Feststellung der Nichtigkeit eines Grundlagenbescheids
Gesetze: AO § 171 Abs. 10, § 175
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Eheleute und werden im Streitjahr 1994 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Der Antragsteller war ausweislich der am abgegebenen Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Besteuerungsgrundlagen der X-Gesellschaft mbH & Co. KG (KG) für 1994 im März 1993 als Kommanditist in die KG eingetreten und im November 1993 bzw. März 1994 aus der Gesellschaft ausgetreten. Entsprechend den Angaben in der Feststellungserklärung betrug sein Anteil am laufenden Gewinn der Gesellschaft in diesem Zeitraum 0 DM. In einer Anlage zur Feststellungserklärung machte die KG nähere Angaben zum Zeitpunkt des Austritts und der Versteuerung des Veräußerungsgewinns des Antragstellers in Höhe von 3 028 408 DM im Jahr 1994. Mit unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) stehendem Feststellungsbescheid 1994 vom wurden der laufende Gewinn und der Veräußerungsgewinn erklärungsgemäß festgesetzt. In den Erläuterungen hierzu ist ausgeführt, dass eine Ausfertigung des Feststellungsbescheids auch dem Antragsteller bekannt gegeben wurde. Der Veräußerungsgewinn des Antragstellers wurde im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1994 vom vom Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) erfasst. Auch dieser Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 AO 1977.
Das Vermögen der KG ging mit Vertrag vom im Wege der Anwachsung auf die Komplementär-GmbH über. Das Erlöschen der KG wurde am in das Handelsregister eingetragen.
Eine zwischen 1997 und 2001 durchgeführte Außenprüfung bei der GmbH, bei der auch die steuerlichen Verhältnisse der KG überprüft wurden, führte zu dem Ergebnis, dass der Veräußerungsgewinn aus der Übertragung des Kommanditanteils auf die GmbH im Jahr 1993 und die Verzinsung des Kaufpreises als Einkünfte aus Kapitalvermögen im Jahr 1994 zu erfassen sind. Aufgrund dieser Feststellungen erging am ein Bescheid für die KG, mit dem der Bescheid über die gesonderte Feststellung der Einkünfte für das Jahr 1994 vom nach § 164 Abs. 2 AO 1977 aufgehoben wurde. Der Bescheid war an die GmbH als Rechtsnachfolgerin der KG mit Wirkung für und gegen alle Feststellungsbeteiligten gerichtet. Bereits am hatte das Feststellungs-FA dem FA mitgeteilt, dass der Feststellungsbescheid für 1994 vom nach § 164 Abs. 2 AO 1977 ersatzlos aufgehoben worden und dem Antragsteller im Jahr 1994 Einnahmen aus Kapitalvermögen aus der Verzinsung des Kaufpreises der Beteiligung in Höhe von 61 795 DM zugeflossen seien. Die anrechenbare Kapitalertragsteuer hierauf betrage 562,84 DM. Aufgrund dieser Mitteilung änderte das FA mit Bescheid vom die Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 1994 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977. Es ließ den bisher erfassten Veräußerungsgewinn aus der Beteiligung an der KG außer Ansatz und erhöhte die Einkünfte aus Kapitalvermögen um 61 795 DM. In den Erläuterungen legte es dar, dass die Änderungen auf der Mitteilung des Feststellungs-FA vom beruhen.
Ausweislich eines Aktenvermerks gelangte das Feststellungs-FA zu dem Ergebnis, dass der Gewinnfeststellungsbescheid für 1994 vom einen falschen Inhaltsadressaten ausweise und außerdem nicht korrekt bekannt gegeben worden sei. Mit Schreiben vom wandte sich das Feststellungs-FA an den Antragsteller betreffend gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für die KG mit dem Vermerk, dieser Bescheid ergehe an ihn als ehemaligen Kommanditisten der KG. Es stellte zur Beseitigung des durch den Bescheid hervorgerufenen Rechtsscheins die Nichtigkeit des Bescheids über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte 1994 vom fest. Das Schreiben vom enthielt den Hinweis, dass durch die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheids vom der dem Antragsteller bekannt gegebene Feststellungsbescheid vom wieder auflebt. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält das Schreiben vom nicht.
