BAG Urteil v. - 5 AZR 346/03

Leitsatz

[1] Abweichend vom Gesetz kann durch Tarifvertrag geregelt werden, dass sich die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht nach der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit des Arbeitnehmers, sondern nach der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit bestimmt.

Gesetze: EFZG § 3; EFZG § 4; EFZG § 12

Instanzenzug: ArbG Braunschweig 1 Ca 374/01 vom LAG Niedersachsen 6 Sa 1567/02 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten nach teilweiser Rücknahme der Revision noch darüber, welche wöchentliche Arbeitszeit der Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zugrunde zu legen ist.

Der Kläger ist seit 1979 im Nutzfahrzeugewerk H der Beklagten als Oberflächenbearbeiter tätig. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft einzelvertraglicher Bezugnahme die zwischen der Beklagten und der IG Metall abgeschlossenen Haustarifverträge Anwendung. Der Manteltarifvertrag vom (MTV), gültig ab , enthält folgende Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall:

"8.1 Ist der Werksangehörige unverschuldet

- durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder

- wegen einer Vorbeugungs-, Heil- oder Genesungskur unter voller Kostenübernahme durch einen Sozialversicherungsträger, eine Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung oder einen sonstigen Sozialleistungsträger

an der Arbeitsleistung verhindert, so wird ihm das Bruttoarbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsverhinderung bis zur Dauer von 6 Wochen fortgezahlt, grundsätzlich jedoch nicht über die Dauer des Arbeitsverhältnisses hinaus.

8.2 Als Bruttoarbeitsentgelt wird der Betrag angesehen, den der Werksangehörige in der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit nach Schichtplan erhalten würde, wenn er nicht an der Arbeitsleistung verhindert wäre. Entgeltveränderungen werden entsprechend berücksichtigt."

Nach § 2.1.1 der Vereinbarung zur Sicherung der Standorte und der Beschäftigung vom (Standort-TV), gültig ab , beträgt die regelmäßige Arbeitszeit 28,8 Stunden in der Woche im Jahresdurchschnitt. Mehrarbeit liegt nach § 4.2.1 Standort-TV vor, wenn die im Rahmen der Verteilung der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit jeweils festgelegte tägliche und wöchentliche Arbeitszeit überschritten wird. Zuschläge für Mehrarbeit gemäß Manteltarifvertrag werden ausschließlich für Stunden gezahlt, die über 35 Stunden in der Woche hinausgehen (§ 4.2.2 Standort-TV).

Der Kläger arbeitete seit 1996 tatsächlich regelmäßig 37,5 Stunden wöchentlich, von denen 35 Stunden vergütet und 2,5 Stunden einem Freizeitkonto gutgeschrieben wurden. Er war ua. vom bis zum arbeitsunfähig krank. Die Beklagte berechnete die Vergütungsfortzahlung bei Krankheit auf der Grundlage von 28,8 Stunden in der Woche.

Der Kläger verlangte erstmals mit Schreiben vom Entgeltfortzahlung auf der Basis der von ihm tatsächlich gearbeiteten 37,5 Stunden wöchentlich. Entsprechende Zahlungsansprüche machte er erstinstanzlich beziffert geltend. Die Beklagte hat erklärt, sich bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits nicht auf die tariflichen Ausschlussfristen berufen zu wollen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht hat sie ferner erklärt, ein eventuelles Feststellungsurteil gegen sich gelten zu lassen.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, nicht die tarifliche, sondern die tatsächlich geleistete wöchentliche Arbeitszeit müsse der Berechnung der Vergütungsfortzahlung bei Krankheit zugrunde gelegt werden; § 4 Abs. 1 EFZG könne insoweit nicht tariflich abbedungen werden.

