BAG Urteil v. - 4 AZR 533/02

Leitsatz

[1] Eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, nach der übertarifliche Zulagen auf "kommende" Lohnerhöhungen anrechenbar sind, beschränkt das Anrechnungsrecht des Arbeitgebers auf den Zeitraum bis zur erstmöglichen Umsetzung der Erhöhung.

Gesetze: BGB § 133; BGB § 157

Instanzenzug: ArbG Nürnberg 10 Ca 955/01 vom LAG Nürnberg 4 Sa 929/01 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte tarifvertragliche Lohnerhöhungen in den Jahren 1999 und 2000 sowie Januar 2001 wirksam auf übertarifliche Zulagen des Klägers hat anrechnen können.

Der am geborene Kläger trat am in die Dienste der D Spedition GmbH. In dem schriftlichen Formulararbeitsvertrag der damaligen Arbeitsvertragsparteien vom , der auch zwischen den Parteien gilt, ist, soweit für den Rechtsstreit von Interesse, bestimmt:

...

§ 5 Arbeitsvergütung

Der Lohn beträgt stündlich brutto DM 10,26 ab DM 10,59. Er setzt sich zusammen aus

1. dem Tariflohn von DM ... 2. übertarifliche Zulagen von DM ... Die Zahlung von übertariflichen Zulagen, Gratifikationen, Prämien u.ä. Zuwendungen liegt im freien Ermessen des Arbeitgebers und begründet keinen Rechtsanspruch, auch wenn die Zahlung wiederholt ohne den ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt. Sie sind jederzeit ohne Einhaltung einer Frist widerrufbar und anrechenbar auf kommende Lohnerhöhungen.

...

§ 16

Änderungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.

...

Die Beklagte führt nach mehreren Rechtsnachfolgen auf der Arbeitgeberseite das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fort. Zwischen den Parteien gelten kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für das Speditions- und Transportgewerbe in Bayern.

In dem bis zum gültigen Lohntarifvertrag Nr. 21 vom für die gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des Speditions- und Transportgewerbes in Bayern (LTV Nr. 21), nach dem der Tariflohn des Klägers nach Lohngr. 4 2.870,00 DM betrug, ist in § 5 bestimmt:

§ 5 Besondere Bedingungen

Allgemeine tarifliche Erhöhungen können nur dann auf übertarifliche Zulagen angerechnet werden, wenn dies dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber nach der Kündigung des Lohntarifvertrages, mindestens 2 Wochen vor Auslaufen des alten Lohntarifvertrages, in betriebsüblicher Weise bekannt gemacht wird.

Dies gilt nicht für individuelle tarifliche Abänderungen aufgrund von Um- und/oder Höhergruppierungen. In diesen Fällen ist eine Anrechnung des Unterschiedsbetrages zwischen neuem und altem Tariflohn jederzeit möglich.

Maßgebend für die Anhebung ist der Tariflohn.

Diese Regelung ist auch in allen bisher nachfolgenden Lohntarifverträgen enthalten.

Mit Schreiben vom teilte die Beklagte dem Kläger mit:

Ihr Entgelt setzt sich zukünftig wie folgt zusammen:

Tarifgruppe NL41

Tarifentgelt DM 2870,00

Übertarifliche, jederzeit anrechenbare Zulage DM 321,00

Sonstige Zulage DM 0,00

Gesamtentgelt DM 3191,00

Wir weisen darauf hin, daß die übertarifliche Zulage freiwillig und nach freiem Ermessen gewährt und jederzeit auf künftige tarifliche Änderungen angerechnet werden kann.

Nach dem am in Kraft getretenen LTV Nr. 22 vom betrug der Tariflohn des Klägers (Lohngr. 4) 2.959,00 DM. Mit seiner Lohnabrechnung für August 1999 erhielt der Kläger folgende Mitteilung der Beklagten vom :

...

die Tarifverhandlungen in dem für Sie zuständigen Bezirk sind abgeschlossen.

Daher setzt sich Ihr Entgelt rückwirkend zum wie folgt zusammen:

Tarifgruppe NL41

Tariflohn-/gehalt DM 2959,00

Übertarifliche Zulage DM 232,00

Sonstige Zulage DM 0,00

Gesamtentgelt DM 3191,00

Die übertarifliche Zulage wird nach freiem Ermessen gewährt und kann auf künftige tariflich bedingte Änderungen angerechnet werden.

