BVerwG Urteil v. - 1 C 20.03

Leitsatz

Die seit Juni 2000 geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG, die für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten nicht mehr eine vierjährige, sondern nur noch eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft voraussetzt, ist auf Verlängerungsanträge, die bei In-Kraft-Treten der Neuregelung noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind, auch dann anzuwenden, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft bereits vor diesem Zeitpunkt geendet hat.

Gesetze: AuslG § 12 Abs. 2 Satz 2; AuslG § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1; AuslG § 19 Abs. 2; AuslG § 23 Abs. 3

Instanzenzug: VG Berlin VG 21 A 296.01 vom

Gründe

I.

Der Kläger, ein 1958 geborener türkischer Staatsangehöriger, erstrebt die Erteilung einer eheunabhängigen Aufenthaltserlaubnis.

Er heiratete im März 1994 in der Türkei eine deutsche Staatsangehörige und reiste im Dezember 1994 mit einem Visum zur Familienzusammenführung nach Deutschland ein. Der Beklagte erteilte ihm im Hinblick auf seine Ehe im Januar 1995 eine bis Januar 1998 gültige Aufenthaltserlaubnis und verlängerte sie im April 1998 um drei Jahre. Im März 2001 beantragte der Kläger, die Aufenthaltserlaubnis abermals zu verlängern. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom ab. Zur Begründung führte er aus, der Kläger habe kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 19 AuslG erworben. Die Eheleute hätten lediglich (von Dezember 1994) bis Mai 1998 zusammengelebt; im März 2000 sei die Ehe in der Türkei geschieden worden.

Ohne Erfolg betrieb der Kläger ein Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Seine Klage wies das Verwaltungsgericht im Mai 2003 ab. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen darauf hingewiesen, der Kläger könne sich nicht auf die seit Juni 2000 geltende Neufassung des § 19 AuslG berufen, die statt der zuvor erforderlichen vierjährigen nur noch eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft voraussetze; die Neufassung sei nicht auf Fälle anwendbar, in denen die eheliche Lebensgemeinschaft bereits vor In-Kraft-Treten der Neuregelung aufgelöst worden sei.

Mit seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision macht der Kläger geltend, dass die Neufassung des § 19 AuslG auch seinen Fall erfasse.

Der Beklagte verteidigt demgegenüber die verwaltungsgerichtliche Entscheidung.

Im Laufe des Revisionsverfahrens hat der Kläger erneut eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Der Beklagte hat ihm daraufhin im März 2004 eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt.

II.

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Neufassung des § 19 AuslG im Falle des Klägers nicht gilt und deshalb einen Anspruch des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis rechtsfehlerhaft verneint.

Da der Beklagte dem Kläger inzwischen eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt hat, ist lediglich noch darüber zu befinden, ob dem Kläger für den Zeitraum vom bis zum , für den er keine Aufenthaltserlaubnis besitzt, ein Aufenthaltsrecht zusteht. Im Hinblick auf seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung hat er ein schutzwürdiges Interesse an der Klärung dieser Frage (vgl. Urteil des Senats vom - BVerwG 1 C 14.97 - Buchholz 402.240 § 24 AuslG 1990 Nr. 3 m.w.N.).

