Voraussetzungen der Abzweigung des Kindergelds nach § 74 Abs. 1 EStG; Ermessensreduzierung auf Null
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) trägt seit Mai 2002 die Kosten von monatlich rd. 3 900 € für die Unterbringung des im Jahre 1989 geborenen Sohnes des Beigeladenen in einem Jugendheim. Der Beigeladene wird mangels Leistungsfähigkeit nicht zur Kostentragung herangezogen.
Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Beklagter), das Kindergeld an sie auszuzahlen. Der Beklagte wertete das Schreiben als Antrag auf Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und lehnte diese mit Bescheid vom ab. Er wies den dagegen eingelegten Einspruch mit der Begründung zurück, dass die Abzweigung eine Unterhaltspflichtverletzung durch den Kindergeldberechtigten voraussetze und im Streitfall der Beigeladene durch die Betreuung seines Kindes und durch Gewährung von Naturalunterhalt seiner Unterhaltspflicht nachkomme.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es entschied, dass die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG nur vorlägen, wenn die Eltern tatsächlich nichts zum Unterhalt des Kindes beitrügen oder ihre Unterhaltsleistungen geringer seien als das Kindergeld. Sach- und Betreuungsleistungen des Kindergeldberechtigten seien dabei Geldleistungen gleichzustellen. Da der Beigeladene seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinem Sohn nachgekommen sei, sei es nicht ermessensfehlerhaft gewesen, ihm das Kindergeld auszuzahlen und es nicht an die Klägerin abzuzweigen, auch wenn die Kosten der Klägerin bedeutend höher seien. Die Abzweigung und der damit verbundene Eingriff in die Rechte des Kindergeldberechtigten erforderten eine erhebliche Pflichtverletzung; eine solche liege im Streitfall nicht vor.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG durch das FG.
Sie beantragt,
die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung des Beklagten aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ab dem das Kindergeld für das Kind des Beigeladenen in voller Höhe abzuzweigen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält an seiner Auffassung fest, dass eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG eine Unterhaltspflichtverletzung durch den Kindergeldberechtigten i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG voraussetze. Soweit der Bundesfinanzhof (BFH) in einem Urteil vom VIII R 21/03 (juris) entschieden habe, dass eine Abzweigung an die den Unterhalt gewährende Stelle gemäß § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG auch möglich sei, wenn die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt seien, hätten die Familienkassen sich diese Auffassung bisher nicht zu Eigen gemacht, weil zu der Frage, ob die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG eine Verletzung der Unterhaltspflicht der Eltern voraussetze, noch weitere Revisionen anhängig seien.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
II. Die Revision der Klägerin ist teilweise begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und des ablehnenden Bescheids des Beklagten vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom sowie zu der Verpflichtung des Beklagten, über den Auszahlungsantrag der Klägerin nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (§ 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das weiter gehende Revisionsbegehren der Klägerin, den Beklagten zur Auszahlung des gesamten Kindergeldes an sie zu verpflichten, ist unbegründet.
1. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des Beklagten sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG mit der Folge erfüllt, dass der Beklagte das ihm in dieser Vorschrift eingeräumte Rechtsfolgeermessen, ob und ggf. in welcher Höhe das Kindergeld an den Kläger auszuzahlen ist, auszuüben hat.
a) Wie der Senat durch Urteil vom VIII R 21/03, juris, sowie durch Urteil vom VIII R 58/03 (BFH/NV 2004, 1447) entschieden hat, kann eine Abzweigung des Kindergeldes an die in § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG genannte Stelle auch dann erfolgen, wenn der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den Inhalt dieser Urteile Bezug genommen. Der Beklagte hat im vorliegenden Revisionsverfahren keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die den Senat zu einer Änderung seiner Rechtsprechung und damit zu einer den Wortlaut des § 74 Abs. 1 EStG einschränkenden Auslegung veranlassen könnten. Die wortlautgemäße Auslegung des Gesetzes führt insbesondere nicht zu sinnwidrigen Ergebnissen. Denn es ist der Zweck des Kindergeldes, Eltern wegen ihrer Unterhaltsaufwendungen für ihre Kinder zu entlasten. Tragen Eltern mangels Leistungsfähigkeit aber keine oder nur sehr geringe Kosten, ist eine derartige Entlastung gar nicht oder nur in entsprechend niedrigem Umfang erforderlich.
b) Im Streitfall ist unstreitig, dass der Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit nicht zur Zahlung von Unterhalt für seinen Sohn verpflichtet ist und die Klägerin durch die Übernahme der Kosten, die durch die Unterbringung des Sohnes in dem Jugendheim entstehen, Unterhalt gewährt. Somit ist der Beklagte gemäß § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3, 1. Alternative und Satz 4 EStG verpflichtet, über den Auszahlungsantrag der Klägerin nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 der Abgabenordnung —AO 1977—) zu entscheiden.
2. Der Beklagte ist nach zutreffender Auffassung der Klägerin dieser Pflicht zur Ermessensausübung nicht nachgekommen. Er hat sich in der Einspruchsentscheidung auf die Feststellung beschränkt, für die Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG sei erforderlich, dass der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachkomme, und diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt. Danach war er der —rechtsfehlerhaften— Meinung, die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Ausübung des in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Rechtsfolgeermessens seien im Streitfall nicht gegeben (sog. Ermessensunterschreitung).
3. Dem Revisionsantrag der Klägerin, den Beklagten zu verpflichten, das Kindergeld in voller Höhe an sie auszuzahlen, vermochte der Senat nicht zu entsprechen. Dies hätte nur geschehen können, wenn die Voraussetzungen für eine sog. Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen hätten. Bereits im Hinblick auf die in § 76 Abs. 2 Nr. 5 des Bundessozialhilfegesetzes in der ab Mai 2002 gültigen Fassung getroffene Regelung kann davon jedoch nicht ausgegangen werden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 538
BFH/NV 2005 S. 538 Nr. 4
BAAAB-42206