Der Kläger beanstandete die Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertarifliche Zulage mit Schreiben vom . Er verwies zur Begründung ua. auf § 5 LTV Nr. 22, dessen "Tatbestand ... nicht erfüllt" sei, und forderte die Beklagte - vergeblich - zur Nachzahlung der Vergütungsdifferenz für Juli und August 1999 in Höhe von je 89,00 DM auf.

Seit dem wird der Kläger nach Lohngr. 5 vergütet. Der Tariflohn dieser Lohngruppe belief sich nach dem LTV Nr. 22 auf 3.001,00 DM. Mit seiner Gehaltsabrechnung für Mai 2000 erhielt der Kläger eine Mitteilung der Beklagten vom , dass sich sein "Entgelt rückwirkend zum auf DM 3.255,00" erhöhe und aus dem Tariflohn in Höhe von 3.001,00 DM und einer übertariflichen Zulage in Höhe von 254,00 DM zusammensetze. Nach dem am in Kraft getretenen LTV Nr. 23 vom betrug der Tariflohn des Klägers (Lohngr. 5) 3.073,00 DM. Mit Schreiben vom teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Tarifverhandlungen in dem für ihn zuständigen Bezirk seien abgeschlossen; sein Bruttoentgelt betrage "rückwirkend zum " 3.255,00 DM, davon Tariflohn in Höhe von 3.073,00 DM und übertarifliche Zulage in Höhe von 182,00 DM. Sowohl die Gehaltsmitteilung vom als auch diejenige vom enthielten wiederum gleichlautend den Hinweis, die übertarifliche Zulage werde nach freiem Ermessen gewährt und könne auf künftige tariflich bedingte Änderungen angerechnet werden.

Auch diese Anrechnung der Tariflohnerhöhung beanstandete der Kläger, und zwar mit Schreiben vom , wiederum mit der Begründung, die vorgenommene Anrechnung sei unter Verstoß gegen § 5 LTV (nunmehr LTV Nr. 23) erfolgt. Mit diesem Schreiben machte er weiter - erneut vergeblich - die Nachzahlung der Vergütungsdifferenzen für Juli und August 2000 in Höhe von jeweils 163,00 DM geltend und fügte eine Berechnungstabelle über die von der Beklagten zu zahlenden Beträge für die Zeit von April 1999 bis August 2000 bei.

Der Kläger erstrebt die Verurteilung der Beklagten zur Nachzahlung der Vergütungsdifferenzen für die Zeit von Juli 1999 bis Januar 2001 einschließlich eines Restanspruchs an Weihnachtsgeld in Höhe von 44,00 DM für 1999. Er hat die Ansicht vertreten, die Anrechnungsschreiben der Beklagten seien zur Unzeit und in der falschen Form ergangen. Die Beklagte habe mit ihren Schreiben die Anrechnungserklärung in beiden Jahren erst nach der Tariferhöhung und weit nach der Kündigung des Lohntarifvertrages erklärt. Sie habe somit die Anrechnung erst rückwirkend vorgenommen. Damit habe die Beklagte gegen § 5 der jeweiligen LTVe verstoßen. Diese Norm sei keine unwirksame Effektivklausel. Vielmehr regele sie lediglich die Modalitäten der Anrechnung einer Tariflohnerhöhung. Sie tangiere gerade nicht das Stammrecht, sondern regele nur die sich aus dem Stammrecht (Zulässigkeit der Anrechnung) ergebenden Einzelansprüche bis zur nächsten allgemeinen Tariflohnerhöhung. Diese Regelung sei mit der auch von der Beklagten für wirksam gehaltenen Ausschlussfrist des § 20 des Manteltarifvertrages Nr. 4 für die Arbeitnehmer des Speditions- und Transportgewerbes in Bayern vom (MTV Nr. 4) vergleichbar.

