Leitsatz
[1] Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beginnt für den bei der Urteilsverkündung abwesenden Betroffenen auch dann mit der Zustellung des Urteils, wenn dieses nicht mit Gründen versehen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vorlagen.
Gesetze: OWiG § 77 b Abs. 1 Satz 3; GVG § 121 Abs. 2
Instanzenzug: OLG Koblenz 2 Ss 245/03 vom
Gründe
I.
1. Der Betroffene wurde durch das Amtsgericht Linz am Rhein am wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerorts um 65 km/h zu einer Geldbuße von 400 € verurteilt. Daneben wurde ein Fahrverbot von zwei Monaten angeordnet. An der Hauptverhandlung hatten weder der von der Anwesenheitspflicht gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entbundene Betroffene noch ein Verteidiger teilgenommen. Das Urteil, das keine Gründe enthielt, wurde dem Betroffenen am zugestellt. Hiergegen legte er durch seinen Verteidiger am Rechtsbeschwerde ein, die er mit am bei dem Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz begründet hat. Das Amtsgericht Linz verwarf die Rechtsbeschwerde am als unzulässig, weil sie verspätet eingelegt worden sei. Die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels habe mit der Zustellung des Urteils am begonnen. Von einer schriftlichen Begründung des Urteils habe nach § 77 b Abs. 1 Satz 1 OWiG abgesehen werden können, weil innerhalb der Frist keine Rechtsbeschwerde eingelegt worden sei. Hiergegen beantragte die Verteidigung mit am eingegangenem Schriftsatz gemäß § 346 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
2. Das zur Entscheidung berufene Oberlandesgericht Koblenz hält die Rechtsbeschwerde für zulässig und beabsichtigt, den Beschluß des Amtsgerichts Linz am Rhein vom auf den Antrag des Betroffenen aufzuheben, weil die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels durch die Zustellung des fehlerhaft nicht mit Gründen versehenen Urteils am nicht in Gang gesetzt worden sei. Die Voraussetzungen, bei denen nach § 77 b Abs. 1 OWiG von der schriftlichen Begründung eines im Ordnungswidrigkeitenverfahren ergangenen Urteils abgesehen werden könne, hätten nicht vorgelegen. Da - wie im Strafverfahren allgemein anerkannt sei - bei einem in Abwesenheit des Anfechtungsberechtigten verkündeten Urteil nur die Zustellung eines vollständigen, d.h. eines auch mit Gründen versehenen Urteils die Einlegungsfrist in Lauf setze, liege eine wirksame Zustellung bisher nicht vor. Das Amtsgericht könne allerdings das Urteil nachträglich begründen und das begründete Urteil zustellen und damit die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist in Lauf setzen. Allerdings könnten die nachgeschobenen Urteilsgründe im Rechtsbeschwerdeverfahren im übrigen - also bei der Überprüfung des Urteils auf die Begründetheit der Rechtsbeschwerde - keine Berücksichtigung finden.
An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht durch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Jena vom (1 Ws 30/03, NStZ-RR 2003, 273) gehindert. Dieses ist bei einer Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist davon ausgegangen, daß auch die Zustellung eines unzulässig abgekürzten Urteils für den Betroffenen die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde und dadurch mittelbar auch die sich an die Einlegungsfrist anschließende Monatsfrist zur Begründung der Rechtsbeschwerde (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO) in Lauf setze.
Das Oberlandesgericht Koblenz hat deshalb die Sache gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung und Beantwortung der Rechtsfrage vorgelegt:
"Beginnt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den Betroffenen mit der Zustellung eines nicht mit Gründen versehenen Urteils, wenn das Urteil gemäß § 74 Abs. 1 StPO (gemeint: OWiG) in seiner Abwesenheit ergangen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vorliegen?"
3. Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
"Ist das Urteil gemäß § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen ergangen und liegen die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vor, läuft die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde erst mit Zustellung eines mit Gründen versehenen Urteils."
Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt, daß nach allgemeiner Ansicht die Rechtsmittelfrist gegen ein im Strafverfahren ergangenes Abwesenheitsurteil erst mit der Zustellung eines mit Gründen versehenen Urteils beginnt. Dies gelte nach § 79 Abs. 3 OWiG grundsätzlich auch für die Zustellung von Entscheidungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren, die gemäß § 74 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen ergangen seien. Zwar lasse die Spezialregelung des § 77 b Abs. 1 OWiG in bestimmten Ausnahmefällen das Absehen von Urteilsgründen und damit die Zustellung allein der Urteilsformel zu, ein solcher Fall sei hier jedoch nicht gegeben. Einer erweiternden Auslegung oder analogen Anwendung stünden der Regelungszweck der Norm, den abwesenden Betroffenen über die Entscheidungsgründe zu unterrichten, und verfassungsrechtliche Bedenken entgegen.
