BFH Beschluss v. - XI B 189/04

Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung von Prozesserklärungen

Gesetze: GG Art. 2, 20; BGB § 133

Instanzenzug:

Gründe

I. Zwischen dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) ist streitig, ob, ggf. in welcher Höhe der Kläger in den Jahren 1997 bis 1999 Einkünfte aus selbständiger oder nichtselbständiger Tätigkeit erzielte.

Gegen die Einspruchsentscheidung des FA erhob der Kläger Klage, mit der er vortrug, als Krankengymnast selbständig tätig gewesen zu sein. Zum Beleg der durchgeführten Hausbesuche und Fahrten sowie der Zahlungsweise seines Auftraggebers, einer Arztpraxis, fügte er seiner Klageschrift ca. 220 Seiten als Anlage bei. Zugleich beantragte er Aussetzung der Vollziehung (AdV).

Das Klageverfahren erhielt das Az.: 5 K 933/02, das Verfahren über die AdV das Az.: 5 V 1632/02.

Mit Beschluss vom lehnte das Finanzgericht (FG) den Antrag auf AdV ab. Dieser sei, soweit er die Solidaritätszuschläge und Zinsen betreffe, unzulässig, im Übrigen unbegründet.

Am übersandte das FG der Prozessbevollmächtigten des Klägers unter dem Az. 5 K 933/02 folgendes —formalisierte— Anschreiben:

„Das Gericht hatte im summarischen Verfahren keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids (s. Beschluss vom , Az.: 5 V 1632/02). Bitte prüfen Sie, ob Sie unter Berücksichtigung der Gründe dieser Entscheidung die Klage aufrechterhalten. Eine Klagerücknahme ist derzeit noch gerichtsgebührenfrei möglich ...”

In Antwort auf dieses Schreiben ging folgender Schriftsatz beim FG ein:

„ Az.: 5 V 1632/02

Sehr geehrte Damen und Herren,

gemäß Ihrer Empfehlung vom nehme ich hiermit meine Klage zu dem o.g. Aktenzeichen zurück.

Da laut Beschluss vom die Aussetzung der Vollziehung nicht gewährt worden ist, bestehen somit keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des von mir angefochtenen Bescheides.”

Daraufhin stellte das FG unter dem Az. 5 K 933/02 das Verfahren mit Beschluss vom ein. Dieser wurde der Klägervertreterin übersandt.

Mit Schreiben vom wandte sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen die Einstellung des Verfahrens. Im Schreiben vom sei „das Klageverfahren gegen das Az.: 5 V 1632/02 zurückgenommen (worden),nicht das Klageverfahren gegen das Az.: 5 K 933/02”.

Das FG nahm das Verfahren wieder auf und wies die Klage mangels Rechtschutzbedürfnisses ab. Der Kläger habe seine Klage mit Schreiben vom zurückgenommen. Dieses Schreiben sei nach allgemeinen Auslegungsregeln (§ 133 des Bürgerlichen GesetzbuchsBGB—) aus objektiver Sicht des Erklärungsempfängers als Klagerücknahme zu verstehen. Für eine Rücknahme des Antrags auf AdV habe verfahrensrechtlich kein Raum mehr bestanden. Auch habe die Prozessbevollmächtigte eingeräumt, dass keine Zweifel mehr an der Rechtmäßigkeit der Bescheide beständen. Der Tatsache, dass im Betreff des Schreibens vom das Aktenzeichen des AdV-Verfahrens aufgeführt worden sei, könne nur geringes Gewicht beigemessen werden. Auch das gerichtliche Schreiben vom habe naturgemäß auf dieses Aktenzeichen Bezug genommen. Insofern beruhe es möglicherweise nur auf einem Versehen, wenn der Kläger auf das Aktenzeichen des AdV-Verfahrens Bezug genommen habe.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger, dass das FG zu Unrecht die Klage mangels Rechtschutzbedürfnisses abgewiesen habe. Die Klagerücknahme im Schreiben vom habe sich ausdrücklich und ausschließlich auf das AdV-Verfahren bezogen. Erst im Klageverfahren werde abschließend über die Hauptsache entschieden. Bei dem Schreiben des habe es sich um einen Vordruck gehandelt, in dem ebenfalls nur das Aktenzeichen des AdV-Verfahrens genannt worden sei.

II. Die Beschwerde des Klägers ist als unbegründet zurückzuweisen. Der Auffassung des FG, der Kläger habe seine Klage zurückgenommen, ist zuzustimmen.

1. Einseitige prozessgestaltende Prozesshandlungen sind zwar einer Auslegung entsprechend dem für Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden § 133 BGB zugänglich. Hierbei ist jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht nur das Gewicht der mit ihnen verbundenen Rechtsfolgen (keine Anfechtbarkeit, kein Recht zum freien Widerruf, vgl. z.B. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 50 Rz. 7), sondern vor allem auch zu berücksichtigen, in welchem Umfang und mit welcher Intensität der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf effektiven Rechtschutz durch die in Frage stehende Prozesserklärung berührt wird. Demgemäß muss eine Prozesshandlung, die wie beispielsweise eine Klagerücknahme einen endgültigen Verzicht auf gerichtliche Klärung beinhaltet, klar, eindeutig und vorbehaltlos sein (vgl. z.B. , BFHE 187, 404, BStBl II 1999, 300; , BFH/NV 2004, 1421; , BFHE 200, 1, BStBl II 2003, 142). Eine unklare Prozesserklärung ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes im Zweifel so auszulegen, dass das Ergebnis dem Willen eines verständigen Beteiligten entspricht (vgl. z.B. , BFH/NV 1991, 795, und vom IV R 48/02, BFHE 206, 211, BStBl II 2004, 964).

2. Unter Würdigung der Umstände ist im Streitfall davon auszugehen, dass es dem Willen der fachkundigen Prozessbevollmächtigten des Klägers entsprochen hat, mit Schreiben vom die Klage zurückzunehmen, denn nur diese war noch beim FG anhängig. „Klage zu dem oben genannten Aktenzeichen” (5 V 1632/02) kann nur die Klage mit dem Az. 5 K 933/02 sein.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1608 Nr. 9
XAAAB-56920