Bindungswirkung eines rechtskräftigen FG-Urteils; Verfahrensmangel wegen zu Unrecht unterlassener Sachprüfung
Gesetze: FGO § 110FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) begehren die Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987. Der Kläger war in den Streitjahren u.a. Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH. Nach einer bei der GmbH durchgeführten Außenprüfung nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte, das für die Besteuerung der Kläger zuständige Finanzamt (FA), verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) zu Gunsten des Klägers an und änderte die Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987 entsprechend. Dagegen erhoben die Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage.
Die GmbH erreichte im Einspruchsverfahren die teilweise und nach Klageerhebung —im Wege der außergerichtlichen Verständigung— auch die vollständige Rückgängigmachung der vGA und nahm ihre Klage anschließend zurück.
Das FA folgte der Auffassung des für die Besteuerung der GmbH zuständigen Finanzamts in dessen Einspruchsentscheidung und änderte die Einkommensteuerbescheide der Kläger für 1985 bis 1987, indem es einen Teil der vGA nicht mehr berücksichtigte. Die Kläger beantragten, die geänderten Einkommensteuerbescheide zum Gegenstand des Klageverfahrens zu machen.
Nachdem das Klageverfahren der GmbH durch Rücknahme der Klage beendet war, teilte der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) den Beteiligten schriftlich mit, er gehe davon aus, dass der Streitpunkt der vGA in den Einkommensteuersachen ebenfalls geklärt sei.
Die Kläger haben danach nur noch beantragt, die Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987 wegen eines anderen —nicht mehr streitigen— Punktes zu ändern. Das FG hat der Klage durch Urteil vom insoweit stattgegeben. Das Urteil ist rechtskräftig.
Im März 1996 beantragten die Kläger beim FA, die Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987 nunmehr mit der Maßgabe zu ändern, dass die vGA vollständig entfielen. Das FA lehnte die Änderung wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist ab.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§§ 173, 175 der Abgabenordnung —AO 1977—) sowie Verfahrensfehler.
Die Kläger beantragen,
die Vorentscheidung aufzuheben und das FA zur antragsgemäßen Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987 zu verpflichten.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Das FG hat im Wesentlichen ausgeführt, nach Rechtskraft des vorangegangenen Urteils hätten die Einkommensteuerbescheide der Kläger nur noch wegen Tatsachen geändert werden können, die nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung bekannt geworden seien. Die Änderung der Körperschaftsteuerbescheide durch das für die Besteuerung der GmbH zuständige Finanzamt sei den Beteiligten aber schon vorher bekannt gewesen und könne die Bindungswirkung des Urteils nicht durchbrechen. Diese Ausführungen sind so nicht zutreffend.
Der von den Klägern begehrten Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1985 bis 1987 steht das rechtskräftige Urteil des Hessischen …nicht entgegen. Bezüglich des Sachverhalts der vGA entfaltet es keine Bindungswirkung.
2. Rechtskräftige Urteile entfalten gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO nur insoweit Bindungswirkung, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Für den Umfang der Bindungswirkung kommt es allein darauf an, worüber das FG tatsächlich entschieden hat (vgl. , BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89; Senatsbeschluss vom VIII B 36/04, BFH/NV 2006, 86).
Im Streitfall hat das FG nicht über den der vGA zugrunde liegenden Lebenssachverhalt entschieden. Das rechtskräftige Urteil steht deshalb einer erneuten Änderung der Steuerbescheide insoweit nicht entgegen (§ 110 Abs. 2 FGO). Zwar hatten die Kläger ursprünglich auch gegen die Berücksichtigung vGA in den Einkommensteuerbescheiden für 1985 bis 1987 geklagt. Das FG hat darüber jedoch nicht mehr entschieden, nachdem die Kläger ihren Klageantrag entsprechend beschränkt hatten. Der vom FA für die gegenteilige Auffassung beanspruchte Abschnitt der Entscheidungsgründe befasst sich lediglich mit den kostenrechtlichen Auswirkungen der nachträglichen Antragsbeschränkung. Mit Rücksicht darauf hat das FG den Klägern einen Teil der Verfahrenskosten auferlegt, obwohl sie mit den zuletzt gestellten Anträgen vollständig obsiegt hatten.
3. Im Übrigen kann dahinstehen, ob das FG die Voraussetzungen zutreffend beurteilt hat, unter denen ein durch rechtskräftiges Urteil geänderter Steuerbescheid nach § 173 Abs. 1 AO 1977 wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel erneut geändert werden darf. Denn das FG hat übersehen, dass die zuletzt am geänderten Einkommensteuerbescheide der Kläger für 1985 bis 1987 noch unter Vorbehalt der Nachprüfung standen und deshalb in den Grenzen der Festsetzungsverjährung ohne Rücksicht auf das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen hätten geändert werden dürfen. Hält sich ein Gericht zu Unrecht an die Rechtskraft einer früheren Entscheidung gebunden und unterlässt es deshalb insoweit eine eigene Sachprüfung, liegt darin ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 86, m.w.N.). Im Streitfall hat es das FG zu Unrecht unterlassen, den Eintritt der Festsetzungsverjährung zu prüfen. Die Sache ist deshalb nicht spruchreif. Der BFH kann nicht abschließend beurteilen, ob die Festsetzungsfrist abgelaufen war. Das wäre nicht der Fall, wenn die Kläger vor Ablauf der Festsetzungsfrist ausdrücklich oder konkludent einen Antrag auf Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 gestellt hätten (§ 171 Abs. 3 AO 1977). Das FG hat hierzu bislang keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies wird es im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.
4. Für den Fall, dass das FG den Ablauf der Festsetzungsfrist bejaht, wird das FA auch eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu erwägen haben (§ 163 AO 1977). Dem stünde der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht entgegen (vgl. , BFH/NV 1987, 620). Das FA hat nicht nur in der Einspruchsentscheidung vom , sondern auch in seiner Klageerwiderung vom unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass es über die Berücksichtigung der vGA bei den Klägern in Abhängigkeit vom Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens der GmbH entscheiden wolle. Dementsprechend hat das FA die Teilabhilfe des für die Besteuerung der GmbH zuständigen Finanzamts in dessen Einspruchsentscheidung vom ohne eigene Sachprüfung zu Gunsten der Kläger den Änderungsbescheiden vom zugrunde gelegt. Bei dieser Sachlage durften die Kläger davon ausgehen, dass das FA auch die vollständige Abhilfe im Klageverfahren der GmbH rechtzeitig zu ihren Gunsten auswerten würde.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
AO-StB 2006 S. 219 Nr. 9
BFH/NV 2006 S. 1448 Nr. 8
YAAAB-89201