BGH Beschluss v. - VIII ZB 121/03

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: ZPO § 165 Satz 2; ZPO § 419; ZPO § 517

Instanzenzug: OLG Celle vom

Gründe

I.

Die Klägerin macht eine Kaufpreisforderung aus dem Verkauf eines Lastkraftwagens geltend. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer für Handelssachen hat am stattgefunden. Am Ende der Sitzung hat der Vorsitzende in Gegenwart der Prozeßbevollmächtigten Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den bestimmt. Mit Beschluß vom hat er den Verkündungstermin auf den verlegt. Dieser Beschluß ist den Parteien nicht mitgeteilt worden.

Im unmittelbaren Anschluß an den Verlegungsbeschluß befindet sich in den Gerichtsakten ein auf den datiertes, ohne Hinzuziehung eines Protokollführers erstelltes und von dem Vorsitzenden Richter unterschriebenes Verkündungsprotokoll, wonach "das anliegende Urteil" verkündet wurde. Das folgende Aktenblatt enthält einen handschriftlichen Urteilstenor, demzufolge die Klage abgewiesen und - unter anderem - die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils gegen Sicherheitsleistung der Beklagten (Unterstreichung hinzugefügt) in Höhe von 5.000 € angeordnet wird; das Blatt ist mit einem ebenfalls handschriftlichen Verkündungsvermerk vom sowie einem Eingangsvermerk der Geschäftsstelle vom versehen. Daran anschließend findet sich in den Akten eine gedruckte, mit dem vollen Rubrum versehene Abschrift des Verkündungsprotokolls, die allerdings als Datum der mündlichen Verhandlung den ausweist. Sodann folgt eine Urteilsfassung, die mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen versehen ist und auf der ersten Seite links oben den mit einem Handzeichen versehenen Datumsstempel "21. MRZ. 2003" sowie rechts oben den Vermerk "Verkündet am: 05. JUL. 2002" mit dem Namenszeichen der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle trägt; das Datum der mündlichen Verhandlung ist zutreffend mit "" angegeben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ist gegen Sicherheitsleistung der Klägerin angeordnet, wobei der Betrag zunächst mit 10.000,00 DM angegeben war und handschriftlich in "5.000,00 EURO" abgeändert wurde. Die handschriftlich ergänzten Entscheidungsgründe dieser Urteilsfassung umfassen insgesamt 12 Zeilen.

Der Verlegungsbeschluß vom und das Urteil des Landgerichts ist den Parteien am zugestellt worden.

Gegen das Urteil hat die Klägerin am Berufung eingelegt; außerdem hat sie in ihrer Berufungsbegründung vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der 5-Monatsfrist des § 517 ZPO beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, das Urteil sei - entgegen dem Verkündungsprotokoll - nicht am verkündet worden. Sie habe nach diesem Zeitpunkt im Laufe der folgenden drei Monate von der Geschäftsstelle des Landgerichts stets nur die Information erhalten, daß eine Entscheidung noch nicht vorliege; es sei ihr jedoch nicht gelungen, von der Geschäftsstelle oder dem Richter eine Auskunft über den Fortgang des Verfahrens zu erhalten. Die Berufungsfrist habe erst mit der Zustellung des Urteils am zu laufen begonnen.

Mit Beschluß vom hat das Oberlandesgericht nach Einholung einer dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden Richters den Wiedereinsetzungsantrag und die Berufung der Klägerin verworfen. Mit ihrer - kraft Gesetzes statthaften (§§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) - Rechtsbeschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Verwerfung der Berufung; die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nimmt sie hin. Der Senat hat die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO).

II.

1. Das Berufungsgericht hat, soweit für das Beschwerdeverfahren von Bedeutung, im wesentlichen ausgeführt:

Nach § 517 ZPO betrage die Frist für die Einlegung der Berufung im vorliegenden Fall sechs Monate ab der Verkündung des Urteils. Daß die Verkündung am erfolgt sei, sei durch das in der vorgeschriebenen Form abgefaßte Verkündungsprotokoll bewiesen; im übrigen spreche hierfür auch die eingeholte dienstliche Äußerung des Vorsitzenden Richters. Die Verkündung vom sei auch wirksam gewesen; etwaige Mängel der Verkündung, wie die unterbliebene Unterrichtung der Parteien über die Verlegung des Verkündungstermins, stünden dem nicht entgegen. Die Beweiskraft des Verkündungsprotokolls sei durch den Vortrag der Klägerin nicht entkräftet worden; den erforderlichen Gegenbeweis der Protokollfälschung habe die Klägerin nicht erbracht. Sie habe nichts Substantielles für eine Protokollfälschung vorgebracht, insbesondere das Verkündungsprotokoll selbst nicht angegriffen, sondern lediglich behauptet, das Urteil sei weder am noch in der Folgezeit bis September 2002 verkündet worden. Zwar dürften die Anforderungen an die Darlegungslast insofern nicht überspannt werden, die Klägerin habe aber nicht einmal ausreichende Indizien für eine Fälschung des Protokolls benannt. Ihre Behauptung, das Urteil sei erst im März 2003 geschrieben worden, sei haltlos. Die weiteren von der Klägerin angeregten Nachforschungen seien nicht geboten.

