Mehrwertsteuer: Unzulässige Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch Zuteilung von Staatsanleihen
Leitsatz
[1] Ein Mitgliedstaat, der für eine Gruppe von Steuerpflichtigen, die ein Steuerguthaben aufweisen, die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die Zuteilung von Staatsanleihen vorsieht, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 17 und 18 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern.
Die Einzelheiten der Erstattung, die ein Mitgliedstaat nach Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie festlegt, müssen es dem Steuerpflichtigen nämlich erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus diesem Steuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was voraussetzt, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung fluessiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt. Auf jeden Fall darf dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung kein finanzielles Risiko entstehen.
( vgl. Randnrn. 34, 39 und Tenor )
Gesetze: Richtlinie 77/388 Art. 17; Richtlinie 77/388 Art. 18 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), , ,
Gründe
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 17 und 18 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG des Rates vom zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer - Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung (ABl. L 102, S. 18, im Folgenden: Sechste Richtlinie) verstoßen hat, dass sie vorgesehen hat, dass für eine Gruppe von Steuerpflichtigen, die für das Jahr 1992 ein Steuerguthaben aufweisen, die Erstattung der Mehrwertsteuer durch die - im Übrigen verspätete - Zuteilung von Staatsanleihen ersetzt wird.
Das Gemeinschaftsrecht
2 Artikel 17 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
"(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
b) die Mehrwertsteuer, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist,
c) die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 5 Absatz 7 Buchstabe a), Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 28a Absatz 6 geschuldet wird,
d) die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 28a Absatz 1 Buchstabe a) geschuldet wird."
3 Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
"Übersteigt der Betrag der zulässigen Abzüge den Betrag der für einen Erklärungszeitraum geschuldeten Steuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen, oder ihn nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
Die Mitgliedstaaten können jedoch regeln, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden."
Das italienische Recht
4 Artikel 11 Absatz 1 des Decreto-legge Nr. 16, Disposizioni in materia di imposte sui redditi, sui trasferimenti di immobili di civile abitazione, di termini per la definizione agevolata delle situazioni e pendenze tributarie, per la soppressione della ritenuta sugli interessi, premi ed altri frutti derivanti da depositi e conti correnti interbancari, nonché altre disposizioni tributarie (Vorschriften auf dem Gebiet der Einkommensteuer, der Steuer auf die Veräußerung von Wohngebäuden, der Fristen für die erleichterte Regelung der Steuerverhältnisse und schwebender Steuersachen, der Abschaffung der Einbehaltung der Quellensteuer auf Zinsen, Prämien und andere Erträge aus Zwischenbankeinlagen und -kontokorrentkonten sowie mit anderen Steuervorschriften), vom (GURI Nr. 18 vom , S. 3, im Folgenden: Decreto-legge Nr. 16/93), umgewandelt in das Gesetz Nr. 75 vom (GURI Nr. 69 vom 24. März 1993, S. 3), bestimmt:
"Steuerpflichtige, die im Jahr 1992 Einfuhren aus Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit einem Umfang von mehr als 10 % des Gesamtumfangs ihrer im selben Jahr bewirkten Umsätze getätigt haben und in ihrer Mehrwertsteuererklärung ein Steuerguthaben von mindestens 100 Mio. ITL angeben, können diesen Betrag nicht in den folgenden Jahren in Abzug bringen..."
5 Artikel 11 Absatz 2 des Decreto-legge Nr. 16/93 sieht vor:
"Artikel 10 Absätze 1 und 2 [die Vorschriften zur Regelung der Tilgung der aus der Abwicklung der jährlichen Einkommen- und Mehrwertsteuererklärung resultierenden Guthaben durch die Zuteilung von Staatsanleihen an die betroffenen Steuerpflichtigen] finden auf die Tilgung der Guthaben im Sinne von Absatz 1 dieses Artikels Anwendung.