Der Kläger hat, soweit für die Revision noch von Bedeutung, beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, für den Kläger die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall unter Berücksichtigung der zur Zeit bestehenden Arbeitsbedingungen nach einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden zu berechnen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Durch die tarifvertraglichen Regelungen sei ihre Vergütungspflicht bei Krankheit wirksam auf die bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 28,8 Stunden geschuldete Vergütung begrenzt.

Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben und die Beklagte auf dieser Grundlage zur Zahlung verurteilt. Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Zahlungsklage auf Anregung des Gerichts mit Zustimmung der Beklagten zurückgenommen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und festgestellt, die Beklagte sei verpflichtet, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dann, wenn der Kläger in den zwölf Monaten vor der Erkrankung wöchentlich 35 Stunden oder darüber hinaus gearbeitet habe, nach dem Arbeitslohn für 35 Stunden zu berechnen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Gründe

Die Revision ist begründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, bei der Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden zugrunde zu legen.

I. Die Klage ist zulässig. Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt wird. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Zwischen den Parteien ist die Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs des Klägers streitig. Die Höhe des Anspruchs ergibt sich unmittelbar aus dem gerichtlich zu klärenden Zeitfaktor. Wenn das Landesarbeitsgericht unter Hinweis auf die Prozessökonomie die Rücknahme des Zahlungsantrags angeregt hat, kann der Kläger nunmehr nicht auf einen Leistungsantrag verwiesen werden (vgl. - AP BAT § 17 Nr. 17 = EzA ZPO § 256 Nr. 34, zu II der Gründe; - 4 AZR 282/92 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Süßwarenindustrie Nr. 5 = EzA TVG § 4 Süßwarenindustrie Nr. 1, zu I der Gründe).

II. Soweit die Klage noch Gegenstand der Revision ist, ist sie unbegründet. Die Tarifvertragsparteien haben die tarifliche Arbeitszeit von 28,8 Wochenstunden als Berechnungsgrundlage der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vereinbart. Die damit verbundene Abweichung von § 4 Abs. 1 EFZG ist wirksam.

1. Nach § 4 Abs. 1 EFZG ist dem Arbeitnehmer für den in § 3 Abs. 1 EFZG bezeichneten Zeitraum das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen.

a) § 4 Abs. 1 EFZG legt der Entgeltfortzahlung ein modifiziertes Lohnausfallprinzip zugrunde. Maßgebend ist allein die individuelle Arbeitszeit des erkrankten Arbeitnehmers. Es kommt darauf an, welche Arbeitszeit auf Grund der Arbeitsunfähigkeit ausgefallen ist. Bei Schwankungen der individuellen Arbeitszeit ist zur Bestimmung der "regelmäßigen" Arbeitszeit eine vergangenheitsbezogene Betrachtung zulässig und geboten ( - BAGE 100, 25, 28; - 5 AZR 153/01 - AP EntgeltFG § 4 Nr. 62 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 8, jeweils mwN).

b) Die individuelle Arbeitszeit folgt in erster Linie aus dem Arbeitsvertrag. Auf die allgemein im Betrieb geltende Arbeitszeit kommt es nicht entscheidend an. Auch die kraft Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung im Betrieb geltende Arbeitszeit kann von der individuellen Arbeitszeit des Arbeitnehmers nach oben oder nach unten abweichen. Grundlage hierfür kann eine ausdrückliche oder konkludente Vereinbarung oder etwa eine betriebliche Übung sein ( - aaO; - 5 AZR 153/01 - aaO). Bei einer verstetigten, also stets gleich bleibenden Arbeitszeit bereitet die Feststellung der maßgebenden Arbeitszeit keine Schwierigkeiten. Ist ein festes Monatsgehalt vereinbart, ist dieses bei gewerblichen Arbeitnehmern ebenso wie bei Angestellten bis zur Dauer von sechs Wochen fortzuzahlen.

