BFH Beschluss v. - III B 177/04

Verletzung der Sachaufklärungspflicht

Gesetze: FGO § 76

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist alleinerziehende Mutter ihrer am geborenen Tochter H. Der leibliche Vater des Kindes lebt mit seiner Ehefrau und zwei gemeinsamen Kindern ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Klägerin wohnte vom bis Februar 2001 gemeinsam mit H bei der seinerzeit mit ihr befreundeten Familie A auf deren Gut in B. Während dieser Zeit überwies die Klägerin monatliche Beträge von durchschnittlich 680 DM an Familie A. Am zog sie gemeinsam mit ihrer Tochter aus. Ab Juli 2001 wohnte die Tochter wieder bei der Familie A.

Nach ihrem Eintritt in den öffentlichen Dienst erhielt die Klägerin entsprechend ihrem Antrag vom vom Beklagten und Beschwerdegegner (Familienkasse) Kindergeld für H.

Mit Schreiben vom beantragte Frau A beim Arbeitsamt C die Gewährung von Kindergeld für H mit der Begründung, diese sei seit dem in ihren Haushalt aufgenommen und damit „Pflegekind”. Dem Antrag war ein Beschluss des Amtsgerichts C vom beigefügt, mit dem das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind H vorläufig dem Jugendamt des Landkreises D übertragen worden war.

Das Arbeitsamt C teilte in seinem Schreiben vom der Familienkasse mit, dass die Tochter der Klägerin bei dem Pflegevater A lebe und somit ein vorrangiger Anspruch nach § 64 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehe. Es sei daher beabsichtigt, ab Juli 2001 das Kindergeld für H an Herrn A zu bezahlen.

In ihrem Bescheid vom hob die Familienkasse mit Wirkung vom gegenüber der Klägerin die Festsetzung des Kindergeldes für H nach § 70 Abs. 2 EStG auf. Die laufende Zahlung wurde ab dem eingestellt. Außerdem forderte die Familienkasse zu viel gezahltes Kindergeld in Höhe von insgesamt 985 € zurück. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

In seinem Urteil führt das Finanzgericht (FG) im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin seien ab Juli 2001 nicht mehr gegeben, da H ab diesem Zeitpunkt nach der in § 64 EStG enthaltenen Konkurrenzregelung vorrangig bei einem anderen Berechtigten hätte berücksichtigt werden müssen. Unterstellt, die Tochter der Klägerin sei i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG ein Pflegekind der Eheleute A, so wären im Verhältnis zur Klägerin als leiblicher Mutter nach § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG die Eheleute A kindergeldberechtigt. Gehe man jedoch davon aus, dass H kein Pflegekind der Eheleute A sei, weil es etwa an einem familienähnlichen auf längere Dauer berechneten Band fehle, wäre wegen der Konkurrenzregelung des § 64 Abs. 3 Satz 1 EStG auch in diesem Falle das Kindergeld nicht an die Klägerin auszuzahlen. Die vorrangig zu prüfende Regelung des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG käme nicht zum Zuge, da H, die sich seit Juli 2001 durchgängig im Haus der Familie A aufhalte, seitdem nicht im Haushalt „eines Berechtigten” aufgenommen gewesen sei.

Sei aber das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, sei nach § 64 Abs. 3 EStG in erster Linie ausschlaggebend, wer ihm eine Unterhaltsrente zahle, bzw. wer von mehreren Berechtigten die höchste Unterhaltsrente entrichte. Im vorliegenden Fall bezahle der Vater des Kindes jedenfalls in dem hier maßgeblichen Zeitraum ab die höchste Unterhaltsrente. Im Ergebnis sei der Klägerin daher auch dann kein Kindergeld zu gewähren, wenn man unterstelle, dass H kein Pflegekind der Familie A sei.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Sachaufklärungspflicht sowie grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

Das FG hat den Umfang und die Art der Unterhaltszahlungen des Vaters von H nicht in ausreichendem Umfang ermittelt. Insoweit liegt ein Verfahrensfehler vor, auf dem das Urteil beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 76 Abs. 1 und Abs. 2 FGO).

1. Im Klageverfahren hat das FG zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären (, BFH/NV 2000, 1097; BFH-Beschlüsse vom VII B 19/99, BFH/NV 1999, 1635, und vom II B 109/02, BFH/NV 2004, 156; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 76 FGO Tz. 20; von Wedel in Schwarz, Kommentar zur Finanzgerichtsordnung, § 76 Rz. 13).

Unabhängig von den Beweisanträgen der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO) muss das FG im Zweifel auch von sich aus Beweise erheben (, BFHE 174, 301, BStBl II 1994, 660, und vom III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt jedenfalls vor, wenn das FG Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt, deren Ermittlungen sich ihm hätten aufdrängen müssen (, BFH/NV 2004, 1498).

2. Im Streitfall hat das FG zwar ausgehend von dem ihm vorliegenden Schriftwechsel und dem bisherigen Vorbringen der Klägerin angenommen, der Vater von H habe für den streitbefangenen Zeitraum von Juli 2001 bis Juli 2002 monatlich 327 € bezahlt. Feststellungen dazu, dass diese Zahlungen während des gesamten Zeitraums als monatliche Unterhaltsrente jeweils im Voraus entrichtet worden sind, fehlen. Dies wäre ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG aber entscheidungserheblich gewesen.