Mit Schreiben vom informierte das Feststellungs-FA das FA über die Aufhebung des Gewinnfeststellungsbescheids 1994 vom gegenüber dem Antragsteller. Das FA änderte daraufhin die Einkommensteuerfestsetzung 1994 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 und erfasste im Bescheid vom bei den Einkünften des Antragstellers aus Gewerbebetrieb einen Veräußerungsgewinn aus dem Verkauf der Beteiligung an der KG in Höhe von 3 028 488 DM. In den Erläuterungen führte das FA aus, dass der Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung 1994 bezüglich der durch den Verwaltungsakt vom für nichtig erklärt worden sei und deshalb der ursprüngliche Gewinnfeststellungsbescheid 1994 vom wieder auflebe. Nach der Abrechnung schulden die Antragsteller Einkommensteuer in Höhe von 403 235,45 €.
Über den Einspruch der Antragsteller ist noch nicht entschieden.
Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte das Finanzgericht (FG) ab. Dagegen richtet sich die vom FG zugelassene Beschwerde der Antragsteller.
Mit ihrer Beschwerde rügen die Antragsteller Verletzung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977. Ein Bescheid, mit dem die Nichtigkeit eines Grundlagenbescheids festgestellt werde, berechtige nicht zu einer Änderung des Folgebescheids nach dieser Vorschrift. Die Feststellung der Nichtigkeit eines Steuerverwaltungsakts enthalte nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung lediglich eine Auskunft darüber, ob die Behörde den Verwaltungsakt für wirksam halte oder nicht. Diese Feststellung habe nur deklaratorischen Charakter. Zudem könne die Nichtigkeit eines Steuerbescheids auch dann festgestellt werden, wenn keine Korrekturvorschrift der AO 1977 eingreife bzw. Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Würde man die Feststellung der Nichtigkeit eines Grundlagenbescheids als weiteren Grundlagenbescheid qualifizieren, könnte die Finanzverwaltung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geänderte Folgebescheide erlassen, ohne auf Korrekturvorschriften bzw. Festsetzungsverjährung achten zu müssen.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß, den FG-Beschluss aufzuheben und die AdV der sich aus dem geänderten Einkommensteuerbescheid für 1994 vom resultierenden Steuernachzahlung ab Fälligkeit und ohne Sicherheitsleistung anzuordnen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise —wegen des Wohnsitzes der Kläger in der Schweiz— AdV nur gegen Sicherheitsleistung zu gewähren.
II. Die Beschwerde ist begründet; zu Unrecht hat das FG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheids vom verneint.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines Verwaltungsakts ganz oder teilweise gemäß § 69 Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO aussetzen. Die Vollziehung soll ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (z.B. , BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622; seit , BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182 ständige Rechtsprechung).
2. Im Streitfall bestehen ernstliche Zweifel, ob das Schreiben des Feststellungs-FA vom , mit welchem dem FA die Nichtigkeit des Gewinnfeststellungsbescheids 1994 vom mitgeteilt wurde, als Grundlagenbescheid i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 gewertet werden kann.
Mit § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 will der Gesetzgeber die Festsetzung der zutreffenden Steuer im Folgebescheid sicherstellen, wobei der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids der Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits früher ergangenen Folgebescheids eingeräumt wird. Aus der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids für den Folgebescheid ergibt sich, dass jener die Aufgabe hat, dem Folgebescheid in verbindlicher Weise bestimmte Besteuerungsgrundlagen zuzuführen. Die Bindungswirkung beinhaltet deshalb auch, dass das für den Erlass eines Folgebescheids zuständige FA berechtigt und verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen (vgl. , BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711, 712, m.w.N.). Solange die im Grundlagenbescheid gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen im Folgebescheid nicht berücksichtigt worden sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt (vgl. , BFHE 145, 545, 547, BStBl II 1986, 245). Deshalb hat der BFH in zahlreichen Entscheidungen angenommen, dass die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheids nicht dadurch aufgehoben wird, dass das für den Erlass des Folgebescheids zuständige FA einen Grundlagenbescheid übersehen oder dessen Inhalt nicht oder nicht in der richtigen Weise in den Folgebescheid übernommen hat (vgl. , BFHE 165, 438, BStBl II 1992, 52, 53, m.w.N.; vom X R 23/97, BFH/NV 2002, 614; vom X R 37/99, BFHE 203, 14, BStBl II 2003, 867).