c) Nach § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG gehört nicht zum Arbeitsentgelt nach Abs. 1 das zusätzlich für Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt. Dieses ist im Krankheitsfall nicht fortzuzahlen. Das Gesetz klammert sowohl die Grundvergütung als auch die Zuschläge für die Überstunden aus. Maßgeblich für das Vorliegen von Überstunden ist die individuelle regelmäßige Arbeitszeit des Arbeitnehmers. Das Gesetz enthält keinen ausreichenden Anhaltspunkt, um an eine tarifliche Arbeitszeit anzuknüpfen. § 4 Abs. 1a EFZG erfasst nach seinem Wortlaut sowie Sinn und Zweck auch wiederholt geleistete Überstunden. Überstunden iSv. § 4 Abs. 1a EFZG liegen vor, wenn die individuelle regelmäßige Arbeitszeit des Arbeitnehmers überschritten wird. Damit fallen einerseits die bisher der regelmäßigen Arbeitszeit zugerechneten wiederholt anfallenden Überstunden aus der Entgeltfortzahlung heraus. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass es Fälle einer individuellen regelmäßigen Arbeitszeit gibt, die von der betriebsüblichen oder tariflichen Arbeitszeit abweichen. Leistet der Arbeitnehmer s t ä n -d i g eine bestimmte Arbeitszeit, die mit der betriebsüblichen oder tariflichen Arbeitszeit nicht übereinstimmt, kann von Überstunden nicht gesprochen werden. Überstunden werden wegen bestimmter besonderer Umstände zusätzlich geleistet ( - BAGE 100, 25; - 5 AZR 153/01 - AP EntgeltFG § 4 Nr. 62 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 8).

d) Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ergibt sich, dass die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Klägers iSv. § 4 Abs. 1 EFZG 35 Stunden beträgt. Die tarifliche Wochenarbeitszeit von 28,8 Stunden ist für die Bestimmung der Arbeitszeit im Sinne dieser Vorschrift nicht maßgebend. Unstreitig hat der Kläger seit 1996 durchgehend effektiv 35 Stunden in der Woche gearbeitet. Diese von der Beklagten regelmäßig abgerufene erhöhte Arbeitszeit, die der Kläger geleistet hat, ist Ausdruck der vertraglich geschuldeten Leistung. Es handelt sich nicht um Überstunden iSv. § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG.

2. § 8.2 MTV legt iVm. § 2.1.1 Standort-TV die Bemessungsgrundlage der Entgeltfortzahlung abweichend von § 4 Abs. 1 EFZG fest. Diese Regelung ist auch für den nicht tarifgebundenen Kläger gemäß § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG verbindlich.

a) Gemäß § 8.2 MTV richtet sich die Entgeltfortzahlung danach, was der Arbeitnehmer in der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit nach Schichtplan erhalten würde, wenn er nicht an der Arbeitsleistung verhindert wäre. Der Wortlaut der Tarifnorm ist nicht eindeutig. In Betracht kommt eine Regelung im Sinne des Tarifbegriffs der regelmäßigen Arbeitszeit nach § 2.1.1 Standort-TV oder eine Verwendung der gesetzlichen Begriffe des § 4 Abs. 1 EFZG.

b) Der tarifliche Zusammenhang und die Tarifgeschichte sprechen für die erstgenannte Auslegung. Die Tarifnorm bestimmt den Zeitfaktor der Entgeltfortzahlung gemäß der tariflichen Arbeitszeit von 28,8 Stunden/Woche. Die Tarifvertragsparteien sind einen Kompromiss im Hinblick darauf eingegangen, dass die Entgeltfortzahlung 100 % und nicht nur wie nach der damaligen Fassung des EFZG 80 % der regelmäßigen Arbeitsvergütung betragen sollte. Im Gegenzug sollte sämtliche über die tarifliche Arbeitszeit hinausgehende Mehrarbeit unberücksichtigt bleiben. Deshalb wurde die frühere tarifliche Regelung, wonach die Mehrarbeit ausdrücklich in die Entgeltfortzahlung einbezogen war, ersatzlos gestrichen.

c) Dieses Verständnis der Tarifnorm entspricht der übereinstimmenden Auffassung der Tarifvertragsparteien, die unstreitig schon bei Abschluss des MTV entsprechende Vorstellungen geäußert haben. Es findet hinreichenden Ausdruck im Tarifvertrag selbst. Im Übrigen geht auch der Kläger in der Revisionsinstanz davon aus, § 8.2 MTV lege die regelmäßige Arbeitszeit des § 2.1.1 Standort-TV von 28,8 Wochenstunden zugrunde.