In diesem Fall ist der Antrag [auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch Zuteilung von Staatsanleihen] bis spätestens zu stellen; die Überprüfungsmaßnahmen sind spätestens am 30. Juni abzuschließen; die Zinsen für die einzelnen Guthaben sind am 31. Dezember 1993 zu berechnen; die Berechtigung aus den Staatsanleihen läuft ab ; der Hoechstbetrag der begebenen Anleihen darf 7 500 Mrd. ITL nicht überschreiten, wobei diese Ausgabe unter dem entsprechenden Posten des Haushaltsplans des Schatzministeriums für das Rechnungsjahr 1993 ausgewiesen wird; das Dekret des Schatzministers über die Ausgestaltung, die Modalitäten und das Verfahren der Zuteilung der betreffenden Anleihen ist bis zum in der Gazzetta Ufficiale zu veröffentlichen."
6 Das Decreto legge Nr. 250, Differimento di taluni termini ed altre disposizioni in materia tributaria (Decreto-legge Nr. 250 über die Verlängerung bestimmter Fristen und sonstige steuerrechtliche Bestimmungen, vom (GURI Nr. 150 vom , S. 10, im Folgenden: Decreto-legge Nr. 250/95), umgewandelt in das Gesetz Nr. 349 vom 8. August 1995 (GURI Nr. 196 vom , S. 3), verlängerte die Geltungsdauer dieser speziellen Modalitäten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die Zuteilung von Staatsanleihen. Artikel 3a Absatz 1 dieses Decreto-legge lautet:
"Zum Zweck der Tilgung der Mehrwertsteuerguthaben und der darauf angefallenen Zinsen, die aus den von den Steuerpflichtigen im Sinne des Artikels 11 Absatz 1 des Decreto-legge Nr. 16 vom , nach Änderung umgewandelt in das Gesetz Nr. 75 vom , abgegebenen Steuererklärungen für das Jahr 1992 resultieren und zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Dekrets noch nicht erstattet worden sind, wird der Schatzminister ermächtigt, mit Wirkung vom weitere frei umlauffähige Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren zu einem Hoechstbetrag von 400 Mrd. ITL zu begeben".
Sachverhalt und Vorverfahren
7 Da die Kommission der Auffassung war, dass die Decreti-leggi Nrn. 16/93 und 250/95 sowohl gegen den in Artikel 17 der Sechsten Richtlinie festgelegten Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug als auch gegen die Erstattungspflicht verstießen, die in Artikel 18 Absatz 4 der Richtlinie für den Fall vorgesehen ist, dass "der Betrag der zulässigen Abzüge den Betrag der... geschuldeten Steuer [übersteigt]", leitete sie ein Vertragsverletzungsverfahren ein, indem sie den italienischen Stellen am ein Mahnschreiben mit der Aufforderung zusandte, sich binnen zwei Monaten zu äußern.
8 In ihrem Mahnschreiben führte die Kommission u. a. aus, dass sie darüber informiert worden sei, dass zahlreichen italienischen Steuerpflichtigen im Sinne der Decreti-leggi Nrn. 16/93 und 250/95 der im Jahr 1992 angefallenen Mehrwertsteuerüberschuss nicht erstattet und ihnen somit ihr Recht auf Vorsteuerabzug genommen worden sei.
9 Die italienischen Stellen beantworteten dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom , in dem sie geltend machten, dass die italienischen Rechtsvorschriften über die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die Zuteilung von Staatsanleihen mit Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie im Einklang stehe.
10 Da die Kommission diesen Standpunkt der italienischen Stellen nicht teilte, forderte sie sie mit ergänzendem Mahnschreiben vom zur Äußerung auf.
11 In Beantwortung dieses zweiten Mahnschreibens sandten die italienischen Stellen der Kommission vier Schreiben vom 27. Januar, 3. Februar, 26. Februar und .