Der Kläger hat beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.259,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus 910,00 DM brutto seit dem und nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem aus 2.259,00 DM zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, § 5 des LTV sei nichtig, da es sich bei dieser Norm um eine begrenzte Effektivklausel handele. Sie enthalte einen unzulässigen Eingriff in die im Arbeitsvertrag vom getroffene Vereinbarung über die Möglichkeiten und Modalitäten der Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf außertarifliche Zulagen. Ein solcher Eingriff in den übertariflichen Raum sei den Tarifvertragsparteien verwehrt. Darüber hinaus sei vom Kläger nicht vorgetragen, wann die Lohntarifverträge gekündigt worden seien und wann sie geendet hätten. Daher bestehe die Möglichkeit, dass ihre Anrechnungserklärungen zumindest teilweise fristwahrend iSv. § 5 der jeweiligen LTVe erfolgt seien. Schließlich habe der Kläger die Ausschlussfrist des § 20 MTV Nr. 4 nicht gewahrt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Es hat die Revision hinsichtlich der Zahlungsansprüche des Klägers in Höhe von 554,24 Euro (vormals 1.084,00 DM) betreffend die Monate Juli und August 1999, Juni 2000 bis August 2000 und November 2000 bis Januar 2001 samt Nebenforderungen zugelassen. Im Übrigen hat es - wegen des Verfalls der weiteren Klageansprüche im Falle ihrer Entstehung durch Versäumung der tariflichen Ausschlussfrist - die Revision nicht zugelassen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche im Rahmen der Zulassung weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt hinsichtlich der in der Revisionsinstanz angefallenen Ansprüche des Klägers zur teilweisen Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

I. Der Kläger kann von der Beklagten mit Recht die Zahlung von 554,24 Euro nebst der geforderten Zinsen verlangen. Das hat das Arbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt. Die Abänderung seines Urteils durch das Landesarbeitsgericht ist insoweit rechtsfehlerhaft.

1. Der Kläger hat kraft vertraglicher Vereinbarung der Parteien (§ 305 BGB aF bzw. § 311 Abs. 1 BGB nF) Anspruch auf die in der Revision geforderte übertarifliche Zulage.

a) Der Anspruch auf die übertarifliche Zulage für die Monate Juli und August 1999 folgt aus dem Schreiben der Beklagten vom , mit dem die Beklagte dem Kläger die Zahlung einer "übertariflichen jederzeit anrechenbaren Zulage" ab in Höhe von - monatlich - 321,00 DM (brutto) zugesagt hat. Mit der konkludenten Annahme durch den Kläger ist eine entsprechende Lohnvereinbarung zustande gekommen. Für die Jahre 2000 und 2001 gilt das gleiche. Das vom Kläger konkludent angenommene Angebot der Beklagten auf Zahlung der "übertariflichen Zulage" in Höhe von 254,00 DM (brutto im Monat) ab ist mit Schreiben vom erfolgt, so dass durch diese Vereinbarung der Anspruch des Klägers auf die Zulage für die in der Revision angefallenen Abrechnungszeiten Juni bis August 2000 und November 2000 bis Januar 2001 begründet worden ist. Darüber besteht zwischen den Parteien kein Streit.

b) Die Kürzung der übertariflichen Zulage durch ihre Verrechnung mit den Tariflohnerhöhungen per und durch die Beklagte ist nicht wirksam. Der Kläger kann daher für die noch streitigen Anspruchszeiträume die Zahlung der ungeschmälerten Zulage verlangen.

aa) Das Landesarbeitsgericht hat die Auffassung vertreten, ein Anrechnungsrecht, für dessen Vollzug eine Anrechnungshandlung der Beklagten erforderlich sei, liege nicht vor. Erhalte der Arbeitnehmer eine übertarifliche Vergütung und erhöhe sich der Tariflohn, vermindere sich automatisch der zum vereinbarten Entgelt verbleibende Anteil, ohne dass es entsprechender konstitutiver Erklärungen des Arbeitgebers bedürfe.

bb) Diese Rechtsauffassung wird dem Inhalt des Arbeitsvertrages vom und dem vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt nicht gerecht.

