BGH Beschluss v. - 1 StR 271/05

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StPO § 349 Abs. 2; StPO § 147

Instanzenzug: LG Freiburg vom

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem früheren Strafbefehlsverfahren zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Wochen verurteilt. Nach den Feststellungen führten abwechselnd der Angeklagte sowie der anderweitig Verfolgte W. mit dessen langjähriger Lebensgefährtin P. gegen deren erkennbaren Willen den vaginalen und analen Geschlechtsverkehr durch. Bei den sexuellen Übergriffen fügten sowohl der Angeklagte als auch W. dem Tatopfer starke Schmerzen zu, was die Geschädigte lautstark zum Ausdruck brachte. Während der Angeklagte mit der Geschädigten anal verkehrte, verdrehte W. - was der Angeklagte erkannte - gewaltsam und schmerzhaft ihre Brustwarzen bis zum Blutigwerden und schlug sie wiederholt heftig auf den Bauch. Der Angeklagte kniff ihr während des Analverkehrs heftig in die Scheide. Anschließend führte der Angeklagte bei der Geschädigten den Flaschenhals einer leeren Sektflasche in die Vagina und dann in den After ein. W. kommentierte die Gewalthandlungen mit den Worten: "Das magst Du doch". Der Angeklagte, der den äußeren Geschehensablauf eingeräumt hat, wendet sich gegen das Urteil mit Verfahrensrügen und der Sachrüge; er erstrebt eine Verurteilung mit Strafaussetzung zur Bewährung. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Die Revision deckt mit ihren Verfahrensbeschwerden keinen durchgreifenden Verfahrensfehler auf. Die Überprüfung des Schuldspruchs und des Strafausspruchs aufgrund der Sachrüge hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

2. Der Erörterung bedarf nur die Verfahrensrüge, mit der die Revision vorbringt, der Verteidigung sei "nicht zugänglich gemacht [worden], dass neue Erkenntnisse aus dem Verfahren zu den Akten gelangt [seien], deren Auswertung zudem weitere Beweiserhebungen nahe gelegt hätten". Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

a) Unmittelbar nachdem die Strafkammer im Januar 2005 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und die Hauptverhandlung auf den terminiert hatte, ging bei der Kammer ein von der Staatsanwaltschaft übersandter umfangreicher Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei L. zur Kenntnisnahme im Verfahren gegen den Angeklagten ein. Gegenstand dieses Berichts war ein gegen W. geführtes Ermittlungsverfahren wegen Mordes an einer Schülerin und weiterer Straftaten gegen andere Geschädigte. Die Revision beanstandet, das Landgericht habe der Verteidigung zur Vorbereitung der Hauptverhandlung verschiedene Schriftstücke zur Kenntnisnahme zugeleitet, der sehr umfangreiche Ermittlungsbericht (GA S. 603 bis S. 847) sei ihr jedoch nicht übersandt worden. Auch seien ihr keine Hinweise über den Eingang gegeben worden.

Die Revision, die erst zur Vorbereitung des Revisionsverfahrens von dem Ermittlungsbericht Kenntnis erhielt, behauptet, aus diesem ergäben sich weitere Beweismittel, die in das Verfahren hätten eingeführt werden müssen. So enthalte der Bericht Aussagen über das langjährige Verhältnis zwischen der Zeugin P. durch den gesondert Verfolgten W. sowie einen Videomitschnitt über die Behandlung der Geschädigten durch W. . Die Revision ist der Auffassung, es stelle einen Verfahrensfehler dar, diesen Videomitschnitt nicht in das Verfahren eingeführt zu haben.

b) Der Senat versteht das Revisionsvorbringen dahin, dass das Landgericht seine Aufklärungspflicht und das Gebot des fairen Verfahrens verletzt habe. Die Rüge greift - unbeschadet der vom Generalbundesanwalt aufgeworfenen Frage, ob sie zulässig erhoben worden ist - im Ergebnis nicht durch.

Dem Tatgericht, dem in der Hauptverhandlung durch die Staatsanwaltschaft neue verfahrensbezogene Ermittlungsergebnisse zugänglich gemacht werden, erwächst aus dem Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 MRK in Verbindung mit § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten und seinem Verteidiger durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst nicht für entscheidungserheblich hält; denn es muss den übrigen Verfahrensbeteiligten überlassen bleiben, selbst zu beurteilen, ob es sich um relevante Umstände handelt (vgl. BGH StV 2001, 4 = BGHR StPO vor § 1 faires Verfahren Hinweispflicht 5 m. w. Nachw.). Diese Hinweispflicht kann grundsätzlich auch schon für das Verfahren zwischen Eröffnungsbeschluss und Hauptverhandlung gelten.

Hier kann ein Beruhen des Urteils auf der unterbliebenen Unterrichtung ausgeschlossen werden. Auch war die vermisste Beiziehung des Videomitschnitts nicht von der Aufklärungspflicht geboten. Der Senat kann nach dem Revisionsvorbringen zur behaupteten Beweisrelevanz des Berichts ausschließen, dass sich der Angeklagte auch bei einem Hinweis auf den Ermittlungsbericht anders als geschehen hätte verteidigen können.

Die Revision trägt nämlich mit Blick auf den Ermittlungsbericht im Wesentlichen vor, das Landgericht habe dem Angeklagten zu Unrecht unterstellt, er habe der Geschädigten erhebliche Schmerzen zugefügt. Die Strafkammer habe sich zur Frage der Erheblichkeit der Schmerzen nicht allein auf die Aussage der Zeugin P. stützen dürfen; sie habe nämlich nicht ausreichend aufgeklärt, welche Schmerzen zu ertragen die Zeugin P. überhaupt in der Lage gewesen sei. Zwar ergebe sich aus dem Urteil, dass die Geschädigte von W. über Jahre in erheblichem Umfang mit Schlägen u. a. geradezu gemartert worden sei. Nach Einsichtnahme in den Ermittlungsbericht und in den Videomitschnitt sei aber nicht auszuschließen, dass bei der Zeugin eine andere, nämlich höhere Schmerztoleranz gegenüber dem Durchschnitt gegeben sei. Im Zusammenhang damit, dass die Zeugin von W. auch mit noch größeren Schmerzzufügungen bestraft worden sei, sei es sogar nahe liegend, dass die Zeugin - trotz Schmerzempfindung - Schmerzbekundungen nicht laut äußere. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie diese in der nach Jahren gemachten Zeugenaussage als laut geäußert dargestellt habe, weil sich Wirklichkeit und Fiktion vermischt hätten. Jedenfalls könne der Videomitschnitt, auf dem zu sehen sei, dass W. der Zeugin P. sogar Gewichte an Brüsten und Schamlippen befestigt habe, weitaus mehr Aufschluss darüber geben, welche Schmerzen die Zeugin P. zu ertragen in der Lage sei, als jede Aussage der Zeugin, die sie mehr als vier Jahre nach der Tat gemacht habe.

Angesichts der vom Landgericht getroffenen Feststellungen zum Geschehensablauf und über die Behandlung der Geschädigten während der Vergewaltigung, die der Angeklagte im Wesentlichen bestätigt hat, erscheinen die Spekulationen der Verteidigung zu einer gesteigerten Schmerztoleranz der Geschädigten als zynisch. Es ist nicht nachvollziehbar, dass dadurch das Verhalten des Angeklagten in einem milderen Licht erscheinen soll.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
CAAAC-11683

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