BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 2224/98

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB VII § 104; SGB VII § 110 Abs. 1 Satz 3; SGB VII § 104 Abs. 1 Satz 1; SGB VII § 105 Abs. 1 Satz 1; ZPO § 114; RVO § 640; RVO § 641; BVerfGG § 93 c Abs. 1 Satz 1; BVerfGG § 34 a Abs. 2;

Gründe

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Ablehnung der Prozesskostenhilfe für ein zivilgerichtliches Berufungsverfahren, in dem der Beschwerdeführer von einem Mitschüler Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Zufügung eines Gesundheitsschadens begehrt.

I.

1. Der 1980 geborene Beschwerdeführer besuchte die Gunzelin-Realschule in Peine. Am wurde er durch einen Mitschüler verletzt. Dieser hatte ihm, als er auf der Toilette saß, unter der Kabinentür hindurch einen Knallkörper vor die Füße geworfen. Durch die Detonation erlitt er ein Knalltrauma mit akuter Hörminderung rechts und Ohrgeräuschen. Er musste sich in stationäre Behandlung begeben und leidet noch heute unter den Folgen der Schädigung.

Der Beschwerdeführer erhob gegen den Schädiger beim Landgericht Klage auf Ersatz von 200 DM Sachschaden und Schmerzensgeld in Höhe von 18.000 DM sowie auf Feststellung, dass der Schädiger verpflichtet sei, künftige materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen. Er beantragte zugleich, ihm für den Rechtsstreit Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu gewähren. Der Schädiger bestritt, gewusst zu haben, dass sich der Beschwerdeführer zum fraglichen Zeitpunkt auf der Toilette befand.

Das Landgericht lehnte den Antrag auf Prozesskostenhilfe ab, weil die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Der Schädiger würde für den Schulunfall gemäß § 104 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) nur haften, wenn er den Vorsatz gehabt hätte, den Beschwerdeführer so zu verletzen, wie es geschehen sei. Der Vorsatz in diesem Sinne müsse auch die Verletzungsfolgen umfassen. Hieran fehle es. Zwar habe der Schädiger davon ausgehen müssen, dass die Toilettenkabine nicht leer sei. Dem Parteivortrag lasse sich aber nicht entnehmen, dass der Schädiger ihn - wie geschehen - habe verletzen wollen.

Das Oberlandesgericht wies die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses zurück. Gegen die nicht weiter begründete Entscheidung erhob der Beschwerdeführer Gegenvorstellung. Er überreichte ein Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, in dem die Auffassung vertreten wird, das Vierte Kapitel des SGB VII über die Haftung sei als ein in sich geschlossenes System anzusehen. Bei der Auslegung des § 104 SGB VII sei daher § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII heranzuziehen, wonach sich das Verschulden nur (noch) auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln beziehen müsse. Das Oberlandesgericht wies mit Beschluss vom die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers zurück. Die Ablehnung der Prozesskostenhilfe sei rechtmäßig. Auch nach § 104 SGB VII müsse sich der Vorsatz auf den Umfang des Schadens, also den Gehörschaden des Beschwerdeführers, erstrecken. Dabei wird auf ein Bezug genommen.

2. Durch das Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (UVEG) vom (BGBl I, 1254) wurde das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung von der früheren Reichsversicherungsordnung (RVO) mit Wirkung zum in das SGB VII überführt (vgl. Art. 35, 36 UVEG). Nach §§ 104 Abs. 1 Satz 1, 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unternehmer und andere im Betrieb tätige Personen nur dann haftbar, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben. Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII muss sich für den Fall des Regresses durch den Sozialversicherungsträger das Verschulden des Schädigers nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen beziehen und nicht, wie vorher gemäß §§ 640, 641 RVO, auch auf den konkreten Verletzungserfolg.

3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG und sinngemäß eine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot). Das Oberlandesgericht habe zu Unrecht Prozesskostenhilfe versagt, weil es §§ 104, 110 SGB VII contra legem subsumiert habe. So werde ihm die Möglichkeit genommen, seinen Anspruch auf Schadensersatz durchzusetzen. Er verweist auf die Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur Auslegung des § 104 SGB VII.

II.

Zur Verfassungsbeschwerde hat das Niedersächsische Justizministerium Stellung genommen. Eine Grundrechtsverletzung sei nicht gegeben. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes läge nicht vor, weil das Gericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht überspannt habe.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hierfür maßgeblichen verfassungrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>; 34, 118 <134>).

1. Zwar hat der Beschwerdeführer nur den Beschluss über die Zurückweisung der Gegenvorstellung ausdrücklich angegriffen, jedoch ist der sinngemäss in die Verfassungsbeschwerde einbezogen. Nur so kann er sein Rechtsschutzziel, Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die zivilrechtliche Schadensersatzklage, erreichen.

2. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für die Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsgrundsatz).

a) Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz ergibt sich das Gebot einer weit gehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>; stRspr). Es ist zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO). Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren zu verlagern. Dieses Verfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).

b) Diese Grundsätze werden durch den angegriffenen Beschluss verletzt.

Die vom Beschwerdeführer beabsichtigte Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wirft schwierige, bislang nicht hinreichend geklärte Rechts- und Tatsachenfragen auf. Es wird insbesondere zu entscheiden sein, ob sich die frühere höchstrichterliche Rechtsprechung zur Auslegung der §§ 640 und 636 RVO auf die Neuregelung in §§ 104, 105 SGB VII übertragen lässt (so etwa Falkenkötter, NZS 1999, 379 <380>; ebenso, aber ohne nähere Begründung, Waltermann, NJW 1997 3401 <3402>; Schmitt, SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung, § 104 Rz. 17; zweifelnd Maschmann, SGb 1998, 54 <56>, Kater/Leube, <Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, § 104 Rz. 37>) oder ob § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII deren Auslegung bestimmt (so Otto, NZV 1996, 475 <477>; Rolfs, NJW 1996, 3177 <3178>; Nehls, Hauck, SGB VII, 4. Lfg. 1997, § 104 Rz. 28; Preis, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 1998, § 104 SGB VII Rz. 20; Graeff, SGb 1996, 299 <302>; Dahm, SozVers 1997, 61 <62>; vgl. auch das Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom ). Diese Fragen sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht geklärt.

Das Oberlandesgericht durfte diese Rechtsfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entscheiden, das für deren Klärung ungeeignet ist. Die Entscheidung schwieriger, nicht geklärter Rechtsfragen ist dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten.

IV.

Die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers hat das Land Niedersachsen zu erstatten (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG).

Fundstelle(n):
FAAAB-85759