BGH Urteil v. - IX ZR 142/02

Leitsatz

[1] Hat der Verleiher von Arbeitnehmern seine vertragliche Pflicht, die Lohnnebenkosten an die Einzugsstelle abzuführen, schuldhaft verletzt, steht dem Entleiher, der entsprechende Beiträge nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an die Einzugsstelle zu entrichten hat, in der Insolvenz des Verleihers keine Aufrechnungsmöglichkeit zu (Fortführung von BGH WM 2005, 82).

Gesetze: BGB § 250; InsO § 94; InsO § 95 Abs. 1; SGB IV § 28e Abs. 2 Satz 1; SGB IV § 28e Abs. 2 Satz 2

Instanzenzug: OLG Zweibrücken vom LG Frankenthal vom

Tatbestand

Die Klägerin ist Verwalterin in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Personalüberlassungsgesellschaft (fortan: Schuldnerin), das am eröffnet worden ist. Die Schuldnerin hatte mit der Beklagten am einen Arbeitnehmerüberlassungsvertrag geschlossen. Nach § 7 des Vertrages hat der Entleiher Rechnungen innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt zu bezahlen. Für die Überlassung von Arbeitskräften im Juni 1999 stellte die Schuldnerin der Beklagten zwischen dem und dem einen Betrag von insgesamt 177.818,87 DM in Rechnung, den die Beklagte bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht ausglich. Gegenüber der klagenden Insolvenzverwalterin lehnte sie die Zahlung mit der Begründung ab, daß sie von der DAK Gera (fortan nur DAK) wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge der Schuldnerin in Höhe von insgesamt 206.880,32 DM in Anspruch genommen werde. Am rechnete die Beklagte gegen die streitgegenständliche Forderung mit einem Anspruch auf Schadensersatz wegen der an die DAK zu zahlenden Beträge auf. Die DAK ermäßigte mit Bescheid vom ihre Forderung gegen die Beklagte auf 177.818,87 DM.

Das Landgericht hat der Klage zuzüglich 4 v.H. Zinsen ab dem entsprochen, das Berufungsgericht hat sie abgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Gründe

Die Revision hat Erfolg (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO a.F.).

I.

Das Berufungsgericht hält die nach Grund und Höhe unstreitige Klageforderung, die im November 1999 jedenfalls erfüllbar gewesen sei, für durch Aufrechnung erloschen (§§ 387, 389 BGB). Als aufrechenbare Gegenforderung scheide zwar sowohl der Anspruch der DAK gegen die Schuldnerin als auch der Befreiungsanspruch des Bürgen aus. Ein Übergang des Anspruchs der DAK auf die Beklagte nach § 774 Abs. 1 BGB habe nicht stattgefunden, weil die Beklagte auf die Bürgschaft bislang nichts gezahlt habe. Der Befreiungsanspruch des Bürgen aus § 775 BGB sei mit dem Vergütungsanspruch nicht gleichartig im Sinne des § 387 BGB. Die Schuldnerin habe jedoch durch die Nichtzahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags für die der Beklagten überlassenen Arbeitnehmer eine vertragliche Nebenpflicht aus dem Arbeitnehmerüberlassungsvertrag verletzt. Daraus ergebe sich ein Schadensersatzanspruch, der zunächst darauf gerichtet gewesen sei, die Beklagte im Wege der Naturalrestitution von der Schuld freizustellen. Dieser Anspruch habe sich mit Eintritt der (materiellen) Insolvenz, ohne daß es der Bestimmung einer Frist bedurft hätte, in einen Zahlungsanspruch umgewandelt (vgl. § 250 BGB). Somit sei die Aufrechnungslage schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Die spätere Verfahrenseröffnung habe das Recht der Beklagten zur Aufrechnung nicht mehr berührt (§ 94 InsO).

II.

Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beklagte konnte nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit einer Schadensersatzforderung gegen die Schuldnerin nicht mehr aufrechnen (§ 95 Abs. 1 Sätze 1 und 3 InsO).

1. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 140, 270, 273 f) hat das Berufungsgericht angenommen, daß mit dem Freistellungsanspruch des Bürgen gemäß § 775 Abs. 1 Nr. 1 BGB gegen den Hauptschuldner, dessen Vermögensverhältnisse sich wesentlich verschlechtert haben, mangels Gleichartigkeit der Ansprüche (§ 387 BGB) nicht aufgerechnet werden kann. Dies hat der Senat in der nach Erlaß des Berufungsurteils ergangenen Entscheidung vom (IX ZR 200/03, WM 2005, 82, 85, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) nochmals bekräftigt. Daran wird festgehalten.

2. Dieses Urteil betrifft einen dem vorliegenden Fall vergleichbaren Sachverhalt. Die dort entwickelten insolvenzrechtlichen Grundsätze lassen sich auf den Streitfall übertragen.

a) Danach kann den Verleiher neben der gesetzlichen Pflicht zur Abführung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (vgl. § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV, § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG) auch die vertragliche (Neben-)Pflicht gegenüber dem Entleiher treffen, den Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die Einzugsstelle (§ 28h Abs. 1 Satz 1 SGB IV) abzuführen, weil andernfalls die ordnungsgemäße Abwicklung des Arbeitnehmerüberlassungsvertrags gefährdet wäre ( aaO S. 85; siehe ferner Schüren/Feuerborn, AÜG 2. Aufl. § 12 Rn. 32; Wank in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 5. Aufl. § 12 AÜG Rn. 8).

b) Hat der Verleiher seine vertragliche Pflicht, die Lohnnebenkosten an die Einzugsstelle abzuführen, schuldhaft verletzt, der Entleiher jedoch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens an die Einzugsstelle noch keine Zahlung erbracht, steht ihm in der Insolvenz des Verleihers weder ein insolvenzfestes Leistungsverweigerungsrecht (§ 51 Nrn. 2 und 3 InsO) noch eine insolvenzbeständige Aufrechnungs- oder Verrechnungsposition (§§ 94 bis 96 InsO) zu (vgl. aaO S. 85). Auch hieran ist festzuhalten. Die von dem Berufungsgericht demgegenüber angenommene Umwandlung gemäß § 250 BGB des auf Befreiung von einer Verbindlichkeit gerichteten Schadensersatzanspruchs vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen Zahlungsanspruch, mit dem die Beklagte nach Eröffnung des Verfahrens gemäß § 94 InsO noch aufrechnen kann, widerspricht schuldrechtlichen und insolvenzrechtlichen Grundsätzen.

aa) Eine Aufrechnung setzt gemäß § 387 BGB voraus, daß dem Aufrechnenden gegen den Gläubiger der Hauptforderung eine durchsetzbare Gegenforderung zusteht. Die Gegenforderung muß nach allgemeinen Grundsätzen voll wirksam, d.h. frei von Einwendungen oder Einreden sein (§ 390 BGB; vgl. BGHZ 2, 300, 302). Nicht aufgerechnet werden kann insbesondere mit einer Forderung, der ein Leistungsverweigerungsrecht entgegensteht; es genügt seine bloße Existenz (vgl. , WM 2000, 2384, 2385).

Im Streitfall hätte die Schuldnerin vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens einem Zahlungsbegehren der Beklagten entgegenhalten können, daß diese keinem durchsetzbaren Anspruch der DAK ausgesetzt sei. Es ist nämlich unstreitig, daß die DAK die rückständigen Sozialversicherungsbeiträge, die sie nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf 206.880,32 DM beziffert hat, vor Verfahrenseröffnung von der Schuldnerin nicht unter Fristsetzung eingefordert oder gar angemahnt hat. Der Entleiher haftet nach § 28e Abs. 2 SGB IV zwar für die Erfüllung der Zahlungspflicht des Arbeitgebers, also des Verleihers (vgl. § 1 Abs. 1 AÜG), bei einem wirksamen Vertrag wie ein selbstschuldnerischer Bürge, soweit ihm die Arbeitnehmer gegen Vergütung überlassen worden sind. Er kann jedoch die Zahlung verweigern, solange die Einzugsstelle den Arbeitgeber nicht gemahnt hat und die Mahnfrist nicht abgelaufen ist (§ 28e Abs. 2 Satz 2 SGB IV). Danach bestand zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung hinsichtlich der der Beklagten überlassenen Arbeitnehmer ein einredefreier Anspruch der DAK auf die Gesamtsozialversicherungsbeiträge nur gegen die Schuldnerin, nicht aber gegen die Beklagte. Ohne eine durchsetzbare Bürgschaftsschuld der DAK besteht kein Rückgriffsanspruch gegenüber der Hauptschuldnerin.

Etwas anderes ergibt sich zugunsten der Beklagten auch nicht aus § 250 Satz 2 BGB. Nach dieser Vorschrift geht ein Befreiungsanspruch in einen Geldanspruch erst dann über, wenn der Geschädigte dem Schädiger erfolglos eine Frist zur Herstellung, im Streitfall also auf Haftungsfreistellung, gesetzt hat. Dem steht es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gleich, wenn der Schuldner die Herstellung oder überhaupt jeden Schadensersatz ernsthaft und endgültig verweigert (vgl. , WM 1992, 1074, 1076; Staudinger/Schiemann, BGB 13. Bearb. (1998) § 249 Rn. 202). Im Streitfall hat die Beklagte der Schuldnerin vor Insolvenzeröffnung weder eine Frist mit Ablehnungsandrohung gesetzt noch hat die Schuldnerin eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung bekundet. Dies ist aus der damaligen Sicht der Beklagten zu beurteilen (vgl. BGHZ 40, 345, 352; MünchKomm-BGB/Oetker, 4. Aufl. § 250 Rn. 6).

bb) Die Auffassung des Berufungsgerichts, der auf Befreiung von einer Verbindlichkeit gerichtete Schadensersatzanspruch der Beklagten habe sich mit Eintritt der materiellen Insolvenz der Schuldnerin nach § 250 BGB in einen gegen sie gerichteten Zahlungsanspruch umgewandelt, ist auch aus insolvenzrechtlichen Gründen unzutreffend.

Der Eintritt der materiellen Insolvenz des Schuldners des Befreiungsanspruchs kann den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen nicht gleichgestellt werden. Eine solche Ausdehnung des § 250 BGB widerspricht Sinn und Zweck der §§ 94 bis 96 InsO. Diese Bestimmungen regeln die Aufrechnung durch den Insolvenzgläubiger in der Weise, daß ihm ein zur Zeit der Verfahrenseröffnung - anfechtungsrechtlich unbedenklich (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO) - begründetes Aufrechnungsrecht ebenso erhalten bleibt (§ 94 InsO) wie Aufrechnungslagen aus der Zeit nach Verfahrenseröffnung, auf deren Eintritt der Insolvenzgläubiger aber ausnahmsweise vertrauen darf (§ 95 InsO; vgl. , WM 2004, 1691, 1692, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen; MünchKomm-InsO/Brandes, § 94 Rn. 1). Dies trifft auf Fallgestaltungen nicht zu, in denen die Möglichkeit der Aufrechnung nach den Grundsätzen des Schuldrechts nicht besteht und maßgebend gerade mit der Insolvenz des Schuldners der Gegenforderung "künstlich" begründet werden soll (vgl. aaO S. 1692). Eine solche Ausweitung der Aufrechnungsmöglichkeit verstößt gegen den Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz und ist schon deshalb abzulehnen. Der Gläubiger des Befreiungsanspruchs ist vielmehr darauf zu verweisen, seinen Anspruch nach Maßgabe der §§ 87, 44, 45 InsO im Insolvenzverfahren geltend zu machen (vgl. Lwowski/Bitter in MünchKomm-InsO, § 44 Rn. 7 und § 45 Rn. 8 f).

Der Hinweis des Berufungsgerichts auf eine abweichende Literaturstelle (Staudinger/Schiemann, aaO § 249 Rn. 202 a.E.) geht fehl. Dort werden Fristsetzung und Ablehnungsandrohung nicht in dem Fall für entbehrlich gehalten, daß es zur Insolvenz des Schädigers kommt, sondern für den Fall der Insolvenz des Geschädigten. Nur in diesem Fall entsteht aus dem Befreiungsanspruch der Zahlungsanspruch unmittelbar in der Hand des Insolvenzverwalters (vgl. BGHZ 57, 78, 81; , ZIP 1981, 131 f; v. - IX ZR 255/92, ZIP 1993, 1656, 1658). Maßgeblich hierfür ist die Überlegung, daß der Befreiungsanspruch zur Insolvenzmasse gehört und daher zur Befriedigung sämtlicher Insolvenzgläubiger dienen muß (vgl. BGHZ 57, 78, 82; aaO S. 1658).

Schließlich gebieten es auch Gründe der Billigkeit (§ 242 BGB) nicht, dem Entleiher die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge auf Kosten der anderen Insolvenzgläubiger zu ermöglichen. Die Gefahr der "doppelten Inanspruchnahme", gegen die sich die Revisionserwiderung auch im vorliegenden Fall wendet, beruht auf der gesetzgeberischen Entscheidung, das Insolvenzrisiko für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag in den Fällen entgeltlicher Arbeitnehmerüberlassung auf den Entleiher zu verlagern (vgl. aaO S. 86). Der von der Revisionserwiderung vorgenommene Vermögensvergleich mit dem Fall, daß die Schuldnerin ihren Verpflichtungen gegenüber der DAK rechtzeitig nachgekommen wäre, verkennt das Grundprinzip des Insolvenzrechts: Im Insolvenzfall soll die gleichmäßige Befriedigung der Gesamtheit der Gläubiger Vorrang haben vor Sondervorteilen für einzelne von ihnen, soweit diese gesetzlich nicht besonders geschützt werden (vgl. aaO S. 1658). Auf fiktive Betrachtungen kommt es hierbei nicht an.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
NJW 2005 S. 3285 Nr. 45
SJ 2006 S. 41 Nr. 3
StuB-Bilanzreport Nr. 19/2005 S. 862
ZIP 2005 S. 1559 Nr. 35
TAAAC-00245

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja