EuGH Urteil v. - C-85/97

Mehrwertsteuer: Verjährung des Erstattungsanspruchs und Abhängigkeit der Berechnung vom Mitgliedstaat, in dem eine Leistung erbracht wird (Dienstwagenmiete)

Leitsatz

[1] 1 Eine nationale Praxis, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die von einer Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des Monats beginnt, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist, verstößt nicht gegen die Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern.

Da diese Artikel nicht den Beginn der Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer regeln und auch keine andere Bestimmung der Sechsten Richtlinie diese Frage betrifft, sind die Mitgliedstaaten befugt, ihre Verfahrensvorschriften anzuwenden, sofern diese nicht weniger günstig ausgestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die innerstaatliches Recht betreffen, und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich machen noch übermäßig erschweren.

2 Der Grundsatz, daß von der von den Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer die Steuer als Vorsteuer abgezogen wird, mit der die Gegenstände bereits bei jedem vorangegangenen Umsatz belastet worden sind, gilt umfassend. Weder die Erste Richtlinie 67/227 noch die Sechste Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer unterscheiden danach, ob eine Dienstleistung von einer im Inland oder einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Person erbracht wird.

Daher verstößt es gegen die Erste und die Sechste Richtlinie, die Mehrwertsteuer auf eine einem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber gewährte Sachleistung - Überlassung eines Fahrzeugs zur privaten Nutzung - nur dann unter Einbeziehung der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses Fahrzeugs gezahlten Mehrwertsteuer in die Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn die Anmietung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, nicht aber dann, wenn das Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet worden wäre.

Gesetze: Richtlinie 77/388 Art. 4 ; Richtlinie 77/388 Art. 10; Richtlinie 67/227

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 Das Tribunal de première instance Lüttich hat mit Entscheidung vom , beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag Fragen nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) und des Artikels 95 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Société financière d'investissements SPRL (SFI) (Klägerin) und dem belgischen Staat über die Bestimmung des Beginns der Frist für die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer auf die Überlassung eines in Luxemburg gemieteten Fahrzeugs an einen der Arbeitnehmer der Klägerin sowie über die Berechnungsgrundlage für diese Steuer.

Die belgischen Rechtsvorschriften

Zum Beginn der Frist für die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer

3 Artikel 17 Absatz 1 des Code da la TVA (Mehrwertsteuergesetz; im folgenden: CTVA) bestimmt:

"Bei der Lieferung von Gegenständen treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstandes bewirkt wird.

Wird der Preis jedoch ganz oder teilweise vor diesem Zeitpunkt in Rechnung gestellt oder vereinnahmt, so entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung bzw. zum Zeitpunkt der Vereinnahmung auf der Grundlage des in Rechnung gestellten bzw. eingenommenen Betrages.

Ausserdem entsteht der Steueranspruch zu dem für die Zahlung des gesamten oder eines Teils des Preises vertraglich vereinbarten Zeitpunkt entsprechend der Höhe des zu zahlenden Betrages, wenn dieser Zeitpunkt zwischen den in den vorigen Absätzen vorgesehenen liegt."

4 Artikel 81 CTVA sieht vor:

"Der Anspruch auf Zahlung der Steuer, der Zinsen und der steuerrechtlichen Geldbussen verjährt in fünf Jahren, beginnend mit dem Tag seiner Entstehung."

5 Artikel 16 Absätze 1 und 2 der Königlichen Verordnung Nr. 1 vom über die Maßnahmen zur Sicherstellung der Zahlung der Mehrwertsteuer (Moniteur belge, 1969, S. 7380) bestimmt:

"Der Steuerpflichtige ist verpflichtet, die Erklärung nach Artikel 50 Absatz 1 Unterabsatz 3 CTVA spätestens am zwanzigsten Tag jedes Monats bei dem für ihn örtlich zuständigen Mehrwertsteueramt einzureichen.

Der Steuerpflichtige, dessen jährlicher Umsatz ohne Mehrwertsteuer 20 Millionen Franken nicht übersteigt, gibt lediglich spätestens am zwanzigsten Tag des Monats, der jeweils auf ein Kalendervierteljahr folgt, eine Quartalserklärung ab. Ihm kann jedoch unter den vom Finanzminister oder von dessen Bevollmächtigten festgelegten Bedingungen erlaubt werden, eine Steuererklärung spätestens am zwanzigsten Tag jedes Monats abzugeben.

..."

Zur Berechnung der Mehrwertsteuer

6 Artikel 32 CTVA bestimmt:

"Bei einem Tausch und allgemeiner immer dann, wenn die Gegenleistung eine Leistung ist, die nicht nur in einem Geldbetrag besteht, ist zur Errechnung der Steuer auf diese Leistung deren Normalwert anzusetzen.

Der Normalwert entspricht dem Preis, der für jede der Leistungen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Steuer geschuldet wird, unter Bedingungen des vollen Wettbewerbs zwischen dem Leistungserbringer und einem von ihm unabhängigen Leistungsempfänger, die sich auf der gleichen Vermarktungsstufe befinden, im Inland erzielt werden kann."

7 Artikel 28 Nr. 6 CTVA sieht vor:

"Die Bemessungsgrundlage umfasst nicht:

...

6. die Mehrwertsteuer selbst."

Das Gemeinschaftsrecht

8 Artikel 2 Absätze 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301; im folgenden: Erste Richtlinie) bestimmt:

"Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, daß auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

..."

9 Artikel 4 der Sechsten Richtlinie definierte den Steuerpflichtigen in seiner bis zum geltenden Fassung wie folgt:

"(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.

(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst.

..."

10 Artikel 10 der Sechsten Richtlinie - Steuertatbestand und Steueranspruch - bestimmt:

"(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als

a) Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;

b) Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.

(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. Die Lieferungen von Gegenständen - ausser den in Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe b) bezeichneten - und die Dienstleistungen, die zu aufeinanderfolgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlaß geben, gelten jeweils mit Ablauf des Zeitraums als bewirkt, auf die sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.

..."

11 Artikel 22 der Sechsten Richtlinie - Pflichten im inneren Anwendungsbereich - bestimmt:

"(1) Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

...

(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate vom Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums an gerechnet nicht überschreiten. Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.

Die Steuererklärung muß alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzuege erforderlichen Angaben enthalten, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der sich auf diese Steuer und Abzuege beziehenden Umsätze sowie des Betrages der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Festlegung der Bemessungsgrundlage erforderlich ist."

Das Ausgangsverfahren

12 Die Klägerin wurde durch notarielle Urkunde vom 21. Oktober 1981 unter der Firma "SPRL Constructions et investissements" gegründet. Am selben Tag wurde sie für die Tätigkeit "Grundstücksgeschäfte" als mehrwertsteuerpflichtig registriert. Da steuerbare Umsätze ausblieben, wurde diese Registrierung am gelöscht.

13 Am änderte die Klägerin ihre Firma in "Société financière d'investissements" und erweiterte ihren Gesellschaftszweck. Am beantragte sie erneut die Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig.

14 Am - als das Verfahren der Neuregistrierung noch lief - gab die Klägerin eine Mehrwertsteuererklärung für den Zeitraum vom bis zum ab. Am wurde sie als mehrwertsteuerpflichtig neu registriert.

15 Im Anschluß an eine am durchgeführte Prüfung für den Zeitraum vom bis zum stellte die Steuerverwaltung Unregelmäßigkeiten fest, aufgrund deren die Klägerin verpflichtet wurde, Mehrwertsteuer in Höhe von 4 062 889 BFR (Hauptforderung) nachzuzahlen; ausserdem erstellte sie eine Berichtigungsaufstellung.

16 Am erließ der Leiter der Ersten Mehrwertsteuerkasse von Lüttich einen Steuerbescheid über den Betrag von 4 062 889 BFR zuzueglich Verzugszinsen in Höhe von monatlich 0,8 % seit dem und einer Geldbusse in Höhe von 609 000 BFR; dieser Bescheid wurde am für vollstreckbar erklärt und am zugestellt.

17 Am ließ der belgische Staat der Klägerin eine Zahlungsaufforderung über 3 864 231 BFR an Mehrwertsteuer, 203 000 BFR an Geldbussen und 309 120 BFR an gesetzlichen Zinsen bis zum zustellen.

18 Am legte die Klägerin gegen den Steuerbescheid vom Einspruch beim Tribunal de première instance Lüttich ein.

19 Im Rahmen dieser Klage machte sie geltend, die Auffassung der belgischen Verwaltung, die Verjährung beginne an dem Tag, an dem sie nach ihrer Eintragung als mehrwertsteuerpflichtig am ihre erste Steuererklärung habe abgeben müssen, nämlich am , sei mit den Artikeln 4 und 10 der Sechsten Richtlinie unvereinbar. Der Anspruch auf Zahlung der Mehrwertsteuer für die Zeit vor dem sei verjährt. Die Verjährung beginne nämlich mit dem Tag der Entstehung des Steueranspruchs, der nach Artikel 17 CTVA dem Tag der Verwirklichung des Steuertatbestands durch die mehrwertsteuerpflichtige Lieferung von Gegenständen oder die mehrwertsteuerpflichtige Erbringung von Dienstleistungen entspreche.

20 Auch über die Methode zur Berechnung der Sachbezuege in Form der Überlassung eines von der Klägerin bei einer in Luxemburg ansässigen Gesellschaft gemieteten Fahrzeugs an einen Arbeitnehmer für dessen Privatfahrten vertreten die Klägerin und der belgische Staat entgegengesetzte Standpunkte. Die Klägerin rügt nämlich, die belgische Steuerverwaltung habe die von ihr in Luxemburg entrichtete Mehrwertsteuer in die Berechnungsgrundlage für diese Bezuege miteinbezogen; wäre das Fahrzeug in Belgien gemietet worden, so hätte sich die Bemessungsgrundlage nicht auf die Mehrwertsteuer erstreckt. Die von der belgischen Verwaltung angewandte Berechnungsmethode verstosse nicht nur gegen Artikel 95 EG-Vertrag, sondern auch gegen den in der Sechsten Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Steuerneutralität.

21 Das Tribunal de première instance Lüttich gelangte zu der Auffassung, daß die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung der Sechsten Richtlinie und des Artikels 95 EG-Vertrag abhänge. Es hat das Verfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist die Auffassung der Mehrwertsteuerverwaltung, bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die vor der Registrierung des Betreffenden als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, beginne die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Steuer mit Ablauf des zwanzigsten Tages des Monats, der auf das Kalendervierteljahr folge, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist, mit den Artikeln 4 und 10 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar?

2. Verstößt ein System, nach dem die Mehrwertsteuer für einem Arbeitnehmer einer Gesellschaft gewährte Sachbezuege dann, wenn vom Arbeitgeber belgische Mehrwertsteuer gezahlt wurde, unter Einbeziehung der gezahlten Mehrwertsteuer, wenn jedoch die Mehrwertsteuer eines anderen Mitgliedstaats gezahlt wurde, unter Ausschluß der gezahlten Mehrwertsteuer errechnet wird, gegen Artikel 95 EG-Vertrag und den in der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Grundsatz der "Steuerneutralität"?

Zur ersten Frage

22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Praxis gegen die Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie verstößt, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die von einer Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des Monats beginnt, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist.

23 Artikel 4 der Sechsten Richtlinie definiert zunächst den Begriff des Steuerpflichtigen. Artikel 10 betrifft nach seiner Überschrift die Frage des Steuertatbestands und des Steueranspruchs. Aufgrund dieser Bestimmung lässt sich der Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld ermitteln.

24 Artikel 22 Absatz 4 regelt die Abgabe der Steuererklärungen durch die Steuerpflichtigen, insbesondere ihre Periodizität und ihren Inhalt; nach Artikel 22 Absatz 5 hat der Steuerpflichtige den Mehrwertsteuerbetrag bei der Abgabe der Steuererklärung zu entrichten, sofern kein anderer Zahlungstermin festgesetzt oder vorläufige Vorauszahlungen erhoben wurden.

25 Keine dieser Bestimmungen regelt den Beginn der Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer. Eine Prüfung der Sechsten Richtlinie ergibt, daß auch keine andere Bestimmung diese Frage betrifft.

26 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten; diese Verfahren dürfen indes nicht weniger günstig ausgestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die innerstaatliches Recht betreffen, und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich machen noch übermäßig erschweren (siehe u. a. Urteil vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-312/93, Peterbröck, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 12).

27 Im vorliegenden Fall sind diese beiden Voraussetzungen unstreitig erfüllt.

28 Die Klägerin meint jedoch, die Praxis der belgischen Verwaltung verstoße gegen den Gleichheitssatz, da ein Steuerpflichtiger sein Recht auf Vorsteuerabzug nur innerhalb von fünf Jahren nach dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Rechts, d. h. dem Zeitpunkt der Entstehung des Steueranspruchs, ausüben könne; die Verjährungsfrist von fünf Jahren gegenüber der Steuerverwaltung beginne hingegen mit Ablauf des Tages, an dem die Steuererklärung grundsätzlich abzugeben sei.

29 Fällt eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so hat der Gerichtshof, wenn er im Vorabentscheidungsverfahren angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteil vom in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42).

30 Nach ständiger Rechtsprechung gehört der Gleichheitssatz zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts; nach diesem Grundsatz dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern nicht eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom in der Rechtssache 215/85, BALM, Slg. 1987, 1279, Randnr. 23).

31 Im vorliegenden Fall fällt das Mehrwertsteuerrecht unbestreitbar unter das Gemeinschaftsrecht. Daß die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ihre Verfahrensvorschriften anwenden können, ändert an dieser Feststellung nichts.

32 Die Stellung der Mehrwertsteuerverwaltung lässt sich jedoch nicht mit der eines Steuerpflichtigen vergleichen. Die Verwaltung hat nämlich von den zur Festsetzung des Steuerbetrags und des Betrages der Vorsteuerabzuege notwendigen Angaben frühestens an dem Tag Kenntnis, an dem die Erklärung nach Artikel 22 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie abgegeben wird, was im vorliegenden Fall dem zwanzigsten Tag des Monats entspricht, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem die Registrierung des Betreffenden als mehrwertsteuerpflichtig vorgenommen wurde. Enthält die Erklärung Unrichtigkeiten oder ist sie unvollständig, kann die Verwaltung also erst von diesem Zeitpunkt an die nicht entrichtete Steuer einfordern.

33 Mithin verstößt es nicht gegen den Gleichheitssatz, daß die Verjährung von fünf Jahren gegenüber der Steuerverwaltung mit Ablauf des Tages beginnt, an dem die Steuererklärung grundsätzlich abzugeben ist, der einzelne jedoch sein Recht auf Vorsteuerabzug nur innerhalb von fünf Jahren nach dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Rechts ausüben kann.

34 Die Klägerin behauptet weiter, der Standpunkt der belgischen Verwaltung führe zur Rechtsunsicherheit.

35 Dem ist nicht zu folgen. Wie der Generalanwalt in Nummer 16 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, trägt die nationale Regelung dadurch, daß sie als Ausgangspunkt für die Beziehungen zwischen der Steuerverwaltung und dem Steuerpflichtigen auf den Tag abstellt, an dem die Verwaltung die Anzeige der Tätigkeitsaufnahme nach Artikel 22 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie entgegengenommen hat, den Erfordernissen der Rechtssicherheit Rechnung; sobald der Steuerpflichtige registriert ist, steht für ihn außer Zweifel, wann er seine periodischen Verpflichtungen erfüllen muß und welche Verjährungsfrist ihm damit zukommt.

36 Demgemäß verstößt eine nationale Praxis, unter der bei mehrwertsteuerpflichtigen Umsätzen, die von einer Gesellschaft vor ihrer Registrierung als mehrwertsteuerpflichtig getätigt wurden, die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung der Mehrwertsteuer am zwanzigsten Tag des Monats beginnt, der auf das Kalendervierteljahr folgt, in dem diese Registrierung vorgenommen worden ist, nicht gegen die Artikel 4 und 10 der Sechsten Richtlinie.

Zur zweiten Frage

37 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht Aufschluß darüber erhalten, ob es gegen Artikel 95 EG-Vertrag und die Sechste Richtlinie verstößt, die Mehrwertsteuer auf eine einem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber gewährte Sachleistung - Überlassung eines Fahrzeugs zur privaten Nutzung - nur dann unter Einbeziehung der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses Fahrzeugs gezahlten Mehrwertsteuer in die Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn die Anmietung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, nicht aber dann, wenn das Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet worden wäre.

38 Das aufgrund der Artikel 99 und 100 EWG-Vertrag mit der Ersten Richtlinie eingeführte gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht nach Artikel 2 Absatz 1 dieser Richtlinie auf dem Grundsatz, daß auf Gegenstände und Dienstleistungen bis einschließlich zur Einzelhandelsstufe ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist. Nach Artikel 2 Absatz 2 wird jedoch bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer nur abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat. Der Mechanismus des Vorsteuerabzugs ist durch Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie so ausgestaltet, daß allein die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind (Urteil vom in der Rechtssache 15/81, Schul, Slg. 1982, 1409, Randnr. 10).

39 Dieser Grundsatz des Vorsteuerabzugs gilt umfassend. Weder die Erste noch die Sechste Richtlinie unterscheiden danach, ob eine Dienstleistung von einer im Inland oder einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Person erbracht wird.

40 Demgemäß ist es nicht notwendig, daß sich der Gerichtshof zu der Frage äußert, soweit sie Artikel 95 betrifft.

41 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß es gegen die Erste und die Sechste Richtlinie verstößt, die Mehrwertsteuer auf eine einem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber gewährte Sachleistung - Überlassung eines Fahrzeugs zur privaten Nutzung - nur dann unter Einbeziehung der vom Arbeitgeber auf die Miete dieses Fahrzeugs gezahlten Mehrwertsteuer in die Bemessungsgrundlage zu berechnen, wenn die Anmietung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, nicht aber dann, wenn das Fahrzeug im betreffenden Staat gemietet worden wäre.

Kostenentscheidung:

Kosten

42 Die Auslagen der belgischen und der deutschen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
MAAAB-72872

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg