BVerwG Beschluss v. - 6 B 43.03

Leitsatz

Ob Wahlen zur Vollversammlung einer Industrie- und Handelskammer an einem schweren Verstoß gegen die einschlägige Wahlordnung leiden und ob ein derartiger Verstoß präkludiert ist, richtet sich nach nicht revisiblem Recht.

Gesetze: VwGO § 132; IHKG § 5; HwO § 101 Abs. 3

Instanzenzug: VG Düsseldorf VG 3 K 335/02 vom OVG Münster OVG 8 A 2398/02 vom

Gründe

1. Die Beschwerde ist auch insoweit zulässig, als sie von der Beklagten zu 1 eingelegt worden ist. Diese ist als Rechtsträgerin der Beklagten zu 2 nicht nur durch die Kostenentscheidung nach (Teil-)Erledigung des gegen sie wegen eines Auskunftsanspruchs geführten Rechtsstreits beschwert, sondern auch durch die Verpflichtung der Beklagten zu 2 zur Ungültig-Erklärung und Wiederholung einer Kammerwahl.

2. Die Beschwerde ist nicht begründet. Nach § 132 Abs. 2 VwGO kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Berufungsentscheidung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Berufungsentscheidung beruhen kann. Wird wie hier die Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde angefochten, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt oder die Entscheidung, von der das Berufungsurteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Prüfung des beschließenden Senats ist demgemäß auf fristgerecht geltend gemachte Beschwerdegründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO beschränkt. Diese rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision.

a) Der von der Beschwerde geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Wahl zur Vollversammlung 2001 für ungültig gehalten, weil der Wahlausschuss nicht nach der für die Wahl maßgeblichen Fassung der Wahlordnung bestellt worden und deshalb nicht vorschriftsmäßig zusammengesetzt gewesen sei. Die Beklagten rügen, das Berufungsgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen. Das Gericht hätte die Parteien über seine Rechtsauffassung rechtzeitig unterrichten müssen. Mit ihr sei nicht zu rechnen gewesen und es sei möglich oder sogar wahrscheinlich, dass das Gericht bei entsprechendem Vortrag der Beteiligten seine Rechtsauffassung aufgegeben hätte. Das Oberverwaltungsgericht habe zwar gegen Ende der zweistündigen mündlichen Verhandlung auf den genannten Aspekt hingewiesen, eine ausreichende Würdigung durch die Beklagten sei indessen mangels entsprechender Vorbereitung nicht möglich gewesen. Das Gericht sei nach § 139 Abs. 4 ZPO zu möglichst frühzeitigem Hinweis verpflichtet.

Mit diesem Vorbringen wird ein durchgreifender Verfahrensfehler nicht dargelegt. Die Beschwerde hat insbesondere nicht dargelegt, dass es auf eine - entsprechende - Anwendung von § 139 Abs. 4 ZPO entscheidungserheblich ankommt. Das wäre allenfalls dann denkbar, wenn diese Vorschrift Pflichten des Gerichts begründete, die sich nicht bereits aus den einschlägigen Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben. Das ist nicht der Fall. Nach § 86 Abs. 3 VwGO hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Die gerichtlichen Hinweise sollen zum einen dazu beitragen, die Voraussetzungen für eine richtige, dem Gesetz entsprechende Sachentscheidung zu schaffen (vgl. BVerfGE 42, 64 <73> zu § 139 ZPO). Die Vorschrift soll darüber hinaus als eine verfahrensspezifische einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör Überraschungsentscheidungen vorbeugen ( BVerwG 4 BN 20.98 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 49 S. 5). Ein Überraschungsurteil liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war ( BVerwG 4 B 81.00 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 34 S. 20 f.). Die Hinweispflicht bezieht sich auf die tragenden ("wesentlichen") Erwägungen des Gerichts. Sie verlangt grundsätzlich nicht, dass das Gericht die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweist, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt ( BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51 m.w.N.). So muss das Gericht die Beteiligten nicht vorab darauf hinweisen, auf welche von mehreren Gesichtspunkten es seine Entscheidung stützen und wie es sie im Einzelnen begründen werde ( BVerwG 2 B 85.87 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 20 m.w.N.). Hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung auf einen bisher nicht erörterten, seine tragenden Erwägungen betreffenden Gesichtspunkt hingewiesen und ist ein Beteiligter nicht in der Lage, sich in der mündlichen Verhandlung dazu zu äußern, ist dieser gehalten, alles ihm Zumutbare zu unternehmen, um eine Überraschungsentscheidung zu vermeiden.

Das Berufungsgericht hat nicht gegen diese Grundsätze verstoßen. Wie die Beklagten selbst einräumen, hat das Oberverwaltungsgericht den von ihm für entscheidungserheblich gehaltenen Gesichtspunkt in der mündlichen Verhandlung mit den Parteien erörtert. Wenn die Beklagten sich zu der Problematik der Zusammensetzung des Wahlausschusses wegen fehlender Vorbereitung nicht äußern konnten, hätten sie Vertagung beantragen können. Einen solchen Antrag hätte das Oberverwaltungsgericht nicht ablehnen dürfen, wenn dieser Aspekt im ganzen bisherigen Verfahren noch keine Beachtung gefunden hatte. Sollte § 139 Abs. 4 ZPO im Verwaltungsrechtsstreit anwendbar sein, wäre auch § 139 Abs. 5 ZPO zu beachten. Einen Antrag im Sinne dieser Vorschrift haben die Beklagten ebenfalls nicht gestellt.

b) Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt die Bezeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für die Revisionsentscheidung erheblich sein wird, und einen Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage führen kann. Die von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen verleihen der Sache keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung.