3. Die Tarifregelung hält sich im Rahmen der gesetzlichen Öffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EFZG.

a) Durch Tarifvertrag kann eine von den Absätzen 1, 1a und 3 des § 4 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festgelegt werden, § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG. "Bemessungsgrundlage" im Sinne dieser Vorschrift ist die Grundlage für die Bestimmung der Höhe der Entgeltfortzahlung. Hierzu gehören sowohl die Berechnungsmethode (Ausfall- oder Referenzprinzip) als auch die Berechnungsgrundlage. Die Berechnungsgrundlage setzt sich aus Geld- und Zeitfaktor zusammen. Sie betrifft Umfang und Bestandteile des der Entgeltfortzahlung zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts ( - BAGE 99, 112, 116; - 5 AZR 648/00 - AP EntgeltFG § 4 Nr. 58 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 6, zu III 2 b der Gründe) sowie die Arbeitszeit des Arbeitnehmers.

aa) Das Gesetz erlaubt damit den Tarifvertragsparteien zum einen, den Geldfaktor zu gestalten. Die Abweichungen können sämtliche den Geldfaktor bestimmenden Elemente betreffen. Auf Grund der ihnen eingeräumten Gestaltungsmacht dürfen die Tarifvertragsparteien auch einzelne Vergütungsbestandteile, insbesondere zusätzliche Leistungen des Arbeitgebers wie Prämien oder alle tariflichen Zuschläge aus der Entgeltfortzahlung herausnehmen ( - AP EntgeltFG § 4 Nr. 58 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 6, zu III 2 c, d der Gründe). Im vorliegenden Fall haben die Tarifvertragsparteien hiervon keinen Gebrauch gemacht. Sie haben den Geldfaktor nicht modifiziert.

bb) Daneben lässt § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG abweichende tarifliche Regelungen im Hinblick auf die Elemente des Zeitfaktors zu ( - BAGE 99, 112, 116 f.; - 5 AZR 356/01 - AP EntgeltFG § 4 Nr. 63 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 10, zu I 1 e aa der Gründe; ErfK/Dörner § 4 EFZG Rn. 58; Vogelsang Entgeltfortzahlung Rn. 560; Schmitt Entgeltfortzahlungsgesetz § 4 Rn. 140; Feichtinger/Malkmus Entgeltfortzahlungsgesetz § 4 Rn. 186; Staudinger/Oetker BGB §§ 616 - 630 (2002) § 616 Rn. 462; Schoof in Kittner/Zwanziger Arbeitsrecht § 58 Rn. 163b, 195). Tarifverträge können vom konkreten Lohnausfallprinzip abgehen und abweichende Berechnungsmethoden für die Ermittlung der ausgefallenen Arbeitszeit vorsehen. Es ist möglich, nicht die individuelle, sondern eine bestimmte Durchschnittsstundenzahl, zB die betriebsübliche ( - BAGE 99, 112, 117; Schoof in Kittner/Zwanziger Arbeitsrecht § 58 Rn. 195) oder die gesetzliche Arbeitszeit für maßgeblich zu erklären (Feichtinger/Malkmus aaO Rn. 186; MünchArbR/Boecken Bd. 1 § 84 Rn. 13). Es bestehen auch keine grundsätzlichen Bedenken, eine von der individuellen Arbeitszeit abweichende und auf die tarifliche Regelarbeitszeit abstellende Modifikation des Arbeitszeitfaktors zuzulassen (in diesem Sinne Staudinger/Oetker aaO; Caspers Anm. SAE 2003, 254, 258).

