BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 1036/99

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: BVerfGG § 90 Abs. 1; BVerfGG § 93 c Abs. 1; BVerfGG § 34 a Abs. 2; GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2; GG Art. 3 Abs. 3; GG Art. 12 Abs. 1;

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin strebt aufgrund einer Teilzeitqualifizierung in einer Allgemeinarztpraxis in Hamburg die Anerkennung als Praktische Ärztin an. Ihre Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht verfassungsrechtlich verpflichtet war, dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Entscheidung vorzulegen, wie das Vollzeiterfordernis für bestimmte Qualifizierungsabschnitte nach der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin (Richtlinie 86/457/EWG, ABl Nr. L 267 vom , S. 26) unter Berücksichtigung der Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom (Richtlinie 76/207/EWG, ABl Nr. L 39 vom , S. 40) zu verstehen ist.

1. Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 86/457/EWG gehört zu den Mindestvoraussetzungen für eine "spezifische Ausbildung" zum Praktischen Arzt oder zur Praktischen Ärztin eine mindestens zweijährige Vollzeitausbildung nach Abschluss eines sechsjährigen Studiums. Die Mitgliedstaaten dürfen insoweit zwar Teilzeitausbildung zulassen, müssen aber sicherstellen, dass ihre wöchentliche Dauer nicht unter 60 vom Hundert der wöchentlichen Ausbildungsdauer in Vollzeit beträgt. Daneben müssen einige Ausbildungsabschnitte in Vollzeit zurückgelegt werden. Dabei handelt es sich um den in Krankenhäusern stattfindenden Ausbildungsteil und um den Abschnitt in einer zugelassenen Allgemeinpraxis (Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 86/457/EWG). Für alle Facharzt-Qualifizierungen, also auch diejenige zum Facharzt für Allgemeinmedizin, können die Mitgliedstaaten jedoch ohne solche Einschränkungen durchweg Teilzeitqualifizierungen zulassen, sofern das Niveau der Weiterbildung nicht beeinträchtigt wird (so bereits: Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes <Richtlinie 75/363/EWG, ABl Nr. L 167 vom , S. 14>).

Dieser Unterschied in den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zur "spezifischen Ausbildung in der Allgemeinmedizin" und zu den übrigen Facharztqualifizierungen wurde auch beibehalten in der Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise (ABl Nr. L 165 vom , S. 1). Die Richtlinie 93/16/EWG hat die zuvor geltenden unterschiedlichen Arztrichtlinien abgelöst.

In Hamburg, wo die Beschwerdeführerin ihre praktische Tätigkeit absolviert hat, sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben durch eine Änderung des Hamburgischen Ärztegesetzes umgesetzt worden (§§ 13 a bis 13 d des Hamburgischen Ärztegesetzes in der Fassung des 2. Änderungsgesetzes vom <GVBl S. 70>). Von der den Mitgliedstaaten eingeräumten gemeinschaftsrechtlichen Übergangsregelung, die eine Vollzeitausbildung allein im Krankenhaus noch bis Ende 1994 erlaubt hätte (vgl. Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 86/457/EWG), hat der hamburgische Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Hamburg schreibt seit 1990 eine praktische Berufstätigkeit in Vollzeit von mindestens sechs Monaten in zugelassenen Krankenhäusern und weiteren sechs Monaten in kassenärztlichen oder vergleichbaren Arztpraxen für Allgemeinmedizin vor (§ 13 b Abs. 2 i.V.m. § 13 a Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 und 2 Hamburgisches Ärztegesetz).

2. Die Beschwerdeführerin ist approbierte Ärztin, der die Berechtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung fehlt. Diese setzt die "spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin" oder die Weiterbildung zur Fachärztin voraus. Ursprünglich wollte sich die Beschwerdeführerin zur Fachärztin für Allgemeinmedizin weiterbilden; sie war deshalb von 1988 bis 1992 in Vollzeit in einem Krankenhaus tätig. Nach der Geburt von Zwillingen entschied sie sich wegen der damit erreichbaren Verkürzung der Ausbildung für den Beruf der Praktischen Ärztin. Sie arbeitete deshalb für 12 Monate in einer Allgemeinmedizinpraxis als Teilzeitbeschäftigte im Umfang von über 60 vom Hundert einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit.

Die Ärztekammer Hamburg lehnte ihren Antrag auf Anerkennung zum Führen der Bezeichnung "Praktische Ärztin" ab, da die Beschwerdeführerin die geforderte sechsmonatige Praxistätigkeit bei einem niedergelassenen Arzt in Vollzeitbeschäftigung hätte erbringen müssen. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Revision zurück (BVerwGE 108, 289 ff.). Zur Begründung verwies es auf die nach seiner Rechtsauffassung zwingenden europarechtlichen Vorgaben zur mindestens sechsmonatigen Vollzeittätigkeit in einer Praxis für Allgemeinmedizin, die die Beschwerdeführerin nicht erfüllt habe. Zwar habe der Europäische Gerichtshof bislang nicht entschieden, ob solche Vorgaben gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts verstießen. Selbst wenn jedoch das in der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom verankerte Verbot der mittelbaren Diskriminierung einschlägig sein sollte, komme eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht in Betracht. Denn das Gemeinschaftsrecht schreibe selbst durch die Richtlinien 86/457/EWG und 93/16/EWG in einer eindeutigen und jeden Zweifel ausschließenden Weise vor, dass die Ausbildung zum Praktischen Arzt Abschnitte einer Vollzeitausbildung umfassen müsse. Diese Richtlinien zum Arztrecht verdrängten nach den allgemeinen Grundsätzen der Spezialität und Priorität die Gleichbehandlungsrichtlinie aus dem Jahre 1976. Ein Verstoß der europarechtlichen Vorgaben gegen die Prinzipien des Rechtsstaates und den Schutz individueller Grundrechte komme nicht in Betracht. Ob das im Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts verletzt sein könnte, sei schon deshalb nicht zu prüfen, weil die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich nicht der Überprüfung am Maßstab der nationalen Grundrechtsbestimmungen unterlägen.

3. Mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Bundesverwaltungsgericht sei als letztinstanzliches Gericht seiner Verpflichtung, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, nicht nachgekommen. Sowohl die Frage, ob die Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen auf die ärztliche Aus- und Weiterbildung Anwendung finde, als auch die Frage, wie bei einander widersprechenden EG-Richtlinien zu verfahren sei, hätte dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden müssen, der sich zu beiden Fragen bisher noch nicht geäußert habe. Ein solches Verfahren hätte auch in der Sache Erfolg versprochen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stellten Maßnahmen, die wesentlich mehr Frauen als Männer benachteiligten, was nach Ansicht aller Beteiligten bei einer zwingend vorgeschriebenen Vollzeitqualifizierung der Fall sei, eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts dar. Eine besondere Rechtfertigung sei nicht erkennbar, da alle übrigen Weiterbildungen zu Fachärzten vollständig in Teilzeit zurückgelegt werden könnten, sofern stichhaltige Gründe vorlägen.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und die der Entscheidung zugrunde liegenden Normen verstießen auch gegen Art. 3 Abs. 3 GG, denn es liege eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts vor. Die Beschwerdeführerin habe bereits eine doppelt so lange Ausbildungszeit in Teilzeit absolviert, wie es die Mindestausbildungszeit in einer Allgemeinpraxis erfordere. Schließlich werde auch gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen, weil die Bedeutung der Qualifizierung zur Praktischen Ärztin mit der damit erst eröffneten Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung verkannt worden sei.

4. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten die Bundesregierung, die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, das Bundesarbeitsgericht, der Hartmann-Bund, der Deutsche Ärztinnenbund, der NAV-Virchow-Bund, der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands - Hausärzteverband, der Marburger Bund, der Deutsche Juristinnenbund, die Bundesärztekammer und die Ärztekammer Hamburg. Gebrauch gemacht haben davon die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, die Bundesärztekammer, der Marburger Bund, der Deutsche Juristinnenbund und der Deutsche Ärztinnenbund.

a) Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hält die Beschwerdeführerin durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts für nicht in ihren Grundrechten verletzt. Sie sei ihrem gesetzlichen Richter nicht entzogen worden, weil das Bundesverwaltungsgericht die Richtlinie 76/207/EWG nicht selbst ausgelegt, sondern die Rechtsauffassung vertreten habe, dass das speziellere und neuere Recht das ältere und allgemeine verdränge. Hierzu seien die nationalen Gerichte befugt.

b) Die Bundesärztekammer, der Marburger Bund und der Deutsche Ärztinnenbund halten die Gründe für das Vollzeiterfordernis nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für nur bedingt nachvollziehbar. Die Facharztausbildung für Allgemeinmedizin betreffe das gleiche Tätigkeitsfeld und stelle qualitativ und quantitativ höhere Anforderungen als die Ausbildung zum Praktischen Arzt, könne aber in Teilzeit zurückgelegt werden. Es sei daher nicht erkennbar, welche sachlichen Gründe eine unterschiedliche Behandlung bei der Anerkennung von Teilzeittätigkeiten für die Weiterbildung zur "Fachärztin Allgemeinmedizin" und zur "Praktischen Ärztin" rechtfertigen könnten. Eine nationale Abweichung von den Bestimmungen der Richtlinien komme jedoch nicht in Betracht, da sonst entsprechende Ausbildungen im Hinblick auf die gegenseitige Anerkennung der Befähigungsnachweise nicht mehr den Richtlinien entsprächen.

c) Nach der Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes hat das Bundesverwaltungsgericht willkürlich seine Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verletzt. Das Gericht habe zum einen die Bedeutung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts als allgemeinen und ungeschriebenen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts mit Grundrechtsqualität verkannt, das - ebenso wie die Auflösung einer Kollision zwischen zwei Richtlinien - vom Europäischen Gerichtshof zu beurteilen sei. Es gehe nicht an, mit den aus dem deutschen Recht abgeleiteten Grundsätzen der Priorität und der Spezialität selbst abschließend zu entscheiden, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob der Europäische Gerichtshof dieselben Grundsätze in gleicher Weise anwenden würde. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Schutzgesetzen sei zudem eher davon auszugehen, dass von einem gleichrangigen Nebeneinander unterschiedlicher Richtlinien auszugehen ist, welche notfalls im Wege lückenfüllender Rechtsfortbildung einander angeglichen werden müssten.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b, § 90 BVerfGG). Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, sind die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung gegeben. Die angegriffene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht mit allen Rügen zulässig.

a) Soweit sich die Beschwerdeführerin inhaltlich gegen die Richtlinie 86/457/EWG und die Richtlinie 93/16/EWG wendet und eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG geltend macht, sind ihre Rügen unzulässig. Gemeinschaftsrecht wird grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht geprüft; Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist (vgl. BVerfGE 73, 339 <376 bis 389>; 89, 155; Beschluss des Zweiten Senats des -, NJW 2000, S. 3124).

b) Auch soweit die Beschwerdeführerin eine Grundrechtsverletzung durch das Hamburgische Ärztegesetz geltend macht, fehlt es an der Zulässigkeit. Wenn der nationale Gesetzgeber Spielraum bei der Umsetzung von sekundärem Gemeinschaftsrecht hat, ist er zwar an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden und unterliegt insoweit in vollem Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1096/92 -, NVwZ 1993, S. 883 <884>). Die Beschwerdeführerin hat jedoch weder im Ausgangsverfahren noch im Verfassungsbeschwerde-Verfahren gerügt, dass die nach Europarecht zulässigen Übergangsregelungen vom hamburgischen Gesetzgeber nicht vorgesehen wurden, obwohl sie verfassungsrechtlich geboten gewesen wären. Soweit im Übrigen die Normsetzung zwingend dem Gemeinschaftsrecht folgt, ist sie ebenso wie das sekundäre Gemeinschaftsrecht selbst nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, sondern unterliegt dem auf Gemeinschaftsrechtsebene gewährleisteten Grundrechtsschutz.

2. Zulässig ist dagegen die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie ist auch begründet.

a) Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bereits entschieden. Es ist geklärt, dass der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist und es einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellt, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 82, 159 <194 ff.>; s. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 866/96 -, NVwZ 1997, S. 481; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 264/98 -, DB 1998, S. 1919). Danach wird die Vorlagepflicht insbesondere in solchen Fällen unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkennt. Gleiches gilt, wenn zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vorliegt oder wenn eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet hat. Erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind.

Eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe ist dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur möglich, wenn ihm die Gründe hinreichend sicher bekannt sind, aus denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abgesehen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 557/88 -, NVwZ 1993, S. 883).

b) Nach diesen Maßstäben verletzt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Bundesverwaltungsgericht hat als letztinstanzliches Fachgericht die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof aus zwei Gründen in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt. Zum einen hat das Bundesverwaltungsgericht die von ihm selbst erkannte und aufgeworfene Problematik der Richtlinienkollision in einer im europäischen Rechtsraum nicht vertretbaren Weise, nämlich allein nach nationalen Maßstäben ohne jede Auseinandersetzung mit der europäischen Judikatur, beantwortet (1). Zum anderen hat es seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkannt, soweit es nicht in Betracht gezogen hat, dass das Verbot der nicht gerechtfertigten Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten zum allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter gehört, den alle Gemeinschaftsorgane zu beachten haben (2).

(1) Das Bundesverwaltungsgericht hat die gemeinschaftsrechtliche Frage nach der Kollision zwischen der Richtlinie 76/207/EWG und den Richtlinien 86/457/EWG sowie 93/16/EWG ohne erkennbare Orientierung an der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs oder am Gemeinschaftsrecht allein nach nationalen Maßstäben beurteilt. Das Bundesverwaltungsgericht nennt keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Problematik von Richtlinienkollisionen, die es - worauf in den Stellungnahmen hingewiesen wird - durchaus gibt. Infolge dieses Versäumnisses hat sich das Gericht auch nicht erkennbar mit der vorhandenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auseinander gesetzt. Aus welcher Norm des europäischen Rechts das Bundesverwaltungsgericht seine Berechtigung herleitet, selbst über die Normenkollision nach Grundsätzen zu entscheiden, die es dem deutschen Recht entnimmt (Grundsätze der Priorität und der Spezialität), wird nicht belegt. Es fehlt schon an der Angabe von Gründen, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom , DB 1998, S. 1919, und Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom , NVwZ 1993, S. 883). Ein Gericht, das sich hinsichtlich des europäischen Rechts nicht ausreichend kundig macht, verkennt regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Dabei umfasst der Begriff des europäischen Rechts nicht nur materielle Rechtsnormen, sondern auch die Methodenwahl; denn die Wahl der Methode - Spezialität oder praktische Konkordanz - entscheidet auch darüber, welche Rechtsnorm sich im Kollisionsfall durchsetzt und damit materiell gilt.

(2) Auch soweit das Bundesverwaltungsgericht nicht in Betracht gezogen hat, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter zu den vom Europäischen Gerichtshof anerkannten ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten gehört, hat es seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkannt und damit gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen.

Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter und mit ihm das Verbot der unmittelbaren oder mittelbaren Benachteiligung wegen des Geschlechts ist Teil der grundlegenden allgemeinen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft, die vom Europäischen Gerichtshof als bindende Prüfungsmaßstäbe für das hoheitliche Verhalten von Gemeinschaftsorganen entwickelt wurden (vgl. -, Slg. 1992 II, S. 35; Urteil vom - Rs C 13/94 -, Slg. 1996 I, S. 2159 <2165>; Urteil vom - Rs 75 und 117/92 -, Slg. 1984, S. 1509 <1530>; s. auch BVerfGE 73, 339 <380> m.w.N.). Diese Grundrechtsverbürgungen, die vom Europäischen Gerichtshof aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen und der Europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt worden sind und als allgemeine Rechtsgrundsätze Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten, bilden die Grundlage dafür, dass das Bundesverfassungsgericht von einem wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft durch den Europäischen Gerichtshof ausgeht und sich seiner Kontrollbefugnis begeben hat (vgl. BVerfGE 73, 339 <383 bis 387>).

Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht in Betracht gezogen, dass es zur Überprüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts einen solchen durch den Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter geben könnte (vgl. dazu auch BVerfGE 97, 35 <43> - Hamburgisches Ruhegeldgesetz), der dem im Grundgesetz verankerten Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts entsprechen und Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten könnte. Auch diese Überlegung hätte eine Vorlage unabweisbar gemacht. Denn der Grundrechtsschutz der Beschwerdeführerin liefe ins Leere, wenn das Bundesverfassungsgericht mangels Zuständigkeit keine materielle Prüfung anhand der Grundrechte vornehmen kann und der Europäische Gerichtshof mangels Vorabentscheidungsersuchens nicht die Möglichkeit erhält, sekundäres Gemeinschaftsrecht anhand der für die Gemeinschaft entwickelten Grundrechtsverbürgungen zu überprüfen. In Fällen dieser Art verletzt das letztinstanzlich zuständige Fachgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch eine Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Fundstelle(n):
FR 2001 S. 492 Nr. 9
IAAAB-85181