(1) Bei dem Arbeitsvertrag der Parteien handelt es sich um einen Formularvertrag, der erkennbar von der Rechtsvorgängerin der Beklagten für eine Vielzahl von Fällen gleichlautend verwandt worden ist und deshalb über das Arbeitsverhältnis der Parteien hinaus Bedeutung hat. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hat ein vorgedrucktes Formular verwandt, in das lediglich ihre Bezeichnung, die persönlichen Daten des Klägers, seine Funktion, sein Stundenlohn und der Beginn des Arbeitsverhältnisses eingesetzt worden sind. Insbesondere der vorgedruckte Text zur Widerrufbarkeit und Anrechenbarkeit übertariflicher Zulagen (§ 5 Satz 3 und 4 des Arbeitsvertrages) ist von den Vertragspartnern nicht geändert worden. Derartige typische Vertragsklauseln sind wie Rechtsnormen zu behandeln, ihre Auslegung kann daher vom Revisionsgericht ohne Einschränkung überprüft bzw. vorgenommen werden (Senat - 4 AZR 581/99 - BAGE 95, 296, 298, 299 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 12 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 13).

Der Kläger macht mit Recht geltend, dass die Vertragsparteien für den - auch teilweisen - Wegfall der übertariflichen Zulage eine Bestimmungshandlung des Arbeitgebers vorausgesetzt haben. Dies folgt daraus, dass die Vertragsparteien die "übertariflichen Zulagen, Gratifikationen, Prämien u.ä. Zuwendungen" als "widerrufbar" und "anrechenbar" bezeichnet haben. Damit wird dem Arbeitgeber eine Gestaltungsmöglichkeit eingeräumt, die im einen wie im anderen Fall des Vollzuges einer gestaltenden Bestimmungshandlung des Arbeitgebers bedarf. Dies gilt bei der "Widerrufbarkeit" der Zulage begrifflich, denn der "Widerruf" ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Aber auch für den Fall der "Anrechnung" ist bei der hier behandelten Vertragsgestaltung deutlich, dass der Arbeitgeber seinen diesbezüglichen Vorbehalt dem Arbeitnehmer gegenüber ausüben muss. Anderenfalls hätte § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages etwa dahin gefasst werden müssen, die übertarifliche Zulage "vermindere sich mit jeder Tariflohnerhöhung automatisch um deren vollen Betrag". Der Vollzug des Arbeitsverhältnisses bestätigt diese Auslegung: Die Beklagte hat mit ihren Schreiben vom und jeweils darauf verwiesen, dass die übertarifliche Zulage auf "künftige tarifliche Änderungen" bzw. "künftige tariflich bedingte Änderungen" "angerechnet werden kann". Die Ausübung dieses Bestimmungsrechts hat sie dann nachfolgend mit ihren Schreiben vom und vollzogen.

(2) Die rückwirkende Bestimmung der Anrechnung der Tariflohnerhöhungen per mit Schreiben vom und derjenigen per mit Schreiben vom ist unter Verstoß gegen § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages erfolgt und damit unwirksam. Dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.

Nach § 5 S. 4 des Arbeitsvertrages bezieht sich der vereinbarte Anrechnungsvorbehalt "auf kommende Lohnerhöhungen". Damit haben die Arbeitsvertragsparteien, was ihnen unbenommen ist ( - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 118 = EzA TVG § 4 Tariflohnerhöhung Nr. 41, zu A II 1 b dd der Gründe; - 1 AZR 314/02 - zu I 1 b der Gründe), das vertraglich vorbehaltene Anrechnungsrecht einer zeitlichen Schranke unterworfen: Die Ausübung des Anrechnungsrechts der Beklagten dem Kläger gegenüber muss danach bis zur erstmöglichen Umsetzung der Lohnerhöhung ausgeübt werden, wie der Kläger mit Recht geltend macht. Ansonsten bezieht sich die Anrechnung nicht vertragsgemäß auf eine "kommende Lohnerhöhung".

Die Auslegung der Begriffskombination "kommende Lohnerhöhungen" gem. §§ 133, 157 BGB dahin, dies seien Lohnerhöhungen, die nach Abschluss des Arbeitsvertrages - also nach dem - vereinbart würden/worden sind, wertet das Attribut "kommende" als bedeutungslos ab. Auch wenn die Arbeitsvertragsparteien vereinbart hätten, die von ihnen in § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages aufgeführten Zuwendungen seien "anrechenbar auf Lohnerhöhungen", wäre eindeutig gewesen, dass damit nur Lohnerhöhungen nach dem gemeint sein konnten, in diesem Sinne also "kommende". Der Einführung des Adjektivs in den Vertragstext zur Verlautbarung dessen hätte es nicht bedurft. Denn es erscheint ausgeschlossen, dass sich ein Arbeitgeber, der sich die Anrechnung einer übertariflichen Zulage auf "Lohnerhöhungen" vorbehält, mit dieser Regelung auch die Anrechnung von vor dem Vertragsabschluss eingetretenen tariflichen Lohnerhöhungen vorbehalten will. Im Streitfall kommt hinzu, dass die Arbeitsvertragsparteien im Arbeitsvertrag vom lediglich die Zahlung von Tariflohn vereinbart haben, der Kläger also eine anrechenbare Zuwendung seinerzeit nicht erhielt.

Das Attribut "kommende" in der Begriffskombination "kommende Lohnerhöhungen" lässt sich sinnvoll nur dahin auslegen, dass dieses Tatbestandsmerkmal den Zeitpunkt der konkreten Anrechnungserklärung regelt: Diese Erklärung bezieht sich nur dann auf eine "kommende" Lohnerhöhung iSv. § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages, wenn der Arbeitgeber sie dem Arbeitnehmer gegenüber vor Inkrafttreten des neuen Lohntarifvertrages, im Falle dessen rückwirkenden Inkrafttretens spätestens mit dem ersten Vollzug der Tariflohnerhöhung vornimmt. Der Arbeitgeber muss also die erste Anrechnungsmöglichkeit nutzen.

Dieses Verständnis der Vereinbarung ist auch interessengerecht. Anderenfalls könnte der Arbeitgeber von dem vertraglich vorbehaltenen Anrechnungsvorbehalt monatelang keinen Gebrauch machen, um dann - für die Zukunft oder gar für die Vergangenheit - die Anrechnung dieser Tariferhöhung zu bestimmen. Die Vereinbarung der Parteien in § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages schafft hier Klarheit: Eine in einem solchen Fall getroffene Anrechnungsbestimmung bezieht sich weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft der Laufzeit des Lohntarifvertrages auf eine "kommende" Lohnerhöhung und ist damit vertragswidrig. Zudem erleichtert diese Vereinbarung die Beurteilung der vertraglichen Zulässigkeit einer Anrechnung in weniger klar liegenden Fällen, also solchen wie dem Streitfall, in dem die Anrechnung jeweils einen Monat nach dem Vollzug der Tariflohnerhöhung von der Beklagten bestimmt worden ist.

Für diese Auslegung spricht, dass die Beklagte sich arbeitsvertraglich nicht nur die Anrechnung, sondern auch das Recht des "jederzeitigen Widerrufs" der übertariflichen Zulage vorbehalten hat. Dieses Bestimmungsrecht kann sie unabhängig von einer Lohnerhöhung ausüben, also auch nach Eintritt einer solchen. Allerdings dürfte der Widerruf der Zulage - anders als deren Anrechnung auf die Lohnerhöhung - hinsichtlich seiner Wirksamkeit an § 315 BGB zu messen sein (vgl. - AP BGB § 611 Lohnzuschläge Nr. 5 = EzA BGB § 315 Nr. 2). Es macht Sinn, dass das davon nicht abhängige Anrechnungsrecht zeitlich begrenzt ist, also nur bei "kommenden" Lohnerhöhungen besteht.