b) Bei der Gestaltung der Bemessungsgrundlage müssen die Tarifvertragsparteien allerdings darauf achten, dass sie weder unmittelbar noch mittelbar gegen die nicht dem tariflichen Vorrangprinzip unterliegenden, gemäß § 12 EFZG zwingenden Vorschriften verstoßen. Durch die ausdrückliche Bezugnahme auf § 4 Abs. 1, 1a und 3 EFZG stellt § 4 Abs. 4 EFZG klar, dass für Arbeitnehmer nachteilige Änderungen gegenüber sonstigen Bestimmungen des EFZG nicht zulässig sind. Die durch die eingeschränkte Öffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EFZG eingeräumte Gestaltungsmacht findet ihre Grenze dort, wo der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in seiner Substanz angetastet wird. Die aufgezeigten Beschränkungen sind bei abweichenden tariflichen Regelungen sowohl im Hinblick auf die Elemente des Zeitfaktors als auch des Geldfaktors zu beachten.

aa) Die Tarifvertragsparteien sind an den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung (100 %) im Krankheitsfall gebunden ( - AP EntgeltFG § 4 Nr. 58 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 6, zu III 2 b der Gründe); denn dieser Grundsatz folgt aus dem nicht tarifdispositiven § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG iVm. § 4 Abs. 1 EFZG (Geyer/Knorr/Krasney Entgeltfortzahlung-Krankengeld-Mutterschaftsgeld F 435 Rn. 58; Feichtinger/Malkmus Entgeltfortzahlungsgesetz § 4 Rn. 186 f.). Mit der Zielsetzung des Entgeltfortzahlungsgesetzes und insbesondere § 12 EFZG ist es nicht vereinbar, die Höhe der Entgeltfortzahlung generell zu reduzieren, dh. an Stelle von 100 % einen geringeren Prozentsatz des Arbeitsentgelts fortzuzahlen. Das verdeutlicht das sog. Korrekturgesetz vom (BGBl. I S. 3843). Mit diesem Gesetz hat der Gesetzgeber unter anderem die durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom (BGBl. I S. 1476) in § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG vorgenommene Kürzung der Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts auf 80 % des dem Arbeitnehmer zustehenden Arbeitsentgelts rückgängig gemacht und die ursprüngliche Fassung des § 4 Abs. 1 EFZG wiederhergestellt, wonach dem Arbeitnehmer das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt (also 100 %) fortzuzahlen ist. Einer prozentualen Kürzung der Entgeltfortzahlung steht es gleich, wenn die Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass im Rahmen der Berechnungsgrundlagen - unabhängig davon, ob beim Zeit- oder Geldfaktor - Faktoren nur anteilig berücksichtigt werden. Es handelt sich lediglich um einen anderen Weg, von der vollen Entgeltfortzahlung abzuweichen, denn es ist unerheblich, ob unmittelbar am Ergebnis oder an den Faktoren und damit mittelbar am Ergebnis angesetzt wird. Die gesetzlich festgelegte Dauer von sechs Wochen (§ 3 Abs. 1 EFZG) darf durch eine tarifliche Regelung ebenfalls nicht unterschritten werden ( - AP EntgeltFG § 4 Nr. 63 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 10, zu I 1 e aa der Gründe).

