BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1618/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1

Instanzenzug: OLG Hamburg 3 Ws 160/05 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung eines Haftverschonungsbeschlusses aufgrund abweichender Beurteilung der Aussetzungsvoraussetzungen (§ 116 Abs. 1 StPO) durch das Oberlandesgericht im Verfahren über die Beschwerde allein des Beschuldigten gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls. Das Oberlandesgericht ordnete den Vollzug des Untersuchungshaftbefehls an, ohne eine veränderte Sachlage (§ 116 Abs. 4 StPO) festzustellen.

A. - I.

1. Dem Beschwerdeführer liegt gemeinschaftlicher Betrug in Tateinheit mit Urkundenfälschung zur Last. Gegen ihn wurde deshalb unter dem vom Amtsgericht Hamburg-Bergedorf ein auf den Haftgrund der Flucht gestützter Haftbefehl erlassen.

2. Nach Ergreifung des Beschwerdeführers wurde der Haftbefehl am vom Amtsgericht Tiergarten eröffnet. Der Beschwerdeführer wurde in Untersuchungshaft genommen. Unter dem beantragte sein Verteidiger mündliche Haftprüfung, mit Schriftsatz vom auch die sofortige Entlassung aus der Haft.

3. Durch Beschluss vom ordnete das Amtsgericht Hamburg-Bergedorf die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Hiergegen erhob der Verteidiger unter dem Beschwerde, der vom nicht abgeholfen wurde.

4. Mit Beschluss vom setzte das Landgericht Hamburg den Haftbefehl unter Auflagen außer Vollzug. Der Beschwerdeführer wurde am selben Tage aus der Haft entlassen. Dabei ging die Strafkammer davon aus, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit nicht flüchtig gewesen sei.

Allerdings sah die Kammer den Haftgrund der Fluchtgefahr als gegeben an, da der Beschwerdeführer über Verbindungen in das Ausland (Polen, USA) verfüge und mit einer empfindlichen Bestrafung zu rechnen habe. In Anbetracht der zurzeit jedoch noch nicht bezifferbaren mutmaßlichen Schadenshöhe, die für die Straferwartung von erheblicher Bedeutung sei, erscheine die Fluchtgefahr aber nicht derart hoch, dass ihr nicht - ebenso wie bei der Mitangeschuldigten - mit milderen Maßnahmen als dem Vollzug des Haftbefehls begegnet werden könne.

5. Hiergegen erhob der Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom weitere Beschwerde mit dem Ziel, nunmehr auch noch die Aufhebung des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu erreichen.

6. Mit Beschluss vom hob das Hanseatische Oberlandesgericht den Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht aus, aufgrund der nach §§ 304 ff. StPO zulässigen Anfechtung des Verschonungsbeschlusses habe der Senat unabhängig vom eigentlichen Ziel des Beschwerdeführers die Voraussetzungen des Haftbefehls zu prüfen. Diese lägen vor, eine Haftverschonung komme nicht in Betracht.

Der Beschwerdeführer sei der im Haftbefehl bezeichneten Tat dringend verdächtigt. Aus den Angaben der Geschädigten ergebe sich ein Schaden in Höhe von jedenfalls 94.000 Euro. Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr sei gegeben. Der Beschwerdeführer habe mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Gegen ihn werde außerdem ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges bei der Staatsanwaltschaft Lübeck geführt. Nach den Angaben seines Verteidigers sei zudem noch ein weiteres Ermittlungsverfahren anhängig. Dem dadurch bestehenden Fluchtanreiz stünden keine ausreichenden sozialen Bindungen gegenüber. Das Verhalten des Beschwerdeführers deute vielmehr darauf hin, dass er seinen tatsächlichen Aufenthalt in der Vergangenheit gezielt verschleiert habe, um sich dem weiteren Verfahren, jedenfalls aber der zu erwartenden Strafverbüßung zu entziehen. Innerhalb des ersten Halbjahres 2005 habe er zahlreiche Anschriften zur postalischen Erreichbarkeit genannt, die nicht seinem tatsächlichen Aufenthalt entsprochen hätten. Der aktiven Verschleierung des Aufenthaltsortes könne anders als durch den Vollzug der Untersuchungshaft nicht begegnet werden. Der Verschonungsbeschluss des Landgerichts sei deshalb aufzuheben.

Die Regelung des § 116 Abs. 4 StPO stehe dem nicht entgegen. Vorliegend gehe es nicht darum, ob ein nachträgliches Fehlverfahren des Beschuldigten die erneute Vollziehung des Haftbefehls rechtfertige, sondern darum, ob der Verschonungsbeschluss rechtmäßig ergangen sei. Eine Schlechterstellung des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren sei grundsätzlich zulässig (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, vor § 304 StPO Rn. 5 m.w.N.).