12 In ihren Schreiben vom 3. und führte die italienische Regierung insbesondere aus, dass die auf der Grundlage des Artikels 11 des Decreto-legge Nr. 16/93 begebenen Anleihen zwischen dem 26. April 1994 und Dezember 1998 in acht Fällen an Steuerpflichtige ausgegeben worden seien. Die auf der Grundlage des Artikels 3a des Decreto-legge Nr. 250/95 begebenen Anleihen seien zwischen dem und dem in vier Fällen an Steuerpflichtige ausgegeben worden.
13 Da das Vorbringen der italienischen Regierung die Kommission nach wie vor nicht überzeugte, sandte diese der Italienischen Republik am eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie sie aufforderte, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
14 Die italienischen Behörden sind dieser Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist nicht nachgekommen. Die Kommission hat daher die vorliegende Klage erhoben.
Behauptete Vertragsverletzung und Würdigung durch den Gerichtshof
Vorbringen der Parteien
15 Die Kommission ist der Auffassung, dass die Italienische Republik durch die Zuteilung von fünf oder zehn Jahre nach ihrer Emission fällig werdenden Staatsanleihen an Steuerpflichtige insbesondere gegen Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie über die Behandlung des Mehrwertsteuerüberschusses verstößt. Nach dieser Vorschrift dürfe die Differenz zwischen dem Betrag der zulässigen Abzüge und dem Betrag der geschuldeten Steuer nur auf den nächsten Erklärungszeitraum vorgetragen werden. Der Vortrag des Überschusses auf Erklärungszeiträume, die nicht unmittelbar auf den betreffenden Zeitraum folgten, verstoße gegen den in dieser Vorschrift aufgestellten Grundsatz, nehme den betroffenen Steuerpflichtigen die Möglichkeit der normalen Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug und beeinträchtige in schwerwiegender Weise einen fundamentalen Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, das Recht auf sofortige Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug.
16 Die Verpflichtung der nationalen Steuerbehörden, einem Steuerpflichtigen den Mehrwertsteuerüberschuss "sofort" zu erstatten, sei verbunden mit dem Recht des Steuerpflichtigen auf "sofortige" Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug. Die Kommission stützt sich insoweit auf das Urteil vom in den Rechtssachen C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96 (Molenheide u. a., Slg. 1997, I-7281, Randnr. 45).
17 Die "Einzelheiten" der Erstattung, die die Mitgliedstaaten nach Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie festlegen könnten, beträfen die möglichen Formen der Erstattung, wobei jedoch die Pflicht bestehe, den Personen, die Anspruch auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses hätten, fluessige Mittel zur Verfügung zu stellen. So könne die Erstattung durch Zahlung auf ein Kontokorrentkonto des Steuerpflichtigen, durch Zusendung von Bankschecks oder auf gleichwertige Weise erfolgen.
18 Dagegen überschreite ein Mitgliedstaat offensichtlich dieses ihm bei der Festlegung der Einzelheiten für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses eingeräumte Ermessen, wenn er dem Steuerpflichtigen nicht fluessiges Geld zahle, sondern ihn dazu verpflichte, eine Anleihe zu akzeptieren, deren Fälligkeit um fünf oder sogar zehn Jahre aufgeschoben sei.
19 Sollte der Steuerpflichtige das Geld, das der Staat ihm im Wege der Erstattung der Mehrwertsteuer schulde, für sein eigenes Umlaufvermögen benötigen, so wäre er gezwungen, entweder den dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechenden Betrag bei einer Bank zu leihen und somit hohe Passivzinsen zu zahlen, die die Aktivzinsen auf die ihm zugeteilten Staatsanleihen sicherlich überstiegen, oder diese Anleihen auf dem Finanzmarkt zu veräußern und dabei Gefahr zu laufen, sie zu einem unter ihrem Nennwert liegenden Preis verkaufen und vom Verkaufserlös die vom Finanzmakler verlangten Gebühren und Provisionen abziehen zu müssen.