Die hierin zum Ausdruck kommende, gegenüber anderen Änderungsvorschriften (wie z.B. § 173 AO 1977) geringere Wertigkeit des Vertrauensschutzes in § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 folgert der BFH aus dem Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid. Eines Vertrauensschutzes bedarf es nicht, wenn ein Grundlagenbescheid ergangen ist und der Steuerpflichtige mit einer Auswertung dieses Grundlagenbescheids in einem Folgebescheid rechnen muss (vgl. BFH-Urteil in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711).
Dennoch erscheint fraglich, ob die Feststellung der Nichtigkeit eines Änderungsfeststellungsbescheids die Anpassung des Folgebescheids an den ursprünglich erlassenen Grundlagenbescheid ermöglicht, wenn nach den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO 1977) die Änderung des Folgebescheids grundsätzlich ausgeschlossen ist und auch die durch den ursprünglichen Feststellungsbescheid eingetretene Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO 1977 wegen Fristablauf beendet ist.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH hat die schriftliche Mitteilung des FA, ein Bescheid sei unwirksam, nur deklaratorischen Charakter und ist lediglich als Äußerung einer Rechtsansicht zu verstehen (BFH-Entscheidungen vom II R 64/95, BFH/NV 1998, 1455; vom VI R 81/89, BFHE 165, 566, BStBl II 1992, 224). Ein nichtiger Änderungsbescheid suspendiert folglich den ursprünglichen Bescheid nicht in seinen Wirkungen. Die Mitteilung kann —worauf die Antragsteller zu Recht verweisen— nach Eintritt der Festsetzung- bzw. Feststellungsverjährung ergehen.
b) Im Streitfall ist der Gewinnfeststellungsbescheid für 1994 vom nicht im nichtigen und damit unwirksamen Bescheid vom aufgegangen. Der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1994 hätte nicht an den Gewinnfeststellungsbescheid vom angepasst werden dürfen. Dennoch ist der Einkommensteuerbescheid 1994 vom , in dem der nichtige Grundlagenbescheid vom ausgewertet wurde, nicht nichtig, sondern nur —innerhalb der in der AO 1977 vorgegebenen zeitlichen Grenzen— anfechtbar. Die Änderung des Einkommensteuerbescheids 1994 vom nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 auf der Grundlage des Gewinnfeststellungsbescheids vom kam im Jahr 2004 infolge Ablaufs der Frist gemäß § 171 Abs. 10 AO 1977 nicht in Betracht. Der Einkommensteuerbescheid vom ist somit nur rechtmäßig, wenn das Schreiben des Feststellungs-FA vom über die Nichtigkeit des Gewinnfeststellungsbescheids 1994 vom —trotz seiner lediglich deklaratorischen Wirkung— das FA erneut zur Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid vom verpflichtet (vgl. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Rz. 9; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 175 AO 1977 Rz. 14; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, § 175 Rz. 36 a.E.; Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 175 Rz. 8). Diese Frage kann nicht im summarischen Verfahren geklärt werden. Ihre Beantwortung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
3. Im Hinblick auf die Tatsache, dass die Antragsteller im Ausland ihren Wohnsitz haben, der Steuerbescheid ggf. in der Schweiz vollstreckt werden müsste und mit dieser kein Vollstreckungsabkommen besteht, war die AdV nach § 69 Abs. 2 Satz 3 FGO von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Tatsache, dass dem Begehren der Antragsteller, die Vollziehung ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, nicht entsprochen worden ist, wirkt sich auf die Kostenentscheidung nicht zu ihren Lasten aus (vgl. , BFHE 179, 258, unter II. 8.; , BFH/NV 1989, 403, m.w.N.).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1490 Nr. 9
WAAAB-56916