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den fraglichen Zeitraum kommt allein nach Maßgabe des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4, Abs. 2 AuslG i.V.m. § 23 Abs. 3 AuslG in Betracht.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die für den Kläger günstigere, seit dem geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG anzuwenden (BGBl I S. 742). Danach wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, von dem in § 17 Abs. 1 AuslG bezeichneten Aufenthaltszweck unabhängiges Aufenthaltsrecht verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat und der deutsche Ehegatte bis zum Eintritt dieser Voraussetzung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte (vgl. § 23 Abs. 3 AuslG). Zur Erlangung eines eigenständigen, eheunabhängigen Aufenthaltsrechts ist damit nicht mehr wie bisher eine vierjährige, sondern lediglich eine zweijährige Bestandsdauer der ehelichen Lebensgemeinschaft erforderlich. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Neufassung. Denn nach den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts hat der Kläger mit seiner (ersten) deutschen Ehefrau keine vier Jahre, aber doch länger als zwei Jahre in ehelicher Gemeinschaft zusammengelebt.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich insoweit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen, als es um die Frage geht, ob schon aus Rechtsgründen eine Erlaubnis erteilt oder versagt werden muss (vgl. BVerwG 1 C 6.01 - BVerwGE 115, 352 <354> = Buchholz 402.240 § 24 AuslG Nr. 4 m.w.N.). Danach ist hier der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht im Mai 2003 maßgeblich, zu dem die Neufassung des § 19 AuslG bereits seit nahezu drei Jahren in Kraft war (vgl. zu einer vergleichbaren Problematik bei § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG Urteil des Senats vom - BVerwG 1 C 28.96 - Buchholz 402.240 § 19 AuslG 1990 Nr. 4). Dem Regelungsgehalt des § 19 AuslG oder anderer Vorschriften des im Mai 2000 geänderten Ausländergesetzes ist nicht zu entnehmen, dass im Hinblick auf "Altfälle" wie den des Klägers, in denen die Ehe bereits vor In-Kraft-Treten der Neufassung gescheitert war, von einem früheren Zeitpunkt auszugehen ist. So fehlt insbesondere eine Übergangsvorschrift, die derartige "Altfälle" von der Neuregelung ausnimmt. Auch der Wortlaut des neu gefassten § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG, in dem lediglich das Wort "vier" (Jahre) durch das Wort "zwei" (Jahre) ersetzt worden ist, deutet nicht darauf hin, dass die Neuregelung Verlängerungsverfahren, die bei ihrem In-Kraft-Treten im Juni 2000 noch anhängig gewesen sind, nicht hat erfassen wollen.

Die Entstehungsgeschichte und die Begründung des Änderungsgesetzes lassen ebenfalls nicht erkennen, dass die Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG auf solche noch anhängigen "Altfälle" keine Anwendung finden soll. Die Frage, ob die Neufassung die noch nicht abgeschlossenen Fälle bereits gescheiterter Ehen einbeziehen oder ausnehmen soll, ist bei den Beratungen des Gesetzes nicht erörtert worden. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es allgemein, die vorangegangene Novellierung des § 19 AuslG im Jahre 1997 habe "in der Praxis ... zu zahlreichen Auslegungsproblemen und Unzuträglichkeiten geführt". Zu § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG wird ausgeführt, als "generelle Grenze für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts ist ein Zeitraum von zwei Jahren, in denen die eheliche Lebensgemeinschaft im Inland geführt wurde, angemessen" (BTDrucks 14/2368 S. 4). Seitens der Regierungsfraktionen wurde betont, das Maß an Integration, das zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts im Regelfall erreicht werden sollte, sei auch bei einer Halbierung der Ehebestandsdauer gewährleistet (vgl. den Redebeitrag der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister des Innern Sonntag-Wolgast, Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 85. Sitzung vom , Prot. S. 7883/B).