II.
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG liegen vor.
Das Oberlandesgericht Koblenz kann in dem von ihm beabsichtigten Sinne nicht entscheiden, ohne in einer Rechtsfrage von dem Beschluß des Oberlandesgerichts Jena abzuweichen. Das Oberlandesgericht Jena hatte zwar unmittelbar nur über die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde in einem Fall zu befinden, bei dem diese innerhalb einer Woche nach Zustellung eines Urteils ohne Urteilsbegründung eingelegt worden war. Die Rechtsbeschwerde war jedoch nicht innerhalb der an die Einlegungsfrist anschließenden Begründungsfrist begründet worden, sondern erst nach Zustellung des nachträglich mit Gründen versehenen Urteils. Über die Rechtsfrage, ob die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist durch die Zustellung des unzulässig nicht begründeten Urteils in Gang gesetzt worden war, hat es jedoch inzidenter entschieden, weil es für den Beginn der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde nach §§ 341 Abs. 2, 345 Abs. 1 Satz 1 StPO auf den Ablauf der mit der Zustellung des abgekürzten Urteils in Gang gesetzten Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist ankam.
III.
In der Sache folgt der Senat der Rechtsansicht des vorlegenden Oberlandesgerichts nicht:
1. Ist der Betroffene - wie hier - bei der Urteilsverkündung nicht anwesend, beginnt nach § 79 Abs. 4 OWiG die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist für ihn mit der Zustellung des Urteils (entsprechend der Regelung im Strafverfahren nach § 341 StPO). Da die Zustellung von Schriftstücken als Mittel der Gewährung rechtlichen Gehörs dazu dienen soll, dem Adressaten Gelegenheit zu geben, von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen (BGH NJW 1978, 1858; Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 35 Rdn. 17; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 35 Rdn. 10; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht 16. Aufl. § 72 I 1), setzt eine wirksame Zustellung voraus, daß ihm das Schriftstück auch vollständig zugänglich gemacht wird. Weil im Strafverfahren Urteile mit Gründen zu versehen sind, erfordert dies grundsätzlich, daß das Urteil mit (ggfs. abgekürzten) Gründen und nicht nur die Urteilsformel zugestellt wird.
2. Für das Ordnungswidrigkeitenverfahren gilt im Grundsatz nichts anderes. Es besteht allerdings die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen von einer schriftlichen Urteilsbegründung ganz abzusehen. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn das Urteil mit der Rechtsbeschwerde nicht angefochten oder auf Rechtsmittel verzichtet wird (§ 77 b Abs. 1 OWiG). Findet die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Betroffenen statt und war dieser von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, ist seine Rechtsmittelverzichtserklärung unter bestimmten Voraussetzungen entbehrlich.
a) Daß bei einem zulässigen Absehen von einer schriftlichen Urteilsbegründung die Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde in Gang setzt, erfordern Sinn und Zweck der Vorschrift, mit der eine Vereinfachung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens erreicht werden soll, und ist unstreitig (vgl. BGHSt 44, 190, 193; BayObLG JR 1996, 433 = NStZ-RR 1997, 48 zu § 77 b a.F.; OLG Celle Nds. Rpfl. 1990, 257; Senge in KK-OWiG 2. Aufl. § 77 b Rdn. 16). Dem steht nicht entgegen, daß in diesen Fällen die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde erst beginnt, wenn das Urteil mit den zulässigerweise nachgeschobenen Gründen zugestellt worden ist (BGHSt 44, 190, 193).
b) Ein Fall, bei dem von der Urteilsbegründung abgesehen werden konnte, war hier jedoch nicht gegeben. Die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OWiG - von denen das Amtsgericht ausgegangen ist - lagen nicht vor, da die Sonderregelung des § 77 b Abs. 1 OWiG nicht auf das Abwesenheitsverfahren nach § 74 OWiG anwendbar ist, es sei denn, § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG greift ein (Senge aaO 4; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG § 77 b Rdn. 3). Ein Absehen von der Begründung gemäß § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG kam nicht in Betracht, weil eine Verzichtserklärung des Betroffenen hier weder vorlag noch entbehrlich war. Der Betroffene war bei der in seiner Abwesenheit stattfindenden Hauptverhandlung nicht anwaltlich vertreten, die gegen ihn verhängten Sanktionen überschritten die Grenzen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG.