aa) Die Frage, ob ein Verwaltungsgericht vor der mündlichen Verhandlung die Parteien über eine rechtliche Überlegung zu unterrichten hat, die es für entscheidungserheblich hält, die aber die Parteien nicht gesehen haben, ist nach den oben dargestellten Grundsätzen zu beantworten. Sollte sie auf die Anwendbarkeit des § 139 Abs. 2 und 4 ZPO in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom (BGBl I S. 1887) im Verwaltungsprozess zielen, wäre sie nicht entscheidungserheblich, weil die Beklagten nicht darlegen, dass es auf eine entsprechende Anwendung des § 139 ZPO ankommt. Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht seine Entscheidung nach § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt nach § 139 Abs. 2 Satz 2 ZPO für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien. Hinweise nach dieser Vorschrift sind gemäß § 139 Abs. 4 ZPO so früh wie möglich zu erteilen. Die Vorschrift konkretisiert die richterliche Hinweispflicht. Diese ist aber für den Verwaltungsprozess insbesondere in § 86 Abs. 3 VwGO, aber auch in § 104 Abs. 1 VwGO und § 108 Abs. 2 VwGO geregelt, und zwar mit derselben Zielrichtung wie in der Zivilprozessordnung: Die Hinweispflicht dient der Wahrung rechtlichen Gehörs, soll insbesondere verhindern, dass die Beteiligten durch die Entscheidung des Gerichts überrascht werden. Hierdurch werden Umfang und Inhalt der erforderlichen Hinweise im Einzelfall bestimmt. Die Beklagten haben nicht dargelegt, dass das Verwaltungsgericht bei einer entsprechenden Anwendung des § 139 Abs. 2 ZPO hier andere, insbesondere weiterreichende Hinweise hätte erteilen müssen, als dies bei einer Anwendung nur der Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung der Fall gewesen wäre (vgl. auch BVerwG 7 B 106.02 -). Außerdem bestimmt § 139 Abs. 5 ZPO, dass das Gericht auf Antrag einer Partei, der eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich ist, eine Frist bestimmen soll, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann. Dass die Beklagten einen darauf zielenden Antrag gestellt hätten, legen sie ebenfalls nicht dar.

bb) Die weitere Frage, ob "ein nach Bundesrecht und dem darauf beruhenden innerkörperschaftlichen Recht für eine bestimmte Tätigkeit einwandfrei gewähltes Organ sein Amt schon vor der Neuwahl (verliert), wenn durch eine spätere normative Neuregelung für dieses Amt eine andere Zusammensetzung vorgesehen ist, ohne dass ein solcher Amtsverlust in der Neuregelung vorgesehen ist, oder das Organ bis zu seiner Neuwahl (fortbesteht), wenn nicht normativ etwas anderes geregelt ist", betrifft, auch wenn sie auf "Bundesrecht" bezogen ist, die Auslegung der Wahlordnungen der Beklagten, die nicht zum revisiblen Recht gehören (vgl. BVerwG 1 C 19.97 - Buchholz 451.09 IHKG Nr. 13, S. 18 = GewArch 1999, 73 <75>). Das Oberverwaltungsgericht hat seine tragende Begründung (UA S. 34 unten, 35 oben) ausschließlich in Auslegung und Anwendung des § 8 der Wahlordnungen der Beklagten in alter und in neuer Fassung gewonnen und namentlich berücksichtigt, dass die Wahlordnung neuer Fassung keine Übergangsregelung hinsichtlich der Wahlen 2001 enthielt. Damit weist die Frage außerdem nicht über den Einzelfall hinaus.

cc) Mit ihrer dritten Frage möchten die Beklagten geklärt wissen, ob nach allgemeinen bundesrechtlichen Wahlgrundsätzen ein Gericht auf die Prüfung der rechtzeitig von dem Anfechtenden vorgebrachten Anfechtungsgründe beschränkt ist, so lange nicht in den die Wahlanfechtung regelnden Normen Abweichendes vorgesehen ist. Auch diese Frage führt nicht auf eine Problematik des revisiblen Rechts. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Rechtsauffassung, dass seine Prüfung nicht auf die von der Klägerin innerhalb der Einspruchsfrist vorgebrachten Gründe beschränkt sei, ausschließlich durch Auslegung und Anwendung des § 15 der Wahlordnung gewonnen. Es hat lediglich ergänzend darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Wahlprüfungssachen zu keinem anderen Ergebnis führe, weil sie auf den jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen über die Gültigkeit von politischen Wahlen beruhten. Das Berufungsgericht hat sich nicht durch Vorschriften des Bundesrechts gehalten gesehen, das irrevisible Recht in einer bestimmten Weise auszulegen. Anders als § 101 Abs. 3 HwO (dazu BVerwG 6 C 21.01 - Buchholz 451.45 § 93 HwO Nr. 1 = GewArch 2002, 432) enthält das Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern keine Vorschriften über den Einspruch gegen Wahlen (vgl. § 5 IHKG).

dd) Die von den Beklagten weiter aufgeworfene Problematik, nach welchen Maßstäben sich bestimmt, ob ein vom Gericht angenommener Wahlmangel so schwer ist, dass die Wahl für ungültig erklärt werden wird, berücksichtigt nicht, dass sich die Schwere eines Wahlrechtsverstoßes nur nach Maßgabe des für die jeweilige Wahl geltenden Rechts bemessen lässt. Wird die Wahl nach nicht revisiblem Recht durchgeführt, beurteilt sich auch die Schwere eines Wahlrechtsverstoßes nach diesem Recht, hier also nach der Wahlordnung der Beklagten. Die Beschwerdebegründung weist mit Recht darauf hin, dass sich die Beurteilung der Schwere eines Wahlfehlers rechtlich ableiten und begründen lassen muss. Maßstab dafür ist das jeweilige Wahlrecht.

3. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
UAAAC-12970