OFD Magdeburg - S 0223 - 2 - St 251

Tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zu Grunde liegenden Sachverhalt

1 Allgemeines

Gem. § 88 Abs. 1 Satz 1 AO ermittelt die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen, bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (Untersuchungsgrundsatz). Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (§ 88 Abs. 1 Satz 2 AO).

Vergleiche über Steueransprüche sind im Hinblick auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht möglich. Jedoch dient es in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung unter bestimmten Voraussetzungen der Förderung und Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens und auch dem Rechtsfrieden, den möglichst zutreffenden Besteuerungssachverhalt i. S. d. § 88 AO einvernehmlich festzulegen (vgl. auch AEAO zu § 88, Nr. 1).

Solche Vereinbarungen zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde über den der Besteuerung zu Grunde zu legenden Sachverhalt werden als „tatsächliche Verständigungen” bezeichnet. Sie können nach der Rechtsprechung des , BStBl 1985 II S. 354, vom , III R 19/88, BStBl 1991 II S. 45, und vom , I R 13/86, BStBl 1991 II S. 673) in jedem Verfahrensabschnitt, auch anlässlich einer Außenprüfung und während eines anhängigen – gerichtlichen oder außergerichtlichen – Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahrens, getroffen werden. Von einer solchen Vereinbarung kann auch bei Steuerfahndungsprüfungen bzw. nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens Gebrauch gemacht werden.

Beabsichtigen die Beteiligten, sich auf diese Weise über eine bestimmte Sachbehandlung zu verständigen, sind folgende Grundsätze zu beachten:

2 Zulässigkeit

2.1 Die tatsächliche Verständigung ist ausschließlich im Bereich der Sachverhaltsermittlung zulässig. In Schätzungsfällen kann eine tatsächliche Verständigung über die Besteuerungsgrundlage selbst oder das einzuschlagende Schätzungsverfahren getroffen werden (, BStBl 1985 II S. 354, 358).

2.2 Die tatsächliche Verständigung ist nicht zulässig

  • zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen,

  • über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen,

  • über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften und

  • wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt.

3 Voraussetzungen

Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist das Vorliegen eines Sachverhalts, der nur unter erschwerten Umständen ermittelt werden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn sich einzelne Sachverhalte nur

  • mit überdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitaufwand und/oder

  • mit überdurchschnittlicher Zeitdauer

ermitteln lassen.

Bei der Frage, ob eine erschwerte Sachverhaltsermittlung vorliegt, kann auch auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt und ferner berücksichtigt werden, in welchem Maß das Finanzamt durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet wird, sofern es bei vorhandenen tatsächlichen Zweifeln dem Begehren des Steuerpflichtigen nicht entspricht und zu seinem Nachteil entscheidet.

4 Anwendungsbereich

4.1 Die tatsächliche Verständigung kommt insbesondere in Fällen in Betracht, in denen ein

  • Schätzungsspielraum,

  • Bewertungsspielraum,

  • Beurteilungsspielraum oder

  • Beweiswürdigungsspielraum

besteht.

4.2 Die tatsächliche Verständigung unterscheidet sich von der verbindlichen Auskunft dadurch, dass sie sich ausschließlich auf abgeschlossene Sachverhalte bezieht (, BFH/NV 1997 S. 762). Wirkt sich der in der tatsächlichen Verständigung festgelegte Sachverhalt auch in der Zukunft aus, tritt, sofern die tatsächlichen Verhältnisse gleich bleiben, insoweit ebenfalls eine Bindung ein (, BFH/NV 1998 S. 498).

4.3 Hinsichtlich der Besteuerungsgrundlagen, die von der tatsächlichen Verständigung nicht umfasst sind, bestehen die gesetzlich festgelegten Pflichten des Finanzamts zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§§ 85, 88 AO), des Steuerpflichtigen zur Mitwirkung (§ 90 AO) sowie des Finanzamts und des Finanzgerichts zur Schätzung nicht ermittelbarer Besteuerungsgrundlagen (§ 162 AO, § 96 Abs. 1 FGO) fort.

5 Verfahren

5.1 Die Beteiligten müssen zu einer abschließenden Regelung befugt sein.

5.1.1 Wird der Steuerpflichtige vertreten, muss eine entsprechende Vollmacht vorliegen. Eine uneingeschränkte Vollmacht gem. § 80 Abs. 1 Satz 2 AO umfasst auch die Befugnis zu einer tatsächlichen Verständigung.