7. Nach Bekanntwerden des Beschlusses fand sich der Beschwerdeführer am beim Haftrichter in Hamburg-Bergedorf ein. Er befindet sich seitdem wieder in Untersuchungshaft.

II.

1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) und des Rechts auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG). Die durch § 116 Abs. 4 StPO vorgezeichnete Rechtslage werde in der angegriffenen Entscheidung des Oberlandesgerichts in krasser Weise verkannt. Dass ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl außerhalb des Vorliegens der Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO auf der Grundlage einer vom Beschuldigten erhobenen Beschwerde wieder in Vollzug gesetzt werden könne, werde - soweit ersichtlich - nirgendwo ernsthaft vertreten.

Es sei allgemein anerkannt, dass die Aussetzung des Haftvollzugs bei unveränderter Sachlage nicht widerrufen werden könne. Ein Widerruf sei ausschließlich unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich, dann aber auch obligatorisch. Demgegenüber sei es unzulässig, auf die Beschwerde des Beschuldigten gegen einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl diesen wieder in Vollzug zu setzen, obwohl die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen. Insofern gelte auch im Haftbeschwerdeverfahren das Schlechterstellungsverbot.

Letztlich könne die Klärung dieser Frage jedoch dahingestellt bleiben, da allgemein anerkannt sei, dass der Widerruf der gewährten Haftverschonung nur nach Maßgabe des § 116 Abs. 4 StPO zulässig sei und bei unveränderter Sachlage nicht in Betracht komme. Das Oberlandesgericht habe nicht festgestellt, dass die Sachlage verändert sei, sich aber gleichwohl für berechtigt gehalten, die Haftverschonungsentscheidung des Landgerichts aufzuheben.

Zur Stützung seiner Auffassung habe das Oberlandesgericht lediglich auf eine einzige Kommentarstelle (Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, vor § 304 StPO Rn. 5 m.w.N.) verwiesen, die sich zudem in dem Hinweis auf die gerade gegenteilige Auffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf aus dem Jahre 1993 (StV 1993, S. 480) erschöpfe, die eine in Jahrzehnten herausgebildete obergerichtliche Rechtsprechung bestätige, von der Abweichungen nicht ersichtlich seien.

2. Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG eröffnenden Weise - auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

I.

1. a) In die materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden (Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in einem unlösbaren Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, in dem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz, die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195>; 58, 208 <220>; 105, 239 <247>). Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar (BVerfGE 10, 302 <323>; 58, 208 <220>; 65, 317 <321 f.>). Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze sind deshalb von den Gerichten so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>).

b) Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben (vgl. hierzu -, StV 1993, S. 480 <481>; -, StV 1988, S. 207; -, StraFo 1997, S. 27; Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, § 116 Rn. 22; Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl., 2003, § 116 Rn. 27; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1997, § 116 Rn. 44), gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-)Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht. Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich (vgl. -, StV 2002, S. 207). Eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls durch den Richter kommt danach nur dann in Betracht, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwider handelt, wenn er Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne Entschuldigung ausbleibt oder wenn andere Umstände ergeben, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder wenn schließlich neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen (vgl. hierzu auch -, NStZ 2005, S. 279 <280>). Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung bei im Übrigen gleich bleibenden Umständen einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom - 1 Ws 46/04 -, StV 2004, S. 493; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 116 Rn. 44; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 1093).

2. Es kann offen bleiben, ob und in welchem Umfang § 116 Abs. 4 StPO im Beschwerdeverfahren im Übrigen unmittelbar Anwendung findet. Jedenfalls in den Fällen, in denen alleine der vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonte Beschuldigte Beschwerde gegen den Haftbefehl mit dem Ziel einlegt, diesen zu beseitigen, kommt der Widerruf einer gewährten Haftverschonung nur in Betracht, wenn sich die Umstände verändert haben. In diesen Fällen ist es unzulässig, auf die Beschwerde des Beschuldigten gegen einen einmal unangefochten außer Vollzug gesetzten Haftbefehl diesen wieder in Vollzug zu setzen, wenn die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen (vgl. -, StV 1993, S. 480; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., 2001, Rn. 773).

a) Mit der Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls hat der Beschuldigte eine Vergünstigung erlangt, die ihm - bei Nichtanfechtung des Haftverschonungsbeschlusses durch die Staatsanwaltschaft - nur noch unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO entzogen werden kann. Es widerspräche deshalb nicht nur der ratio legis dieser Vorschrift, den Widerruf der Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls nur bei veränderten Umständen zuzulassen, wenn zum Verlust des mit der Aussetzung erreichten Vorteils gerade die mit dem Ziel der Aufhebung des Haftbefehls allein vom Beschuldigten selbst eingelegte Beschwerde führen könnte. Eine solche Auslegung stünde zugleich auch mit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit und der aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Verpflichtung, Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>), nicht in Einklang.