Unter den gegebenen Umständen bestehe auch kein Anlaß, von der Bestimmung des § 517 ZPO eine Ausnahme zu machen. Die Klägerin habe auf Grund des ihr bekannten Verkündungstermins vom gewußt, daß in diesem Zeitraum mit einer Entscheidung zu rechnen gewesen sei. Sie sei daher gehalten gewesen, sich über den Fortgang des Verfahrens zu unterrichten; dieser Obliegenheit sei sie nicht genügend nachgekommen. Die nur telefonischen Anfragen bei der Geschäftsstelle und dem Richter in den ersten drei Monaten nach der Verkündung hätten nicht ausgereicht.

Bei dieser Sachlage komme es auf die tatsächliche Kenntnis der Klägerin von dem Urteil nicht an. Die Zustellung des Urteils fast neun Monate nach seiner Verkündung habe die Berufungsfrist nicht erneut in Gang gesetzt.

2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hätte das Berufungsgericht die Berufung der Klägerin nicht wegen Versäumung der Berufungsfrist des § 517 ZPO als unzulässig verwerfen dürfen.

a) Zu Recht hat das Oberlandesgericht allerdings angenommen, daß der Umstand, daß das Landgericht die Parteien nicht über die Verlegung des Verkündungstermins unterrichtet hat, die Wirksamkeit der - unterstellten - Urteilsverkündung nicht beeinträchtigt und deshalb auch dem Beginn der Berufungsfrist (§ 517 ZPO) an sich nicht entgegensteht (, NJW 1999, 143 = VersR 1999, 1384 unter II 1 = BGHR ZPO § 516, Fristbeginn 12 m.w.Nachw.). Ebensowenig kommt es darauf an, daß das Verkündungsprotokoll nicht genau erkennen läßt, ob das Urteil durch Bezugnahme auf die Urteilsformel oder durch Verlesen der Formel verkündet wurde, und ob das Urteil zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig abgefaßt war (BGH aaO; IVa ZB 2/88, NJW 1988, 2046 = VersR 1988, 835 unter II).

b) Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unangegriffen ist das Oberlandesgericht weiter davon ausgegangen, daß die Beachtung der für die Verhandlung - einschließlich der Urteilsverkündung - vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann und daß gegen seinen diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt nur der Nachweis der Fälschung zulässig ist (§ 165 ZPO). Es hat auch nicht verkannt, daß die Beweiskraft des Protokolls ausnahmsweise entfällt, wenn und soweit sie durch äußere Mängel des Protokolls im Sinne des § 419 ZPO ganz oder teilweise aufgehoben oder gemindert ist. Solche Mängel, die aus der Protokollurkunde selbst hervorgehen müssen (vgl. , NJW 1985, 1782 = VersR 1985, 45 = ZIP 1985, 248 unter B II 2 c bb), liegen hier aber nicht vor. Das Berufungsgericht hat schließlich auch nicht übersehen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes selbst bei Anlegung eines strengen Maßstabes an die Darlegungslast hinsichtlich einer behaupteten Protokollfälschung die Anforderungen an die Prozeßpartei insoweit nicht überspannt werden dürfen; denn die Partei, die in aller Regel keinen hinreichenden Einblick in die internen Geschäftsabläufe des Gerichts und die Arbeitsweise des Richters hat, ist in derartigen Fällen durchweg auf bloße Indizien für den objektiven Tatbestand und auf Schlußfolgerungen für dessen subjektive Seite angewiesen (BGH aaO unter cc).

c) Den oben genannten Gesichtspunkt hat das Berufungsgericht jedoch nicht angemessen berücksichtigt. Danach oblag es der Klägerin, unter entsprechendem Beweisantritt Tatsachen vorzutragen, die mit hinreichender Sicherheit in objektiver und subjektiver Hinsicht die Schlußfolgerung rechtfertigten, daß das angefochtene Urteil entgegen dem Wortlaut des bei den Akten befindlichen Protokolls nicht am verkündet worden, das Protokoll mithin im Sinne des § 165 Satz 2 ZPO gefälscht ist. Diesen Anforderungen genügte das beweisbewehrte Vorbringen der Klägerin.

aa) Dem Berufungsgericht kann schon insoweit nicht gefolgt werden, als es meint, die Klägerin habe "nichts Substantielles" vorgetragen, womit die Beweiskraft des Protokolls erschüttert werden könne. Dabei darf zunächst nicht übersehen werden, daß sich bei den Akten nicht weniger als drei mit einem Verkündungsvermerk versehene Fassungen des Urteilstenors befinden, die sich jeweils - wenn auch nur geringfügig - unterscheiden; überdies fällt auf, daß - was auch das Oberlandesgericht nicht in Zweifel zieht - der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin nach dem ihm mitgeteilten Verkündungstermin vom über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten wiederholt bei der Geschäftsstelle des Landgerichts und dem Richter angerufen bzw. anzurufen versucht hat, um sich nach dem Fortgang des Verfahrens zu erkundigen, und dabei lediglich von der Geschäftsstelle die Auskunft erhalten hat, eine Entscheidung liege noch nicht vor. Unerklärlich ist schließlich, daß das Urteil, dessen Entscheidungsgründe sich vor allem durch ihre Kürze (12 Zeilen) auszeichnen, in der vollständig abgefaßten Form erst nahezu neun Monate nach der dem Protokoll zufolge am erfolgten Verkündung zur Geschäftsstelle gelangt ist. Mehr konnte und brauchte die Klägerin nicht vorzutragen, um die behauptete Protokollfälschung substantiiert darzutun; denn die ausgeführten und überwiegend aus den Akten ersichtlichen Indizien waren konkret und von erheblichem Gewicht. Über sie durfte sich das Oberlandesgericht nicht mit der - unzutreffenden - Begründung hinwegsetzen, die Behauptungen der Klägerin enthielten "nichts Substantielles" und seien "haltlos". Weitere Einzelheiten konnte die Klägerin über den Fortgang des Verfahrens nicht in Erfahrung bringen und daher auch nicht vortragen.

bb) Die in diesem Zusammenhang angestellte Erwägung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe lediglich behauptet, der Verkündungstermin und die Verkündung des Urteils hätten nicht am stattgefunden, und es sei bis September 2002 keine Verkündung erfolgt, das Verkündungsprotokoll selbst habe sie jedoch nicht angegriffen, ist nicht nachvollziehbar. Wenn eine Partei behauptet, ein protokollierter Vorgang habe in Wirklichkeit nicht stattgefunden, ist darin zwingend zugleich die Behauptung enthalten, das Protokoll sei in diesem Punkt unrichtig. Da im vorliegenden Fall nach Lage der Dinge eine irrtümliche Falschbeurkundung ausscheidet, umfaßt diese Behauptung auch die subjektive Seite der vorsätzlichen Falschprotokollierung.

cc) Angesichts dieser Häufung von Besonderheiten hatte offensichtlich auch das Berufungsgericht zunächst Zweifel an der Richtigkeit des Protokolls und ersuchte deshalb den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen um Erklärung,

"welches Urteil am verkündet worden ist. Falls es sich um das Urteil Bl. 253 d.A. handelt: von wann und von wem stammt der Verkündungsvermerk Bl. 253? Wie ist es zu erklären, daß der Tenor Bl. 253 und der Tenor Bl. 256 nicht vollständig übereinstimmen? Sind beide Urteile verkündet worden?".

Dazu hat der Vorsitzende Richter folgendes erklärt:

"Am wurde das Urteil i.d.F. Bl. 256ff d.A. verkündet. Bei dem Tenor Bl. 253 d.A. handelt es sich lediglich um einen Entwurf, der versehentlich bei den Akten verblieben ist."

Gegen die Einholung einer dienstlichen Erklärung des zuständigen Richters bestehen keine grundsätzlichen Bedenken; denn die Frage der behaupteten Protokollfälschung konnte das Berufungsgericht im Wege des Freibeweises klären. Jedoch war es nach der unvollständigen Antwort des Vorsitzenden Richters gehalten, entweder nachzufragen oder den Richter - wie von der Klägerin beantragt - als Zeugen zu den weiterhin ungeklärten Fragen zu vernehmen, wann und von wem der Verkündungsvermerk auf der handschriftlichen Urteilsformel angebracht worden war und wie es zu den Abweichungen zwischen dem handschriftlichen Tenor und demjenigen in der vollständigen Urteilsfassung gekommen war. Dabei hätte es sich auch aufgedrängt, der Frage nachzugehen, weshalb nach Auskunft der Geschäftsstelle das Urteil dort jedenfalls bis Ende September oder Anfang Oktober 2002 immer noch nicht vorlag und weshalb es erst fast neun Monate nach seiner angeblichen Verkündung tatsächlich zur Geschäftsstelle gelangte, obwohl seine Abfassung ersichtlich nicht mit einem besonderen Arbeitsaufwand verbunden war. Dies wird das Berufungsgericht nunmehr nachzuholen haben. Überdies wird es sich empfehlen, eine Klärung des Geschehensablaufs auch durch die von der Klägerin angeregte Anhörung der zuständigen Beamtin der Geschäftsstelle zu versuchen.

3. Ist das angefochtene Urteil, wie die Klägerin behauptet hat, entgegen dem bei den Akten befindlichen Protokoll nicht am verkündet worden, hat die Berufungsfrist erst mit der Zustellung des Urteils am zu laufen begonnen (§ 517 ZPO); für eine Verkündung zu einem Zeitpunkt nach dem fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten. Danach hat die am bei Gericht eingegangene Berufung der Klägerin die Monatsfrist des § 517 ZPO gewahrt. Der Beschluß über die Verwerfung der Berufung kann deshalb keinen Bestand haben. Er ist daher aufzuheben. Da es für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung weiterer Feststellungen bedarf, ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 und 5 ZPO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
VAAAC-03717

1Nachschlagewerk: nein; BGHZ: nein; BGHR: nein