Für die hier vertretene Auslegung von § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages sprechen schließlich die Anschauungen der Branche der damaligen und heutigen Arbeitsvertragsparteien, die in der diesbezüglichen tariflichen Regelung ihren Niederschlag gefunden haben. In § 5 LTV Nr. 21 bis 23 haben die Tarifvertragsparteien - ob wirksam oder nicht kann hier dahinstehen -, dem Arbeitgeber bei der Anrechnung einer Tariflohnerhöhung die Verpflichtung auferlegt, diese noch vor Inkrafttreten der Tarifänderung dem Arbeitnehmer betriebsüblich bekannt zu machen. Diese - hinsichtlich ihrer Voraussetzungen mehrfach geänderte - Verpflichtung hat eine lange Tradition in der Tarifgeschichte der hier in Rede stehenden Lohntarifverträge. Sie bestand auch schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages vom . Damals galt der LTV Nr. 10 vom , in Kraft bis . Dessen § 5 lautete:

§ 5 Besondere Bedingungen

Übertarifliche Zulagen können, soweit nicht Betriebsvereinbarungen oder einzelvertragliche Regelungen abgeschlossen sind, nur dann in Anrechnung gebracht werden, wenn dies dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber nach Kündigung und mindestens zwei Wochen vor Auslaufen des alten Lohntarifvertrages in betriebsüblicher Weise bekanntgemacht wird. Maßgebend für die Anhebung ist der Tariflohn.

Durch Betriebsvereinbarungen und/oder in Einzelarbeitsverträgen dürfen die tarifvertraglichen Mindestbedingungen nicht unterschritten werden.

Es war danach schon im Jahr 1985 der Wille der Tarifvertragsparteien, dass der Arbeitnehmer vor Inkrafttreten des neuen Lohntarifvertrags durch den Arbeitgeber über die von ihm beabsichtigte Anrechnung der Tariflohnerhöhung ins Bild gesetzt wird. Dem entspricht im Kern die Regelung § 5 Satz 4 des dem Arbeitsverhältnis zugrunde liegenden Formulararbeitsvertrages, der speziell für "die gewerblichen Arbeitnehmer des Speditionsgewerbes" entwickelt und von den Parteien im Geltungsbereich des damaligen LTV Nr. 10 für den Vertragsabschluss verwandt worden ist.

cc) Die Bestimmungen der Beklagten vom und , die Tariflohnerhöhungen auf die übertarifliche Zulage anzurechnen, sind vertragswidrig und unwirksam. Der LTV Nr. 22 ist am abgeschlossen worden und am in Kraft getreten; der Abschluss des am in Kraft getretenen LTV Nr. 23 ist am erfolgt. Die Beklagte hatte daher in beiden Jahren Gelegenheit, die Anrechnung - um beim Wortlaut des Arbeitsvertrages zu bleiben - der übertariflichen Zulage auf die "kommenden Lohnerhöhungen" im Juli beider Jahre vorzunehmen. Ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts ihrer Anrechnungsmitteilungen hat sie die Anrechnung aber jeweils einen Monat später "rückwirkend" vorgenommen. Einen - teilweisen - Widerruf der übertariflichen Zulagen hat die Beklagte nicht erklärt. Der Kläger hat daher Anspruch auf Nachzahlung der in der Revision noch geforderten, der Höhe nach unstreitigen und - streitlos - auch form- und fristgerecht nach § 20 MTV Nr. 4 geltend gemachten Beträge.

dd) Angesichts dieses Ergebnisses kann dahinstehen, ob § 5 der LTV Nr. 21 bis 23 als verdeckte begrenzte Effektivklausel unwirksam ist. Hierüber streiten die Parteien vorrangig. Im Falle ihrer Unwirksamkeit richtet sich die Wirksamkeit der hier interessierenden Anrechnungen ohnehin allein nach § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages. Handelt es sich bei der Regelung des § 5 der LTV Nr. 21 bis 23 um eine wirksame spezielle Ausschlussfristenregelung, die die Beklagte, wie sie es für denkbar hält, teilweise gewahrt hätte, erweist sich diese Tarifnorm als eine im Vergleich zur vertraglichen Anrechnungsvorschrift für den Kläger ungünstigere Regelung, so dass die Unwirksamkeit der Anrechnungen der Beklagten auch dann aus der für den Kläger günstigeren (§ 4 Abs. 3 TVG) und daher für die Parteien maßgebenden Regelung in § 5 Satz 4 des Arbeitsvertrages folgt.

2. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 BGB.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92, 97 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BB 2004 S. 1172 Nr. 21
BB 2004 S. 2082 Nr. 38
DB 2004 S. 876 Nr. 16
JAAAB-94124

1Für die Amtliche Sammlung: ja; Für die Fachpresse: nein