BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 1314/01

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; GG Art. 103 Abs. 1; ArbGG § 72; ArbGG § 72 a

Instanzenzug: BAG 2 AZN 265/01 LAG München 8 Sa 230/00

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sowie gegen die Berufungsentscheidung eines Landesarbeitsgerichts, die der Beschwerdeführerin in vollständiger Fassung erst mehr als sieben Monate nach der Verkündung zugestellt worden ist.

I.

1. Die Beschwerdeführerin betreibt einen Seniorenpark, in dem die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Verwaltungsleiterin beschäftigt ist. Zum Seniorenpark gehört ein Parkcafe, das die Beschwerdeführerin verpachtet hat. Aufgrund verschiedener Vorwürfe gegen die Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für das Parkcafe (unerlaubte Nebentätigkeit, Unterschlagung, Nichtanzeige bestehender Sozialversicherungspflicht) kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis mit drei Schreiben jeweils außerordentlich fristlos sowie hilfsweise fristgerecht.

Auf die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage stellte das fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen nicht aufgelöst worden sei.

2. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin durch Urteil vom zurück; die Revision ließ es nicht zu. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin mehr als sieben Monate später, am , zugestellt.

Das Bundesarbeitsgericht wies die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landesarbeitsgerichts durch Beschluss vom zurück. Der Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am zugestellt.

II.

Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer am (Montag) eingegangenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG durch den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und das Urteil des Landesarbeitsgerichts sowie die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch das Berufungsurteil. Zur Begründung beruft sie sich insbesondere auf die Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats des - (NZA 2001, S. 982).

III.

Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen Stellung genommen.

Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es derzeit die Regelungen der Revisionszulassung im Arbeitsgerichtsgesetz (§§ 72, 72 a ArbGG) überprüfe. Es bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es werde überlegt, zumindest in gewissem Umfang auch bei Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, bei denen es sich nicht um tarifvertrags- oder koalitionsrechtliche Streitigkeiten handele, eine Zulassung der Revision zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung müsse sowohl den Interessen der Recht suchenden Bürger gerecht werden als auch eine zu starke Belastung des Bundesarbeitsgerichts als Revisionsinstanz vermeiden. Allerdings werde das Vorhaben wegen seiner Bedeutung und Komplexität in der laufenden Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr abgeschlossen.

Das Bayerische Staatsministerium hat sich dahin geäußert, dass es selbst und der Vorsitzende der 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts München die verspätete Urteilszustellung außerordentlich bedauerten.

B.

I.

Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.

Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <25 f.>; 69, 381 <385>). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 <269>; 88, 118 <124>).

2. Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.

Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des -, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.

II.

Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache - zur Vermeidung weiterer Verzögerungen - an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.

Die ebenfalls angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird damit gegenstandslos, sodass es keines weiteren Eingehens auf die insoweit erhobenen Rügen bedarf.

Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.

Fundstelle(n):
NAAAB-85311