3. Das unzulässige Absehen von den Urteilsgründen führt jedoch nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung des nur aus der Urteilsformel bestehenden Urteils an den Betroffenen. Denn der Zweck des Zustellungsverfahrens, den Adressaten der Urteilsurkunde in die Lage zu versetzen, das vollständige Schriftstück zur Kenntnis zu nehmen, ist auch in diesem Fall erfüllt, weil das im konkreten Verfahren vorliegende Urteil vom Richter in dieser Form abgefaßt, als verfahrensabschließend gewollt und aus dem inneren Dienstbetrieb herausgegeben worden ist (vgl. auch KG NZV 1992, 332; OLG Celle Nds. Rpfl. 1990, 257). Für das Ordnungswidrigkeitenverfahren ist in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Zustellung eines unzulässigerweise nicht mit Gründen versehenen Urteils denn auch überwiegend als wirksam angesehen worden (u. a. BayObLG NStZ 1992, 136; wohl auch OLG Stuttgart ZfS 1996, 434, das für die Unwirksamkeit der Zustellung lediglich auf die fehlende Verteidigervollmacht und die unwirksame Anordnung der Zustellung, nicht aber auf das Fehlen der Urteilsgründe abstellt).
Daß nach Rechtsprechung und h. M. (BGHSt 25, 234; Meyer-Goßner aaO § 341 Rdn. 11, Hanack in Löwe/Rosenberg aaO § 341 Rdn. 21, § 345 Rdn. 6; Mutzbauer in KMR, StPO § 341 Rdn. 72; Lintz JR 1977, 127) eine wirksame Urteilszustellung im Strafverfahren grundsätzlich nur dann vorliegt, wenn das mit Gründen versehene Urteil zugestellt wird, steht dem nicht entgegen. Da ein Strafurteil - anders als ein Urteil im Ordnungswidrigkeitenverfahren - nach § 267 StPO zwingend mit - sei es auch abgekürzten - Gründen zu versehen ist, ist ein Fall, bei dem das Gericht rechtsirrig davon ausgegangen sein könnte, von einer Begründung des Urteils gänzlich absehen zu können, kaum denkbar und, soweit ersichtlich, bisher nicht entschieden. Die von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle betreffen andere Sachverhalte.
So ist der Bundesgerichtshof bei einem unzulässig nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil auch nicht davon ausgegangen, daß die Zustellung unwirksam sei, weil die Urteilsgründe unvollständig seien, sondern hat den auf Verfristung gestützten Verwerfungsbeschluß des Landgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO aus anderen Gründen aufgehoben (BGH MDR 1990, 490). Auch im übrigen hat der Bundesgerichtshof bei Urteilen, die bereits in ihrer Urschrift Auslassungen aufwiesen, in diesem Sinne "unvollständig" waren, nicht generell einen die Wirksamkeit der Zustellung hindernden Verstoß gesehen (vgl. etwa BGH NStZ 1989, 584 und 1994, 47 f. [Rubrum lückenhaft]; NJW 1999, 800 [Tenor unvollständig]; BGHSt 46, 204 [Fehlen einer Unterschrift]). Denn in derartigen Fällen handelt es sich gerade nicht um einen Mangel der Zustellung, sondern um einen Fehler des Urteils selbst (BGHSt 46, 204, 205). In diesem Sinne besagt der Grundsatz, daß ein Urteil vollständig, d. h. mit Gründen zugestellt werden muß, daher nicht mehr, als das die zugestellte Urteilsausfertigung die abgesetzten, d. h. vorhandenen Urteilsgründe enthalten muß.
4. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts verstößt dieses Ergebnis auch nicht gegen gesetzessystematische oder verfassungsrechtliche Grundsätze.
a) Der Fall eines unzulässigerweise nicht mit Gründen versehenen Urteils ist im Gesetz nicht geregelt. Auch aus der Ratio des § 77 b OWiG folgt nicht, daß die Zustellung eines solchen Urteils unwirksam und nicht geeignet ist, Rechtsmittelfristen in Lauf zu setzen. Daß diese Bestimmung, die das zulässige Absehen von Urteilsgründen und vor allem das zulässige Nachschieben von Urteilsgründen regelt, nicht einer am Sinn, Zweck und Regelungsgehalt des § 77 b OWiG orientierten Auslegung und Anwendung auch auf andere Fälle entgegensteht, hat der Bundesgerichtshof bereits für den Fall einer Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft entschieden. Danach ist bei einem irrtümlichen Absehen von schriftlichen Urteilsgründen nicht nur die Zustellung dieses Urteils an die Staatsanwaltschaft als wirksam erachtet worden, obwohl diese die Begründung des Urteils beantragt hatte, sondern auch das Nachschieben von Gründen für zulässig angesehen worden (BGHSt 43, 22, 28).
b) Ob diese Rechtsprechung zum Nachschieben von Urteilsgründen auf den Fall einer Rechtsbeschwerde des Betroffenen übertragbar ist, dem ein Urteil ohne Urteilsgründe zugestellt worden ist, obwohl die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 1, Satz 3 OWiG nicht vorlagen, ist in jener Entscheidung offen geblieben und muß auch hier nicht abschließend entschieden werden (zustimmend Gollwitzer Anmerkung zu BGHSt 43, 22 f. JR 1998, 77 f). Gegen eine Gleichbehandlung könnte allerdings sprechen, daß mit § 77 b OWiG zwar insgesamt der Zweck verfolgt wird, die Justiz zu entlasten (BGHSt 43, 22, 29), mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, bei denen für die Staatsanwaltschaft und für den Betroffenen eine Erklärung des Rechtsmittelverzichts entbehrlich ist, aber auch den Belangen des Betroffenen Rechnung getragen werden sollte.
c) Da die Urteilsgründe den Betroffenen über die vom Gericht getroffenen Feststellungen und die Rechtsauffassung des Gerichts informieren sollen, wird allerdings die Entscheidungsgrundlage des Betroffenen für die Frage, ob ein Rechtsmittel überhaupt eingelegt werden soll, verkürzt, wenn Urteilsgründe fehlen. Nach Auffassung des Senats sind dadurch gravierendere Nachteile für den Betroffenen als die nachteiligen Folgen, die sich aus der vom vorlegenden Gericht vorgeschlagenen Lösung ergäben, nicht zu besorgen.
aa) Bei den Ordnungswidrigkeitenverfahren handelt es sich um Massenverfahren, die auf eine einfache, schnelle und summarische Erledigung ausgerichtet sind (BGHSt 39, 291, 299; 41, 376, 381; 43, 22, 26) und denen in der Regel überschaubare Sachverhalte des täglichen Lebens zugrunde liegen. Der Betroffene, der zuvor einen Bußgeldbescheid erhalten hat, zu dem er angehört worden ist, weiß, was ihm vorgeworfen wird und welche Sanktion ihm droht. Wird er verurteilt, so mag er zwar auch dann von der Einlegung eines Rechtsmittels absehen, wenn er mit der Verurteilung nicht einverstanden ist, etwa weil er weiteren Aufwand an Zeit und Kosten scheut. Daß er allein deshalb von einer Urteilsanfechtung absieht, weil ihm die Urteilsgründe nicht mitgeteilt worden sind, erscheint nicht naheliegend. Im Gegenteil wird zu erwarten sein, daß der Betroffene gerade in diesem Fall an einer Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts interessiert ist.
bb) Soweit der Betroffene eine zulässige Rechtsbeschwerde einlegt, von der er bei ordnungsgemäßer Begründung des Urteils abgesehen hätte, entstehen ihm in der Sache dadurch keine Nachteile. Die Rechtsbeschwerde hätte schon mit der Erhebung der allgemeinen Sachrüge ohne weiteres Erfolg, weil ein Urteil ohne Urteilsgründe an einem sachlich-rechtlichen Mangel leidet. Die danach erforderliche erneute Verhandlung und der damit verbundene Zeitgewinn werden dem rechtsmitteleinlegenden Betroffenen regelmäßig erwünscht sein.
cc) Zu Recht weist der Generalbundesanwalt allerdings daraufhin, daß jedenfalls dann, wenn ein Nachschieben der Gründe nicht für zulässig erachtet wird, dem Betroffenen zusätzliche Kosten und Auslagen entstehen können, wenn die Rechtsbeschwerde durchgeführt und er nach Zurückverweisung verurteilt wird. Ein solcher Nachteil entsteht aber auch bei anderen Fehlern des Gerichts, die nur zu einem vorläufigen Erfolg in der Rechtsmittelinstanz führen und kann hier durch die Nichterhebung von Verfahrenskosten, die bei richtiger Sachbehandlung nicht entstanden wären (§ 8 Abs. 1 GKG a.F. = § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG n.F.), jedenfalls teilweise ausgeglichen werden.
d) Demgegenüber ist zu beachten, daß die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung sich nicht nur als wenig praktikabel erweist, sondern ihrerseits rechtsstaatlichen Bedenken begegnet:
aa) Das Nachholen der Urteilsbegründung allein zum Zwecke der Information des Betroffenen und zum Ingangsetzen der Rechtsmitteleinlegungsfrist, ohne daß sie im Rechtsbeschwerdeverfahren Berücksichtigung finden dürfte, ist mit den Zwecken des auf Vereinfachung und Beschleunigung angelegten Ordnungswidrigkeitenverfahrens nur schwer zu vereinbaren, zumal möglicherweise erst nach Monaten gefertigte Urteilsgründe auch ihrer Informationsfunktion nicht uneingeschränkt gerecht werden können. Angesichts der Vielzahl der Verfahren wird der Richter sich kaum an die jeweilige Hauptverhandlung erinnern können und sich deshalb möglicherweise mit einer Bezugnahme auf den Bußgeldbescheid begnügen. Zudem führt auch diese Lösung - da das Urteil wegen des Fehlens der Urteilsgründe an einem sachlich-rechtlichen Mangel leidet und auf die Rechtsbeschwerde aufzuheben ist - insoweit zu den gleichen dem Betroffenen nachteiligen kosten- und auslagenrechtlichen Konsequenzen. Zu einem anderen Ergebnis käme man nur, wenn man - wie es der Generalbundesanwalt offenbar erwägt - eine analoge Anwendung des § 77 b OWiG im Hinblick auf das Nachschieben der Urteilsgründe für zulässig erachtete. Diesen Fall hat der Senat jedoch nicht zu entscheiden.
bb) Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung führt insbesondere zu einem schwer erträglichen Zustand der Rechtsunsicherheit. Hinge die Wirksamkeit der Zustellung eines unzulässig nicht mit Gründen versehenen Urteils nämlich davon ab, daß es durch nachgeschobene Gründe ergänzt wird, könnte die Entscheidung erst nach der Zustellung des ergänzten Urteils rechtskräftig werden. War der Tatrichter irrtümlich davon ausgegangen, die Voraussetzungen für ein Absehen von den schriftlichen Gründen hätten vorgelegen, wird er sich regelmäßig erst durch die Einlegung der Rechtsbeschwerde veranlaßt sehen, die Urteilsgründe nachzuholen. Wird eine Rechtsbeschwerde aber nicht eingelegt, bleibt das Verfahren - worauf das Oberlandesgericht Jena zu Recht hingewiesen hat - dauerhaft in der Schwebe, weil die Verjährung gemäß § 32 Abs. 2 OWiG bis zur Rechtskraft des Urteils des ersten Rechtszugs gehemmt ist. Abgesehen davon, daß in diesem Fall die Gefahr der Vollstreckung nichtrechtskräftiger Urteile besteht, weil es jeweils zunächst der Prüfung bedürfte, ob die Voraussetzungen des § 77 b OWiG vorgelegen haben oder nicht, widerspräche ein solcher Schwebezustand dem Erfordernis der Rechtssicherheit. Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsgebots (BVerfGE 60, 253, 267 m.w.N.; Herzog in Maunz/Dürig, GG Art. 20 VII Rdn. 60 f.; Schnapp in von Münch, Grundgesetzkommentar 5. Aufl. Bd. II Art. 20 Rdn. 30) und ist, auch wo sie durch gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist zu verwirklichen (BVerfGE 60, 253, 269).
Bei Abwägung aller Umstände erscheint die Lösung, nach der auch die Zustellung der Urteilsformel die Rechtsmittelfrist in Gang setzt, vorzugswürdig. Sie entspricht - wie ausgeführt - auch den allgemeinen Grundsätzen zur Wirksamkeit der Zustellung von fehlerhaften Urteilen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
ZAAAC-10164
1Nachschlagewerk: ja