20 Da der letzte Teil der auf der Grundlage des Artikels 3a des Dekrets Nr. 250/95 begebenen Staatsanleihen erst am fällig werde, dauere die Vertragsverletzung bis zu diesem Tag fort, sofern die italienischen Stellen nicht beschlössen, diese Anleihen vorzeitig zu tilgen. Dass nur ungefähr hundert Steuerpflichtige diese Staatsanleihen besäßen, habe keinerlei Einfluss auf das Bestehen oder die Schwere der Vertragsverletzung.
21 Dass der italienische Schatzminister die Anleihen verspätet ausgegeben habe, erschwere den Verstoß gegen die Artikel 17 und 18 der Sechsten Richtlinie nur.
22 Die italienische Regierung erinnert an ihr Vorbringen im Vorverfahren. Die Zuteilung von Staatsanleihen ab dem anstelle einer Erstattung durch Geldleistung bedeute nicht, dass der Mehrwertsteuerüberschuss auf spätere Erklärungszeiträume vorgetragen werde, sondern sei eine echte Erstattung gemäß den "Einzelheiten", deren "Festlegung" gemäß Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie die italienische Regierung für angebracht gehalten habe.
23 Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, sich bei der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses einer bestimmten Zahlungsweise wie zum Beispiel einer Geldleistung zu bedienen, da diese Vorschrift ausdrücklich vorsehe, dass die fragliche Erstattung entsprechend den vom Mitgliedstaat selbst festgelegten "Einzelheiten" vorgenommen werden könne. Der Begriff "Einzelheiten" sei weit zu verstehen und erfasse sowohl die Einzelheiten bezüglich der Form als auch die mit dem Inhalt der Erstattung zusammenhängenden Einzelheiten. Der italienische Gesetzgeber habe aufgrund dieser Vorschrift souverän festgelegt, dass die Italienische Republik im vorliegenden Fall die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die Zuteilung von Staatsanleihen und nicht durch die Zahlung eines gleichwertigen Geldbetrags vornehme.
24 Zwar sei einigen Steuerpflichtigen gegenüber die Erstattung verspätet erfolgt, doch habe dies nicht an der gesetzlichen Regelung oder an rechtlichen Problemen gelegen, sondern, übrigens auf wenige Fälle beschränkt, an Versäumnissen und Fehlern der mit der Emission der Anleihen befassten Stellen. Um diesem Missstand abzuhelfen, hätten die Steuerpflichtigen die gegen die betreffenden Stellen gegebenen verwaltungsinternen und gerichtlichen Rechtsbehelfe in Anspruch nehmen können.
25 Der Steuerpflichtige, der einen Anspruch auf Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses habe, habe durch die streitigen Erstattungsmodalitäten keinen Schaden erlitten, da die Anleihen, die er erhalten habe, Zinsen trügen und übertragbar seien und er deshalb seine Forderung sofort habe verwerten können. Die Italienische Republik habe keinerlei besonderen finanziellen Vorteil aus der Zuteilung der Anleihen gezogen, da diese Erstattungsmodalität bewirkt habe, dass die dem Steuerguthaben des Steuerpflichtigen entsprechende Schuld durch eine andere, durch die Staatsanleihen verkörperte Schuld ersetzt worden sei.
26 Im Übrigen führt die italienische Regierung in ihrer Klagebeantwortung aus, dass es für sie auf jeden Fall unmöglich oder überaus schwierig sei, der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen.
Würdigung durch den Gerichtshof
27 Um die Vereinbarkeit der streitigen nationalen Regelung mit der Sechsten Richtlinie prüfen zu können, sind zunächst die im vorliegenden Fall einschlägigen Merkmale des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in Erinnerung zu bringen.
28 Nach Artikel 17 der Sechsten Richtlinie sind die Steuerpflichtigen befugt, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abziehen, die bereits als Vorsteuer die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen belastet hat. Dieses Recht auf Vorsteuerabzug ist nach ständiger Rechtsprechung ein fundamentaler Grundsatz des durch das Gemeinschaftsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (vgl. insbesondere Urteil Molenheide u. a., Randnr. 47).
29 Nach Artikel 18 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie wird der Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Erklärungszeitraum schuldet, den Betrag der Steuer absetzt, die für den gleichen Zeitraum abgezogen werden kann.
30 Wie der Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, erlauben diese Merkmale des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems die Feststellung, dass der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, dass alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden. Sofern es keine Vorschrift gibt, die den Mitgliedstaaten eine Einschränkung des den Steuerpflichtigen gewährten Rechts auf Vorsteuerabzug gestattet, muss dieses Recht bezüglich der gesamten Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden können (vgl. insbesondere Urteil vom in der Rechtssache 50/87, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 4797, Randnrn. 15 und 16).
31 Übersteigt für einen Erklärungszeitraum der Betrag der abziehbaren Steuer den Betrag der geschuldeten Steuer und kann der Steuerpflichtige daher nicht gemäß Artikel 18 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie den Abzug durch Verrechnung vornehmen, so können die Mitgliedstaaten den Überschuss nach Artikel 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder ihn nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
32 Bereits aus dem Wortlaut des Artikels 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie und insbesondere aus dem Ausdruck "nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten" folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses über einen gewissen Spielraum verfügen.
33 Da jedoch die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses eines der Grundelemente ist, die die Anwendung des Grundsatzes der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gewährleisten, dürfen die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten nicht so beschaffen sein, dass sie diesen Grundsatz beeinträchtigen, indem sie den Steuerpflichtigen ganz oder zum Teil mit der Mehrwertsteuer belasten.
34 Deshalb müssen die Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses, die ein Mitgliedstaat festlegt, dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus diesem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen. Das setzt voraus, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung fluessiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt. Auf jeden Fall darf dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung kein finanzielles Risiko entstehen.
35 Aus dem von der italienischen Regierung nicht bestrittenen Vorbringen der Kommission ergibt sich aber, dass die italienische Regierung beschlossen hat, den Mehrwertsteuerüberschuss, den eine Reihe von Steuerpflichtigen für das Jahr 1992 aufwiesen, durch die Zuteilung von ab dem begebenen und fünf oder zehn Jahre nach ihrer Emission fällig werdenden Staatsanleihen zu erstatten. Diese Anleihen wurden an die betroffenen Steuerpflichtigen nur schrittweise von April 1994 bis Dezember 1998 ausgegeben.
36 Die streitige italienische Regelung, die nicht dazu führt, dass innerhalb einer angemessenen Frist fluessige Mittel gezahlt werden oder eine gleichwertige Zahlung erfolgt, sondern die Zuteilung von Staatsanleihen vorsieht, ist mit dem in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen System der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses nicht vereinbar.
37 Der von der italienischen Regierung vorgebrachte Umstand, dass nur relativ wenige Steuerpflichtige von der streitigen nationalen Regelung betroffen gewesen waren, hat keine Auswirkung auf die Feststellung, dass eine Vertragsverletzung vorliegt.
38 Auch das von der italienischen Regierung angeführte Problem, dass es für sie schwierig oder sogar unmöglich sei, dem Gemeinschaftsrecht nachzukommen, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die streitige nationale Regelung gegen die Sechste Richtlinie verstoße, hat keine Auswirkung auf die Entscheidung des Rechtsstreits. Nach ständiger Rechtsprechung kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (vgl. insbesondere Urteil vom 14. Juni 2001 in der Rechtssache C-473/99, Kommission/Österreich, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 12).
39 Daher ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 17 und 18 der Sechsten Richtlinie verstoßen hat, dass sie für eine Gruppe von Steuerpflichtigen, die für das Jahr 1992 ein Steuerguthaben aufweisen, die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die - im Übrigen verspätete - Zuteilung von Staatsanleihen vorgesehen hat.
Kostenentscheidung:
Kosten
40 Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr dem Antrag der Kommission entsprechend die Kosten aufzuerlegen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV-Beilage 2002 S. 25 Nr. 1
RAAAB-72866
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg