Leitsatz
[1] 1. Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht "neu" im Sinne des § 66 b StGB.
2. Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlich-keitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist.
3. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme folgt, dass sich die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt. Sie setzt daher voraus, dass die "nova" in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen.
Gesetze: StGB § 66 b Abs. 1; StGB § 66 b Abs. 2
Instanzenzug:
Gründe
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Der Verurteilte war vom wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden. Ferner wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hatte das Landgericht mit der Begründung verneint, dass ein Hang des Verurteilten zu erheblichen Straftaten nicht festgestellt werden könne. Gegenstand der Verurteilung war ein Tatgeschehen, in dessen Verlauf der infolge vorausgegangenen Drogen- und Alkoholgenusses in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte Verurteilte dem Tatopfer unter anderem mit großer Wucht mindestens 13 in den Kopf- und Halsbereich geführte Fußtritte versetzte, an deren Folgen es kurze Zeit später verstarb. Der Verurteilte befand sich zunächst im Maßregelvollzug. Am ordnete die zuständige Strafvollstreckungskammer an, dass die Unterbringung in der Entziehungsanstalt nicht weiter zu vollziehen sei. Nachdem die hiergegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten erfolglos geblieben war, wurde er am in den Strafvollzug verlegt. Als Entlassungstermin war zuletzt der vorgesehen.
Unter dem hat die Staatsanwaltschaft beantragt, die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Verurteilten nach § 66 b StGB anzuordnen. Am erging gegen den Verurteilten Unterbringungsbefehl gemäß § 275 a Abs. 6 StPO.
2. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB bejaht. Als "neue Tatsachen" im Sinne dieser Bestimmung hat es folgende Umstände gewertet: die "zwischenzeitlich verfestigte dissoziale Persönlichkeitsstörung" des Verurteilten, ein bei ihm festgestellter "frontal betonter Hirnsubstanzdefekt", seine wiederholten verbal-aggressiven Angriffe und Drohungen auf Bedienstete im Vollzug sowie seine Therapieunfähigkeit bzw. -unwilligkeit. Im Rahmen einer anschließenden Gesamtwürdigung ist es sachverständig beraten durch die Psychiater Dr. K. und W. zu der Einschätzung gelangt, dass der Verurteilte in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
3. Diese Beurteilung hält, wenn auch nicht in allen Punkten ihrer Begründung, so doch im Ergebnis rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Das Landgericht hat die Eingangsvoraussetzung des § 66 b Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil vom wegen Körperverletzung mit Todesfolge, d.h. wegen eines Verbrechens gegen die körperliche Unversehrtheit, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die die erforderliche Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt.
b) Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung setzt des Weiteren gemäß § 66 b Abs. 2 i.V.m Abs. 1 StGB voraus, dass nach der Verurteilung wegen einer der genannten Straftaten Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. An diese Voraussetzung, deren positive Feststellung erst das Tor zur anschließenden umfassenden Gesamtwürdigung öffnet (vgl. Kinzig JZ 2005, 1066, 1067; Ullenbruch NStZ 2005, 563, 564 ["Türöffner"]), sind strenge Anforderungen zu stellen. Bei der Anordnung der zeitlich nicht befristeten Maßregel der nachträglichen Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine den Verurteilten außerordentlich beschwerende Maßnahme. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein (BTDrucks. 15/2887 S. 10, 12 und 13; vgl. auch BVerfGE 109, 190, 236; BGH NStZ 2005, 561, 562). Dem Erfordernis der "neuen Tatsache" kommt dabei eine maßgebliche Filterfunktion zu.
aa) "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB sind zunächst nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562). Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht "neu" im Sinne des § 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch deren Nichtberücksichtigung entstanden sind, können nicht durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden (BGH aaO). Die bloße neue (abweichende) Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt daher keine "neue" Tatsache dar.
bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine "gewisse Erheblichkeitsschwelle" überschreiten (BTDrucks. aaO S.12; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff.1 Buchst. a) folgt, dass sich die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt und deshalb voraussetzt, dass die "nova" in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen.
c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das Landgericht ohne durchgreifenden Rechtsfehler von dem Vorliegen prognoserelevanter "neuer" Tatsachen ausgegangen.
aa) Allerdings begegnet die Auffassung des Landgerichts, die "zwischenzeitlich verfestigte dissoziale Persönlichkeitsstörung" des Angeklagten stelle eine "neue Tatsache" dar, rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat hierzu zur Begründung ausgeführt, zwar habe schon der vom früheren Tatrichter gehörte Sachverständige in seinem Gutachten Gesichtspunkte angeführt, welche zum Befund einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gehören. Eindeutig sei aber eine solche damals nicht festgestellt worden. Auch habe die damals erkennende Schwurgerichtskammer offenbar die Aussagen des Sachverständigen nicht im Sinne des Vorliegens einer dissozialen Persönlichkeitsstörung verstanden. Diese Feststellungen belegen nicht das Vorliegen einer "neuen Tatsache". Eine neue Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt - wie bereits ausgeführt - keine "neue" Tatsache dar. Soweit das Landgericht weiterhin darauf abstellt, die Persönlichkeitsstörung des Verurteilten sei "jedenfalls in ihrer nunmehrigen Qualifizierung und auch in ihrem Ausmaß" zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, auf welche konkrete "neue" (Anknüpfungs-) Tatsache sich diese Aussage gründet.
bb) Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Landgericht in dem nunmehr aufgrund einer Computertomographie bei dem Verurteilten festgestellten "frontal betonten Hirnsubstanzdefekt" eine "neue Tatsache" gesehen.
Zwar lag dieser Defekt nach Einschätzung der gehörten Sachverständigen, denen das Landgericht gefolgt ist, bereits zum Zeitpunkt der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden Tat vor und war mitursächlich für die "massive und impulshaft ausagierende Aggressionshandlung" des Verurteilten zum Nachteil des damals betroffenen Tatopfers. Er war jedoch nach den getroffenen Feststellungen für den damaligen Tatrichter nicht erkennbar, da der in jenem Verfahren gehörte Sachverständige einen Hirnschaden als Ursache seelischer Störungen ausdrücklich ausgeschlossen hatte. In Anbetracht dessen war der frühere Tatrichter auch nicht unter Aufklärungsgesichtspunkten gehalten, von sich aus auf die Fertigung einer Computertomographie hinzuwirken, mittels derer der Hirnsubstanzdefekt hätte festgestellt werden können.
Der nachträglich erkennbar gewordene Hirnsubstanzdefekt stellt auch vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung eine für die Gefährlichkeitsprognose erhebliche Tatsache dar. Er bewirkt nach den Ausführungen der gehörten Sachverständigen, die sich das Landgericht zu Eigen gemacht hat, eine zusätzliche Verringerung der schon durch die Persönlichkeitsstörung reduzierten Impulskontrollfunktionen und erhöht damit die bereits bei der Anlasstat hervorgetretene Gefahr impulshafter Aggressionshandlungen durch den Verurteilten.
cc) Nicht zu beanstanden ist auch die Bewertung der Therapieunwilligkeit des Verurteilten als "neue Tatsache" im Sinne des § 66 b StGB (vgl. BGH NStZ 2005, 561, 563).
Nach den Feststellungen hat sich der Verurteilte bereits zu Beginn des Maßregelvollzugs in Schloß H. als therapieunwillig gezeigt. Schon im Erstgespräch mit der für ihn zuständigen Sozialtherapeutin hat er die Auffassung vertreten, nicht in den Maßregelvollzug nach § 64 StGB zu gehören. Die Teilnahme an der vorgesehenen Beschäftigungstherapiemaßnahme lehnte er ab. Bereits in der ersten Woche seines Aufenthalts kam es zu einem Suchtmittelrückfall. Wenig später wurde bei ihm ein positiver Cannabisbefund festgestellt. Anfang August 1997 flüchtete er gemeinsam mit einem Mitpatienten aus dem Maßregelvollzug. Während der Flucht konsumierte er erneut Alkohol und Drogen. Nach seiner anschließenden Festnahme hat er gegenüber einer behandelnden Ärztin erklärt, "dass er nur nach H. gekommen sei, weil er nicht in die Sicherungsverwahrung gewollt habe". Auch nach Überstellung in den Strafvollzug zeigte sich der Verurteilte Therapiemaßnahmen gegenüber stets ablehnend.
Die Therapieunwilligkeit des Angeklagten stellt damit ebenfalls eine "neue" Tatsache dar. Der Verurteilte hat im Ausgangsverfahren ausdrücklich seine Therapiebereitschaft bekundet. Der damalige Tatrichter hat daraufhin von der Möglichkeit der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB Gebrauch gemacht. Dass die Therapiebereitschaft des Verurteilten nur vorgetäuscht war, hat er dabei ersichtlich nicht erkannt. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass er die Täuschung bei gebotener Sorgfalt hätte erkennen müssen, bestehen nicht.
Die Therapieunwilligkeit stellt schließlich auch vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung eine "erhebliche" Tatsache dar, da die Suchtmittelabhängigkeit des Verurteilten mitursächlich für die Begehung der Anlasstat war.
dd) Einer Entscheidung, ob die vom Landgericht weiterhin herangezogenen verbal aggressiven Angriffe und Drohungen gegenüber Vollzugsbediensteten als "neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b StGB zu werten sind, bedarf es daher nicht.
d) Schließlich ist das Landgericht in einer sorgfältigen und umfassenden Gesamtwürdigung der Person des Verurteilten, der Anlasstat sowie früherer Taten und - ergänzend - seiner Entwicklung im Strafvollzug im Anschluss an die angehörten Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Verurteilte in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten der in § 66 b Abs. 2 StGB genannten Art begehen wird. Hierbei hat es namentlich auf die bei ihm diagnostizierte Persönlichkeitsstörung, seine fortbestehende Benzodiazepan-, Opiat- und Alkoholabhängigkeit sowie auf die hirnorganisch bedingte zusätzliche Reduktion seines Hemmungsvermögens abgestellt. Dies lässt Rechtsfehler nicht erkennen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2006 S. 384 Nr. 6
HAAAC-08541
1Nachschlagewerk: ja