Schließlich gebietet auch die Gesetzessystematik nicht, "Altfälle" wie den des Klägers von der Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG auszunehmen. Einzelne Oberverwaltungsgerichte vertreten zwar die Auffassung, die Neufassung sei nur anwendbar, wenn sie bereits im Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft gegolten habe, und erfasse daher Fälle wie den vorliegenden nicht. Sie verweisen darauf, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht des Ehegatten erst bei Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft entstehe, nämlich sich zu diesem Zeitpunkt von einem abgeleiteten, akzessorischen Aufenthaltsrecht zu einem selbständigen Aufenthaltsrecht wandele; auch der Zusammenhang mit der Regelung eines sog. Eingliederungsjahres in § 19 Abs. 2 Satz 1 AuslG mache deutlich, dass jedenfalls aus Gründen der Gleichbehandlung vom Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ausgegangen werden müsse (vgl. EzAR 023 Nr. 30; OVG Lüneburg, Beschluss vom , InfAuslR 2001, 281; 8 S 9.01 - NVwZ 2001, Beilage Nr. 10 S. 116 <nur Leitsatz>; vgl. auch Renner, Nachtrag "Staatsangehörigkeitsrecht" zur 7. Aufl. des Kommentars zum Ausländerrecht, § 19 AuslG Rn. 42 und 45; Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 19 AuslG Rn. 7). Dieser Auffassung sind die anderen Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe zu Recht nicht gefolgt. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass § 19 AuslG in allen seinen Regelungen mit Ausnahme der ausdrücklichen Bestimmung in Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 nicht an die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, sondern an den Ablauf der bisherigen Aufenthaltserlaubnis anknüpft. Die "Umwandlung" bzw. Verselbständigung einer Aufenthaltserlaubnis vor Ablauf ihrer Geltungsdauer, die das Ausländerrecht in anderen Zusammenhängen kennt (vgl. z.B. § 21 Abs. 3 AuslG), ist in § 19 AuslG gerade nicht geregelt. Im Hinblick auf die in § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG allgemein vorgesehene Befugnis, befristet erteilte Aufenthaltserlaubnisse bei Wegfall einer wesentlichen Erteilungsvoraussetzung nachträglich zeitlich zu beschränken, können aus dem Wegfall oder einer sonstigen gravierenden Veränderung einer Erteilungsvoraussetzung unmittelbar nur dann aufenthaltsrechtliche Folgerungen gezogen werden, wenn dies im Gesetz ausdrücklich angelegt ist. Im Übrigen hat der erkennende Senat bereits in einer früheren Entscheidung zum Aufenthaltsrecht gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 AuslG nicht auf die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft, sondern auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgestellt (vgl. BVerwG 1 C 7.94 - BVerwGE 98, 313 <317>). Hieran wird festgehalten. Soweit die Gegenmeinung sich schließlich darauf beruft, dass die Anwendung der Neuregelung in Fällen einer schon vor In-Kraft-Treten des Gesetzes gescheiterten Ehe diejenigen Ausländer ungerechtfertigt privilegiere, die diesen Umstand nicht sogleich der Ausländerbehörde mitgeteilt hätten und deren Aufenthaltserlaubnis noch einen längeren Zeitraum gelte, berücksichtigt sie nicht, dass es die Ausländerbehörde in der Hand hat, solche Privilegierungen zu verhindern, indem sie der eheabhängigen Aufenthaltserlaubnis von vornherein entsprechende Nebenbestimmungen beifügt (etwa eine auflösende Bedingung für den Fall der Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft und eine Auflage über die Pflicht zu deren Mitteilung). Dieses - auch unabhängig von der Gesetzesänderung bestehende - Problem gibt deshalb keinen Anlass, die zeitliche Geltung der Neuregelung anders zu beurteilen.

Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass die seit dem geltende Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG keine Veranlassung gibt, Verfahren, die bei In-Kraft-Treten der Neuregelung bereits unanfechtbar abgeschlossen waren, wieder aufzugreifen. Nach ihrem zeitlichen Geltungswillen erstreckt sich die Neuregelung nicht auf diese Verfahren. Sie gilt nicht rückwirkend und stellt auch keine nachträgliche Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar.

Die Neufassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG kommt dem Kläger demnach zugute. Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 AuslG ist der Beklagte verpflichtet, die (frühere) Aufenthaltserlaubnis des Klägers für ein Jahr - hier für die Zeit vom bis zum - zu verlängern. Dabei steht dieser Verlängerung eine etwaige Inanspruchnahme von Sozialhilfe in dieser Zeit grundsätzlich nicht entgegen (vgl. § 19 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz AuslG). Da der Kläger rechtlich keine Möglichkeit hatte, in dem fraglichen Zeitraum einer Beschäftigung nachzugehen, bleibt es bei der in § 19 Abs. 2 Satz 1 AuslG vorgesehenen Regelung (vgl. Urteil des Senats vom - BVerwG 1 C 7.94 - BVerwGE 98, 313 <317>).

Ob die Aufenthaltserlaubnis des Klägers für die Zeit vom bis zum weiter verlängert wird, steht gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 AuslG im Ermessen der Ausländerbehörde. Der Beklagte hat eine derartige Ermessensentscheidung bisher nicht getroffen. Er ist daher nachträglich zur (Neu-)Bescheidung des vom Kläger gestellten Verlängerungsantrages verpflichtet.

Die Abschiebungsandrohung ist, sofern sie im Ablehnungsbescheid des Beklagten überhaupt wirksam verfügt worden ist, durch die dem Kläger im März 2004 erteilte Aufenthaltserlaubnis gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren wird auf 4 000 € festgesetzt (§ 13 Abs. 1 und § 14 GKG).

Fundstelle(n):
WAAAC-12054