mitarbeiter Forschung und Entwicklung tätig gewesen, lässt nicht erkennen, welche Tätigkeit er am tatsächlich ausgeübt und ob diese Tätigkeit der Qualifikation eines Konstrukteurs entsprochen hat.

c) Auch zur betrieblichen Voraussetzung hat das LSG keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Den Feststellungen lässt sich schon nicht entnehmen, bei welchem VEB der Kläger am beschäftigt war (VEB Kombinat R. Großforschungszentrum bzw VEB R. Zentrum für Forschung und Technik - Fachgebiet Geräte). Außerdem lässt sich aus den Feststellungen nicht erkennen, dass es sich dabei, wie das LSG meint, nicht um einen VEB im Bereich der Industrie gehandelt hat; denn das LSG hat nicht festgestellt, welche Aufgaben dem Betrieb, bei dem der Kläger am beschäftigt war, das Gepräge gegeben haben, vor allem welchen Hauptzweck dieser Betrieb tatsächlich verfolgt hat (hierzu stellvertr: Urteil des Senats vom - B 4 RA 18/03 R, zur Veröffentlichung vorgesehen, und vom - B 4 RA 52/03 R). Auch diese Feststellungen wird das LSG ggf nachzuholen haben.

3. Auf die Revision des Klägers war deshalb das Urteil des LSG wegen fehlender Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Bei seiner abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu befinden haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
HAAAC-13673