b) Durch ein solches Vorgehen würde ferner auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 63, 380 <390>; 70, 297 <308>) verletzt. Die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates (vgl. BVerfGE 88, 118 <123>; 96, 27 <39 f.>), die vom Grundgesetz nicht nur durch Art. 19 Abs. 4 GG, sondern darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs garantiert wird. Dieser ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 93, 99 <107>; 107, 395 <401>). Die grundgesetzliche Garantie eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gewährleistet nicht nur den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Verfahrensordnungen, sondern garantiert auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Zugang zu Gericht darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Dies wäre jedoch der Fall, wenn der Adressat eines Haftverschonungsbeschlusses von einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Haftbefehls abgehalten würde, nur weil er damit rechnen müsste, dass das Beschwerdegericht die gewährte Vergünstigung aufhebt, obwohl die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen.

3. Die hiervon abweichende Beurteilung des Hanseatischen Oberlandesgerichts ist mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit und der aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Verpflichtung, Inhalt und Reichweite freiheitsbeschränkender Gesetze so auszulegen und anzuwenden, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>; 96, 68 <97>; 105, 239 <247>), nicht zu vereinbaren.

Den Rechtsmittelgerichten kommt, wenn allein der vom Vollzug der Untersuchungshaft verschonte Beschuldigte Beschwerde gegen den Bestand des Haftbefehls einlegt, mit Blick auf die in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Entscheidung eine eigene Beurteilungskompetenz nicht zu. Sie sind an die Beurteilung der Umstände durch das die Haftverschonung anordnende Gericht gebunden. Namentlich kann das Rechtsmittelgericht nicht den Vollzug von Untersuchungshaft anordnen, weil es - anders als das die Haftverschonung anordnende Gericht - den Erfolg der getroffenen Maßnahmen weniger günstig beurteilt. Eine eigene Beurteilungskompetenz ist dem Beschwerdegericht in diesen Fällen nur dann eröffnet, wenn sich die Umstände inzwischen verändert haben und demzufolge die Sperrwirkung des § 116 Abs. 4 StPO nicht mehr greift. Ansonsten muss das Rechtsmittelgericht, entsprechend der Intention des Gesetzgebers, dem Beschuldigten die Rechtswohltat der Außervollzugsetzung des Haftbefehls bei unveränderten Umständen zu erhalten, darauf vertrauen, dass die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegt und ihm dadurch eine Kontrolle der Haftverschonungsentscheidung eröffnet. Legt nur der Beschuldigte Beschwerde ein, um - wie im vorliegenden Fall - eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls zu erreichen, ist das Rechtsmittelgericht an die Beurteilung der Voraussetzungen der Außervollzugsetzung durch das Ausgangsgericht gebunden und kann seine Beurteilung, sofern keine Änderung der Umstände vorliegt, nicht an die Stelle derjenigen des sachnäheren Ausgangsgerichts setzen. Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass eine Veränderung der Umstände vorliegt. Es hat sich jedoch gleichwohl berechtigt gesehen, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Dies ist mit den aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar.

Nach allem vermag auch der Hinweis des Oberlandesgerichts auf die Kommentierung von Meyer-Goßner (vgl. StPO, vor § 304 Rn. 5 a.E.) seine Auffassung nicht zu stützen. Das Oberlandesgericht hat jede Auseinandersetzung mit der von Meyer-Goßner ausdrücklich kenntlich gemachten abweichenden Meinung des Oberlandesgerichts Düsseldorf (StV 1993, S. 480 <481>) unterlassen.

4. Aufgrund der bereits festgestellten Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit bedarf es keiner Entscheidung, ob das Oberlandesgericht, das entgegen dem ausdrücklich erklärten Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers, die Aufhebung des Haftbefehls zu erreichen, statt dessen die Rechtmäßigkeit des Haftverschonungsbeschlusses einer Kontrolle unterzogen und die dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung des Landgerichts aufgehoben hat, ohne zuvor die hierfür erforderlichen Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO festzustellen, zugleich auch gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen hat.

II.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts festzustellen. Der angegriffene Beschluss ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht hat unter Beachtung der angeführten Gesichtspunkte unverzüglich über die vom Beschwerdeführer mit dem Ziel der Aufhebung des Haftbefehls erhobene (weitere) Beschwerde zu entscheiden. Liegen die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vor, ist der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
wistra 2006 S. 57 Nr. 2
AAAAB-86737