bb) Auf der anderen Seite bedeutet die Bindung an die sonstigen Bestimmungen des EFZG nicht, dass sich die von den Tarifvertragsparteien getroffene Regelung über die Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts nicht nachteilig für die Arbeitnehmer auswirken darf. Wie der Wortlaut von § 12 EFZG verdeutlicht, kann durch § 4 Abs. 4 EFZG gerade die Höhe der Entgeltfortzahlung zuungunsten der Arbeitnehmer geregelt werden. Schon mit den unterschiedlichen Berechnungsmethoden wird die Entgelthöhe beeinflusst. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist es zulässig, dass Arbeitnehmer auf Grund der tariflichen Regelung eine geringere Entgeltfortzahlung als bei Anwendung des § 4 Abs. 1, 1a und 3 EFZG erhalten. Diese Schlechterstellung kann sich auf Grund einer Modifikation des Geld- und/oder Zeitfaktors ergeben. Im Rahmen ihres zulässigen Anwendungsbereichs darf die beschränkte Tariföffnung ausgeschöpft werden.

c) Das Landesarbeitsgericht hat die streitgegenständliche Tarifregelung als unwirksam angesehen, weil sie unverhältnismäßig in den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung eingreife. Betrage die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit iSv. § 4 Abs. 1 EFZG 35 Stunden, bedeute die Bezahlung von lediglich 28,8 Stunden eine Kürzung der Entgeltfortzahlung von 100 % auf 82,3 %. Dem kann weder in der Begründung noch im Ergebnis gefolgt werden.

aa) Wie ausgeführt, ist nicht jede Tarifregelung unzulässig, die im Einzelfall zu einer Entgeltfortzahlung führt, die hinter der sich aus § 4 Abs. 1, 1a, 3 EFZG ergebenden zurückbleibt. Die Ermittlung, um wie viel Prozent die Entgeltfortzahlung niedriger ausfällt, ist nicht entscheidend, denn zu einer geringeren Entgeltfortzahlung, die sich in Prozentzahlen ausdrücken lässt, kann letztlich jede Gestaltung der Bemessungsgrundlage führen. Die Tarifvertragsparteien dürfen insoweit das Lebensstandardprinzip hintanstellen ( - AP EntgeltFG § 4 Nr. 58 = EzA EntgeltfortzG § 4 Nr. 6, zu III 2 c der Gründe). Entsprechendes wie für die Veränderung des Geldfaktors gilt für die Veränderung des Zeitfaktors. Nach dem Wortlaut des Gesetzes, in dem nur von der (beide Faktoren umfassenden) Bemessungsgrundlage die Rede ist, gelten jeweils dieselben Maßstäbe. Der Umstand, dass die individuelle Arbeitszeit des Arbeitnehmers über die im Tarifvertrag der Entgeltfortzahlung zugrunde gelegte tarifliche Arbeitszeit hinausgeht, führt somit nicht zwangsläufig zu einem Verstoß gegen § 4 Abs. 4 EFZG (vgl. - AP BGB § 615 Nr. 100 = EzA BGB 2002 § 612a Nr. 1, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu B II 2 b der Gründe). Wenn dem Arbeitnehmer im Ergebnis mehr als 80 % der Vergütung erhalten bleibt, liegt die Einschränkung unter derjenigen, die der Gesetzgeber 1996 als zumutbar angesehen hat.

bb) § 8 MTV senkt die Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts nicht gezielt unter 100 % ab. Weder wird der sich aus der Multiplikation von Geld- und Zeitfaktor ermittelte Betrag gekürzt, noch wird ein bestimmter Abschlag - in Prozent oder Zeiteinheiten - von dem Faktor Arbeitszeit vorgenommen. Indem die Tarifvertragsparteien auf die für den Arbeitnehmer maßgebende regelmäßige Arbeitszeit abstellen, wählen sie eine ambivalente Gestaltung des Zeitfaktors. Es sind Fälle denkbar, in denen im Entgeltfortzahlungszeitraum tatsächlich weniger, gleichviel oder mehr Arbeitszeit angefallen wäre. Die Regelung zielt nicht generell auf eine Reduzierung der Entgeltfortzahlung ab. Die Entgeltfortzahlung entspricht vielmehr der regelmäßigen Vergütung der Mehrzahl der Arbeitnehmer der Beklagten. Abweichungen im Einzelfall sollen unberücksichtigt bleiben.

