Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 AO für den Zugang eines Verwaltungsakts
Gesetze: AO § 122
Instanzenzug:
Gründe
I. Streitig ist, ob dem Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) der Einkommensteuerbescheid 1991 vom , zuletzt geändert am , der Einkommensteuerbescheid 1992 vom und die Umsatzsteuerbescheide 1991 vom und 1992 vom zugegangen sind. Die Steuerbescheide gingen an den Kläger unter der Adresse des von ihm in den Jahren 1993 und 1994 mit seiner Ehefrau bewohnten Übergangsheims, in dem er über keinen eigenen Briefkasten verfügte.
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben und festgestellt, die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 1991 und 1992 seien mangels wirksamer Bekanntgabe unwirksam. Grundsätzlich habe die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes nachzuweisen. Erbringe die Behörde allerdings den Nachweis der ordnungsgemäßen Absendung des Bescheides, so könnten bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach der Absendung des Steuerbescheids dahin gehend gewürdigt werden, dass von einem Zugang auszugehen sei. Als ein solches Indiz könne es angesehen werden, wenn ein Steuerpflichtiger über mehrere Jahre Vollstreckungsmaßnahmen hingenommen habe.
Für den Zugang spreche im Streitfall, dass die vier Bescheide an auseinander liegenden Tagen und mit großem zeitlichen Abstand abgeschickt worden seien sowie das vom Klägervertreter in 1995 unterbreitete Angebot zur teilweisen Schuldenregulierung. Das genüge aber nicht, um den Zugang der Bescheide mit hinreichender Sicherheit annehmen zu können. Denn der Kläger habe in den Streitjahren in einem Übergangsheim und nach der vorgelegten Schuldenliste in wirtschaftlich kritischen Verhältnissen gelebt. Das Fehlen eines eigenen Briefkastens in dem Heim relativiere das Indiz der unterschiedlichen Absendetage der Bescheide. Die Bitten um Aufstellung der Schulden und weitere Nachfragen des Klägers zeigten, dass dieser keinen abschließenden Überblick über die Forderungen des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt —FA—) gehabt habe, weshalb auch die Hinnahme der Vollstreckungsbemühungen im Streitfall kein hinreichendes Indiz für den Zugang der Bescheide sei. Entscheidend sei immer die Gesamtsituation des Einzelfalles.
Das FA beantragt, die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und wegen Verfahrensfehlern zuzulassen.
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 116 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde angefochten werden. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision müssen innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des Urteils dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 FGO). Gemäß § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
a) Das FA bezeichnet als zu klärende Frage grundsätzlicher Bedeutung, ob das Leben in wirtschaftlich desolaten Verhältnissen zum Zeitpunkt der Übersendung eines Steuerbescheids und anschließender Vollstreckungsmaßnahmen dazu führe, dass der Zugang nach § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht mehr bewiesen werden könne. Wäre diese Frage zu bejahen, dann müsse das FA vor der Versendung eines Steuerbescheids durch einfachen Brief stets erst prüfen, ob der Adressat in geordneten Verhältnissen lebe.
Diese Frage ist im Streitfall nicht klärungsfähig. Zum einen enthält § 122 Abs. 2 AO 1977 keine Beweisregelung über den Zugang von Steuerbescheiden, sondern nur eine gesetzliche Vermutung (Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 122 Rz. 53). Zum anderen hat das FG auch nicht entschieden, dass im Falle wirtschaftlich desolater Verhältnisse zum Zeitpunkt der Übersendung eines Steuerbescheids und anschließender Vollstreckungsmaßnahmen die gesetzliche Vermutung des § 122 Abs. 2 AO 1977 nicht mehr gelte, wonach ein mit der Post versandter Steuerbescheid als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post bekannt gegeben gilt. Das FG hat vielmehr den im Zweifel nach § 122 Abs. 2 2. Halbsatz AO 1977 vom FA anzutretenden Beweis des Zugangs (, BFH/NV 2003, 1031, m.w.N.) trotz gewisser, für den Zugang sprechender Indizien als nicht erbracht angesehen. Nach der tatrichterlichen Würdigung des FG ist es dem FA nicht gelungen nachzuweisen, dass der Steuerbescheid dem Kläger zugegangen ist, weil bestimmte Umstände Zweifel am Zugang begründeten und die für den Zugang sprechenden Indizien entkräfteten. Hierzu hat es insbesondere die Wohnung in einem Übergangsheim ohne eigenen Briefkasten gezählt. In der Hinnahme der Vollstreckungsbemühungen hat es deshalb kein überzeugendes Indiz gesehen, weil der Kläger nach der Überzeugung des FG den Überblick über die Forderungen des FA verloren hatte.
b) Die Beschwerde ist auch nicht zuzulassen, soweit das FA geltend macht, es gehe auch um die Rechtsklarheit, weil das Thüringer FG und das FG Köln die Streitfrage unterschiedlich entschieden hätten. Das , auf das sich insbesondere auch das im Streitfall angefochtene FG-Urteil mehrfach berufen hat, ist zwischenzeitlich vom BFH bestätigt worden (BFH in BFH/NV 2003, 1031, m.w.N.).
c) Keinen Erfolg haben schließlich die Rügen von Verfahrensfehlern.
Verstöße gegen Denkgesetze stehen grundsätzlich materiell-rechtlichen Fehlern gleich (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 83; § 118 Rz. 54 f., jeweils m.w.N.) und begründen keine Verfahrensfehler. Es wurde nicht dargelegt, dass hier etwas anderes gelten könnte. Die Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung vermag die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO nicht zu begründen (BFH-Beschlüsse vom X S 5/03 (PKH), BFH/NV 2004, 66; vom V B 88/01, BFH/NV 2002, 748, und vom XI B 73/99, BFH/NV 2002, 17).
Nicht als Verfahrensrüge geeignet ist ferner der Vortrag des FA, soweit es als sachfremde Erwägung des FG rügt, das FA habe es in der Hand gehabt, beispielsweise durch Versenden der Bescheide per Einschreiben mit Rückschein für den Beweis des Zugangs vorzusorgen. Ebenso wenig kann es einen Verfahrensfehler des FG begründen, wenn ein Hinweis in dem Urteil auf ein seitens des FG mit der Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle des FA geführtes Telefongespräch nach Auffassung des FA keinen Sinn macht. Dies besagt nichts darüber, ob das Urteil auf einem Verfahrensfehler beruhen könnte (vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1473 Nr. 9
MAAAB-43488