5.1.2 Auf Seiten des Finanzamts muss der für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständige Amtsträger beteiligt sein (vgl. , BStBl 1991 II S. 45. vom , V R 1/88, BFH/NV 1991 S. 846, und vom , XI R 68/92, BFH/NV 1994 S. 290). Das ist regelmäßig der Vorsteher, daneben der zuständige Sachgebietsleiter des Veranlagungsbereichs oder der für die Außenprüfung zuständige Sachgebietsleiter, wenn diese Stelle die Prüfungsfeststellungen selbst auswertet (veranlagende Außenprüfung). Soweit die Rechtsbehelfsstelle für das Einspruchsverfahren zuständig ist, ist der Sachgebietsleiter der Rechtsbehelfsstelle für die Verständigung zuständig; in diesem Fall soll der für die Veranlagung bzw. der für die Außenprüfung zuständige Sachgebietsleiter beteiligt werden.

War an der tatsächlichen Verständigung ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger nicht beteiligt, kann dieser Mangel nicht durch nachträgliche Zustimmung geheilt werden (vgl. , BFH/NV 1994 S. 290).

5.2 Eine tatsächliche Verständigung soll sich nach Möglichkeit nur auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen. Sollen tatsächliche Verständigungen über mehrere Sachverhalte herbeigeführt werden, sind in der Regel auch mehrere, voneinander unabhängige tatsächliche Verständigungen anzustreben. Im Hinblick auf den denkbaren Einwand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sollten „Paketlösungen” (Einzelregelungen, die in ihrem Bestand voneinander abhängig gemacht werden) nur dann erwogen werden, wenn eine Klärung der offenen Sachverhaltsfragen nur auf diesem Wege erreicht werden kann.

5.3 Tatsächliche Verständigungen sind schriftlich abzufassen.

Hinweis:

Zwar kann der Nachweis des Abschlusses einer tatsächlichen Verständigung auch durch andere Beweismittel als durch Urkunden geführt werden (, BStBl 1996 II S. 625). Die Nichteinhaltung der Schriftform, die fehlende Protokollierung und der Vorbehalt der Nachprüfung sind jedoch Indiz dafür, dass die Beteiligten sich nicht haben binden wollen (, BFH/NV 2001 S. 2).

Wenn eine tatsächliche Verständigung getroffen werden soll, ist ihr Inhalt in einfacher, aber beweissicherer Form unter Darstellung der Sachlage schriftlich festzuhalten und von den Beteiligten zu unterschreiben. In dieser Niederschrift sind die Beteiligten auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung hinzuweisen. Dabei ist das als Anlage beigefügte Muster zu verwenden, das zur Hilfestellung und Vereinfachung dienen soll. Das Muster wird als Vorlage in die UNIFA-TV aufgenommen.

6 Rechtsfolgen

6.1 Mit dem Abschluss der tatsächlichen Verständigung sind die Beteiligten an die vereinbarte Tatsachenbehandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, wenn sie wirksam und unanfechtbar zustande gekommen ist (, BStBl 1991 II S. 673, und vom , XI R 27/98, BFH/NV 2000 S. 573). Eines Rechtsbehelfsverzichts (§ 354 AO) bedarf es für den Eintritt der Bindungswirkung nicht.

Soweit die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung reicht, fehlt für den Steuerpflichtigen das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf gegen die entsprechende Steuerfestsetzung. Ein dennoch eingelegter Rechtsbehelf ist insoweit mangels Beschwer unzulässig (§ 350 AO).

Nach der Rechtsprechung des , BStBl 1996 II S. 625) bindet eine zulässige und wirksame tatsächliche Verständigung über eine bestimmte Behandlung von Sachfragen die Finanzbehörde bereits vor Erlass der darauf beruhenden Bescheide.

An Schlussbesprechungen im Rahmen von Außenprüfungen, in denen eine tatsächliche Verständigung vorgesehen ist, muss ein für die Steuerfestsetzung entscheidungsbefugter Amtsträger teilnehmen. Dadurch wird gewährleistet, dass die rechtlich bindende Wirkung der Vereinbarung eintritt.

6.2 Die Vereinbarung ist dem Verwaltungsakt zugrunde zu legen, für den die tatsächliche Verständigung bestimmt ist. Ihre Bindungswirkung bleibt auch dann bestehen, wenn dieser Verwaltungsakt nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder nach § 165 AO vorläufig ergangen ist.

6.3 Eine Änderung des die tatsächliche Verständigung enthaltenden Verwaltungsakts lässt die Bindungswirkung der Vereinbarung grundsätzlich unberührt. Der geänderte Verwaltungsakt muss daher insoweit regelmäßig von denselben Tatumständen ausgehen.

6.4 Eine tatsächliche Verständigung zwischen einem Steuerpflichtigen und der für seine Besteuerung zuständigen Finanzbehörde, deren Gegenstand die Übernahme von Steuerschulden Dritter ist, bindet die für die Besteuerung der Begünstigten zuständigen Finanzbehörden nicht, wenn diese am Zustandekommen der tatsächlichen Verständigung nicht beteiligt waren (, BStBl 2004 II S. 975).

7 Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung

7.1 Die tatsächliche Verständigung ist unwirksam, wenn sie unter dem Druck eines anhängigen Steuerstrafverfahrens getroffen worden ist; schon die Möglichkeit einer unstatthaften Beeinflussung reicht aus, um eine Vereinbarung als nicht frei von Bedenken erscheinen zu lassen. Eine unzulässige Beeinflussung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn für den Fall des Nichtabschlusses einer Vereinbarung mit Konsequenzen für ein anhängiges Steuerstrafverfahren gedroht wird. Sofern möglich, ist deshalb zunächst das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren abzuschließen und erst danach die tatsächliche Verständigung für das Besteuerungsverfahren herbeizuführen.

7.2 Wird von den Steuerpflichtigen und/oder ihren Vertretern bei den zu Grunde liegenden Erörterungen bewusst der Sachverhalt verfälscht oder verschleiert und werden für die Besteuerung wesentliche Tatsachen gegenüber der Finanzverwaltung verschwiegen, so kann die tatsächliche Verständigung keine Bindungswirkung entfalten.

7.3 Als weitere Gründe für die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung kommen in Betracht:

7.4 Macht einer der Beteiligten geltend, die tatsächliche Verständigung sei unwirksam, so ist für ihre weitere Behandlung von Bedeutung, ob diese bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht worden ist oder nicht.

7.4.1 Die tatsächliche Verständigung ist noch nicht in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Macht der Steuerpflichtige die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung mit zutreffenden Gründen geltend und folgt ihm das Finanzamt, so teilt es ihm mit, dass sie einvernehmlich als aufgehoben anzusehen ist; sie bleibt dann bei der Veranlagung unberücksichtigt. Hält das Finanzamt die Sachverhaltsvereinbarung hingegen für wirksam, so teilt es dies dem Steuerpflichtigen mit und berücksichtigt die Vereinbarung bei der entsprechenden Steuerfestsetzung.

Hält das Finanzamt die tatsächliche Verständigung für unwirksam, so teilt es dem Steuerpflichtigen die hierfür maßgeblichen Gründe mit und gibt ihm Gelegenheit zur Stellungnahme (Gewährung rechtlichen Gehörs, § 91 AO). Kann der Steuerpflichtige das Finanzamt von der Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung überzeugen, findet sie Eingang in die nachfolgende Steuerfestsetzung; ansonsten bleibt sie unberücksichtigt.

Der Steuerpflichtige kann in einem anschließenden Rechtsbehelfsverfahren seine Rechtsauffassung weiterverfolgen.

7.4.2 Die tatsächliche Verständigung ist bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung kann sich nur dann steuerlich auswirken, wenn die betreffende Steuerfestsetzung verfahrensrechtlich noch geändert werden kann.

Die nach Ergehen eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes festgestellte Unwirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung ist – für sich betrachtet – weder eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache im Sinne des § 173 AO noch ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Sie wirkt sich deshalb nicht unmittelbar auf die Steuerfestsetzung aus.

Nach Wegfall der tatsächlichen Verständigung sind jedoch regelmäßig weitere Ermittlungen zur Feststellung der Besteuerungsgrundlagen erforderlich. Die hierbei erstmalig bekannt gewordenen Tatsachen und Beweismittel können z. B. eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 AO zur Folge haben.

8 Kontaktaufnahme zur BuStra-Stelle

Wegen der besonderen Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung und den eingeschränkten Änderungsmöglichkeiten der Verwaltungsakte, denen eine getroffene tatsächliche Verständigung zugrunde liegt, ist zumindest bei Sachverhalten mit nicht unwesentlichen steuerlichen Auswirkungen eine vorherige formlose Kontaktaufnahme mit der zuständigen Bußgeld- und Strafsachenstelle angezeigt (vgl. Nummern 113, 114 AStBV [St]).

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Fundstelle(n):
JAAAB-53358