So hat das FG in seinen Entscheidungsgründen zu etwaigen nachträglichen Unterhaltszahlungen der Klägerin —infolge des gegen sie angestrengten (noch nicht abgeschlossenen) zivilrechtlichen Klageverfahrens— maßgebend darauf abgestellt, dass derartige Zahlungen nicht den Charakter einer Unterhaltsrente erfüllen könnten, da diese ihrem Zweck entsprechend jeweils im Voraus zu entrichten sei. Nachträgliche Zahlungen seien im Rahmen von § 64 Abs. 3 EStG daher von vornherein nicht zu berücksichtigen. Mithin könne zugunsten der Klägerin jedenfalls nur der pauschal berechnete monatlich regelmäßig entrichtete Beitrag der Krankenversicherung für H in Höhe von 128,50 € als Unterhaltsrente anerkannt werden.

Entsprechende Feststellungen des FG zur Rechtzeitigkeit der Unterhaltszahlungen des Vaters von H fehlen. Indes ergeben sich aus den vom FG im Tatbestand seines Urteils in Bezug genommenen Unterlagen und Akten erhebliche Zweifel, ob der Kindesvater die Zahlungen seit Juli 2001 regelmäßig im Voraus geleistet hat. So heißt es in dem Kindergeldantrag der Frau A vom ausdrücklich, sie habe für das Kind seit dem „gar nichts” bekommen, mithin auch nicht von dem Kindesvater. Diese Darstellung steht im Einklang mit einem Schreiben des Landrats vom Landkreis E vom , wonach der Vater von H seit Juli 2001 die Unterhaltszahlungen zunächst einbehalten habe, um diese dann nach Klärung der Angelegenheit an die Pflegestelle auszuzahlen. Der entsprechende Beschluss des Familiengerichts zur Übertragung der Unterhaltsansprüche gegen den leiblichen Kindesvater auf das Kreisjugendamt D ist aber erst am gefasst worden.

Nach diesen Unterlagen scheint der Kindesvater zumindest den Unterhalt für die Monate Juli bis Dezember 2001 erst nachträglich in einer Summe beglichen zu haben, was nach Maßgabe der Rechtsauffassung des FG unter Berücksichtigung des im Kindergeldrecht geltenden Monatsprinzips (§ 71 EStG) teilweise zu einer abweichenden Beurteilung der Kindergeldberechtigung zugunsten der Klägerin führen könnte, falls auch ein Pflegekindschaftsverhältnis zu den Eheleuten A nicht bestanden hat, was das FG ebenfalls noch nicht festgestellt hat.

Auch angesichts der schriftsätzlich noch vor dem Verhandlungstermin vorgetragenen Zweifel der Klägerin an Höhe und Art der Unterhaltszahlungen des leiblichen Kindesvaters im streitbefangenen Zeitraum hätte sich dem FG aufdrängen müssen, die Zahlungen und auch deren Regelmäßigkeit durch Einholung einer schlichten —und damit zumutbaren— Auskunft bei dem Kreisjugendamt D zu ermitteln. Zu Unrecht hat das FG insoweit im Ergebnis die bisherigen allgemein gehaltenen schriftsätzlichen Äußerungen der Klägerin, die ihre Erkenntnisse zu Unterhaltszahlungen des Kindesvaters ab Juli 2001 naturgemäß nicht aus eigenem Wissen, sondern allenfalls über Dritte erlangt haben konnte, in diesem Zusammenhang für ausreichend gehalten. Der frühere Vortrag der Klägerin im Klage- und diesem vorgeschalteten Eilverfahren bezog sich nach Aktenlage lediglich auf die Unterhaltsleistungen des Vaters dem Grunde nach, nicht aber auf die Regelmäßigkeit und Höhe der Zahlungen im Einzelnen, was aus Sicht des FG aber entscheidungserheblich war. Dasselbe gilt für das vom FG für maßgeblich erachtete Schreiben von Frau A vom , in dem sie ihrer Rechtsanwältin mitteilt, sie habe für den Zeitraum von Juli 2001 bis Juli 2002 monatlich 327 € bekommen. Auch hieraus lässt sich der Zeitpunkt der Unterhaltszahlungen des Kindesvaters im streitbefangenen Zeitraum nicht entnehmen.

3. Liegt ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel vor, kann der BFH statt der Zulassung der Revision das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO). Die Zurückverweisung ist ermessensgerecht, wenn auch im Falle der Zulassung das Revisionsverfahren voraussichtlich zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt (, BFH/NV 2002, 671). Unter dieser Voraussetzung ist eine Zurückverweisung auch dann sachgerecht, wenn der Beschwerdeführer neben dem Verfahrensmangel noch andere Zulassungsgründe geltend macht (vgl. , BFH/NV 2002, 1321, m.w.N.).

Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des FG könnte der Senat im Revisionsverfahren nicht darüber entscheiden, ob das FG zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Kindergeld abgelehnt hat. Geht man davon aus, dass das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten gelebt hat, käme es darauf an, wer von den Eltern den höheren Unterhalt gezahlt hat. Ob die Zahlungen des Kindesvaters tatsächlich höher waren als die Unterhaltsbeiträge der Klägerin, ist —wie oben dargelegt— zweifelhaft.

Ebenso wenig könnte der Senat darüber befinden, ob der Klägerin das Kindergeld deshalb nicht zusteht, weil ihre Tochter als Pflegekind in den Haushalt der Familie A aufgenommen war. Ein Pflegekindschaftsverhältnis könnte nur angenommen werden, wenn die Tochter der Klägerin mit den Eheleuten A durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden gewesen wäre. Hieran bestehen Zweifel, weil die Tochter nach Aktenlage nur kurzzeitig für die Dauer ihrer Ausbildung bei Familie A gewohnt hatte. Auch insoweit fehlen ausreichende Feststellungen des FG.

Die Zurückverweisung der Sache ist im Streitfall daher ermessensgerecht.

Fundstelle(n):
CAAAB-55284