cc) Dass der tarifliche Zeitfaktor die (höhere) regelmäßige individuelle Arbeitszeit einzelner Arbeitnehmer unberücksichtigt lassen darf, ergibt sich auch aus dem Zusammenhang der Regelungen des § 4 Abs. 1 EFZG und § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG. Überstundenvergütung und -zuschläge iSd. § 4 Abs. 1a Satz 1 EFZG sind ohnehin kraft Gesetzes aus der Bemessungsgrundlage ausgenommen. Die den Tarifvertragsparteien durch § 4 Abs. 4 EFZG eingeräumte Gestaltungsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitfaktors muss also weiter gehen, wenn die Regelung nicht leer laufen soll; denn das Gesetz legt in § 4 Abs. 1 und Abs. 1a EFZG eine individuelle Arbeitszeit zugrunde. Die Bestimmung, dass nicht die individuelle, sondern eine andere (betriebsübliche, gesetzliche, tarifliche) Arbeitszeit für den Zeitfaktor maßgebend ist, wird also durch die Bezugnahme des § 4 Abs. 4 EFZG auf § 4 Abs. 1 und Abs. 1a EFZG ermöglicht.

4. Die Tarifregelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Der Gleichheitssatz verbietet es, gleiche Sachverhalte unterschiedlich oder wesentlich unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln. Das Verbot ist verletzt, wenn sich für die vorgenommene Differenzierung oder Gleichbehandlung ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt, wenn also die (un)gleiche Behandlung der Sachverhalte mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtung nicht mehr vereinbar ist.

b) Der Gleichheitssatz wird durch eine Tarifnorm verletzt, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien haben hiernach eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Es genügt, wenn sich für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund ergibt. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte zu prüfen, ob die Tarifvertragsparteien die gerechteste, vernünftigste oder zweckmäßigste Lösung für ein Regelungsproblem gefunden haben ( - AP GG Art. 3 Nr. 300, zu II 3 a der Gründe; - 6 AZR 492/99 - AP BAT § 52 Nr. 8 = EzA GG Art. 3 Nr. 92, zu I 3 a der Gründe).

c) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist die tarifliche Regelung des Arbeitszeitfaktors nicht zu beanstanden. Zwar wirken sich die unterschiedlichen individuellen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer bei der Höhe der Krankenvergütung nicht entsprechend aus. Die Arbeitnehmer erhalten im Falle der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ohne Rücksicht auf ihre persönliche Arbeitszeit (nur) die tarifliche Vergütung. Jedoch gebietet Art. 3 Abs. 1 GG nicht zwingend eine weiter gehende Differenzierung zwischen den gleichermaßen arbeitsunfähig kranken Arbeitnehmern. Die Tariföffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EFZG soll ermöglichen, die Bemessungsgrundlage entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen der Wirtschaftszweige oder Unternehmen zu regeln. Dazu gehört auch eine vom Gesetz abweichende Berechnung der ausgefallenen Arbeitszeit. Definiert der Tarifvertrag die ausgefallene Arbeitszeit von vornherein in dem Sinn, dass die tarifliche Arbeitszeit maßgebend ist, ist dies einleuchtend, sachlich vertretbar und nicht ohne Weiteres ungerecht. Die damit verbundene Typisierung und Pauschalierung ist vielmehr sachgerecht. Eine derartige Bestimmung vereinfacht die Entgeltberechnung und sorgt für die Kalkulierbarkeit der Ansprüche bei den Arbeitsvertragsparteien, ohne auf eine willkürlich gewählte Stundenzahl abzustellen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2004 S. 1572 Nr. 28
DB 2004 S. 1673 Nr. 31
RAAAB-94305

1Für die Amtliche Sammlung: Ja; Für die Fachpresse: Nein