OFD Hannover - S 0338 - 43 - StH 464 S 0338 - 24 - StO 321

Drittwirkung der Steuerfestsetzung

1. Allgemeines

Grundsätzlich kann der Haftungsschuldner seiner Inanspruchnahme nach § 191 AO aus Gründen eines wirkungsvollen Rechtsschutzes uneingeschränkt Einwendungen entgegensetzen, die nicht nur die Haftungsschuld, sondern die davon zu unterscheidende sog. Primärschuld, für die er als Haftender in Anspruch genommen wird, betreffen ( –, BStBl 1997 II S. 415).

Eine gegen den Haftungsschuldner gerichtete Drittwirkung des gegen den Steuerschuldner erlassenen Bescheides ist aber ausnahmsweise unter den Voraussetzungen des § 166 AO gegeben, sodass Personen i. S. des § 166 AO im Haftungsverfahren keine Einwendungen gegen den zu Grunde liegenden Steuerbescheid erheben können.

2. Sachlicher Geltungsbereich

2.1 Haftungsbescheide

§ 166 AO gilt aufgrund der systematischen Stellung im Gesetz nicht für Haftungsbescheide ( –, BFH/NV 1996 S. 285), wenn die Haftung einer weiteren Person für die Haftungsschuld in Betracht kommt. Eine Anwendung der Vorschrift ist insoweit weder in § 191 AO noch an anderer Stelle angeordnet worden. Wird also ein GmbH-Geschäftsführer seinerseits als Haftender für gegenüber der Gesellschaft festgesetzte Haftungsbeträge (z. B. Lohnsteuerhaftungsbescheid nach § 42d Abs. 1 EStG) in Anspruch genommen, bleiben ihm sämtliche Einwendungen gegen Grund und Höhe des Primäranspruchs erhalten, auch wenn der gegen die Gesellschaft gerichtete Haftungsbescheid bestandskräftig ist.

2.2 Duldungsbescheide

Der Anfechtungsgegner ist von Einwendungen gegen den seiner Inanspruchnahme zugrunde liegenden bestandskräftigen Steuer- oder Haftungsbescheid ausgeschlossen ( –, BStBl 1988 II S. 408).

3. Persönlicher Geltungsbereich

Die Aufzählung der in § 166 AO genannten Personenkreise ist abschließend. Es sind dies:

3.1 Gesamtrechtsnachfolger

Gesamtrechtsnachfolge i. S. des § 45 AO, liegt vor bei Erbfall, Verschmelzung und Umwandlung von Gesellschaften, Nachfolge des Fiskus in das Vermögen eines erloschenen Vereins, Eintritt in die Gütergemeinschaft, Anwachsung, Verstaatlichung und Zusammenschluss öffentl.-rechtl. Körperschaften.

Kein Gesamtrechtsnachfolger ist der Betriebsübernehmer i. S. des § 75 AO. Er braucht die unanfechtbare Festsetzung der Primärschuld nicht gegen sich gelten zu lassen; das gilt auch, wenn der Haftungsfall (z. B. die Veräußerung des Gewerbebetriebes) erst während eines Rechtsbehelfsverfahrens (also vor der Unanfechtbarkeit) eintritt (Tipke/Kruse, AO-Kommentar, § 166 Tz. 9).

3.2 Vertreter und Bevollmächtigte

Vertreter sind die gesetzlichen Vertreter i. S. des § 34 Abs. 1 AO. Bevollmächtigte erlangen ihre Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft (Vollmacht) und sind gewillkürte Vertreter. Bevollmächtigter kann auch der Steuerberater, Rechtsanwalt oder Notar sein.

3.3 Personen mit einer Anfechtungsbefugnis kraft eigenen Rechts

Eine eigene Rechtsbehelfsbefugnis haben diejenigen, die gem. § 350 AO durch die Steuerfestsetzung beschwert sind, bei Feststellungsbescheiden die in § 352 AO genannten Personen sowie die Vermögensverwalter gem. § 34 Abs. 3 AO.

Der Haftungsschuldner ist nur durch den Haftungsbescheid beschwert, nicht durch die Festsetzung der Primärschuld; er hat daher keine eigene Rechtsbehelfsbefugnis i. S. des § 166 AO ( a. a. O.)

Eine nur gemeinschaftliche Anfechtungsbefugnis der Gesellschafter einer GbR hinsichtlich eines gegenüber der GbR erlassenen Steuerbescheides bleibt auch bestehen, wenn die Gesellschaft nicht mehr bestehen sollte und sogar wenn einer der Gesellschafter für eine im Namen der Gesellschaft erhobene Klage die Erteilung einer Vollmacht schikanös verweigert ( –, BFH/NV 1996 S. 155).

Ein Gesellschafter einer GbR ist zwar, soweit ihm nach den Gesellschaftsvertrag die Befugnis zur Geschäftsführung zusteht, im Zweifel gem. § 714 BGB auch ermächtigt, die anderen Gesellschafter Dritten gegenüber zu vertreten. Nach dem gesetzlichen Regelfall steht die Geschäftsführung der GbR aber gem. §§ 709 – 712 BGB allen Gesellschaftern gemeinschaftlich zu. Abweichendes bedarf vertraglicher Regelung durch die Gesellschafter ( –, BStBl 1998 II S. 319).

4. Voraussetzungen

4.1 Unanfechtbarkeit

Unter Unanfechtbarkeit wird grundsätzlich die formelle Bestandskraft eines Bescheides verstanden, wenn der Bescheid nicht mehr mit einem förmlichen Rechtsbehelf angegriffen werden kann. Der BFH sieht aber Bescheide auch dann als nicht unanfechtbar an, wenn sie noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen und damit bis zur Aufhebung des Vorbehalts bzw. bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist noch geändert werden können (vgl. z.B.  –, BFH/NV 2001 S. 1217).

Die in § 166 AO genannten Personen sind somit nicht von Einwendungen ausgeschlossen, die dem Primärschuldner noch zustehen würden.

4.2 Rechtliche Anfechtungsbefugnis

§ 166 AO stellt allein auf die rechtliche und nicht auf die tatsächliche Befugnis zur Anfechtung eines Steuerbescheides ab ( a. a. O.). Ebenso unbeachtlich ist das tatsächliche Verhalten des Haftungsschuldners oder die faktische Geschäftsführung in der Gesellschaft ( –, BFH/NV 1986, S. 512, mit Hinweis auf  –, BStBl 1966 III S. 610).

Der Ausschluss von Einwendungen reicht aber nicht weiter als die Vertretungsmacht ( –, BFH/NV 1995 S. 86).

Ein nicht alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter einer GbR, der für Steuerschulden der GbR in Haftung genommen wird, kann daher alle Einwendungen gegen den primären bestandskräftig gewordenen Steueranspruch erheben. Etwas anderes gilt auch nicht im Hinblick auf ein etwaiges Notgeschäftsführungsrecht nach § 744 Abs. 2 BGB oder wenn sich der als Haftungsschuldner in Anspruch genommene Gesellschafter nicht um eine gemeinschaftliche Anfechtung des gegenüber der GbR erlassenen Steuerbescheides bemüht hat ( a. a. O.).

Die Bindungswirkung des § 166 AO tritt ebenfalls nicht ein, wenn die Vertretungsmacht im Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheides bereits erloschen war, weil der Vertreter rechtlich nicht mehr in der Lage war, den gegen den Steuerschuldner ergangenen Bescheid anzufechten ( –, BFH/NV 1996 S. 915).

Auch wenn der Vertreter wegen Verlusts der Vertretungsmacht nicht während des gesamten dem Steuerschuldner für einen Rechtsbehelf oder einem Antrag auf Änderung nach den Korrekturvorschriften der AO (z. B. nach § 164 Abs. 2 Satz 2 AO) zur Verfügung stehenden Zeitraums zur Stellung dieser Anträge berechtigt ist, kann er noch Einwendungen gegen die gegenüber dem Steuerschuldner festgesetzte Steuer erheben ( a. a. O.).

5. Rechtsfolgen

Der Haftungsschuldner muss den gegen den Steuerschuldner ergangenen Steuerbescheid gegen sich gelten lassen, wenn er ihn hätte anfechten können. Dies gilt auch für Steueranmeldungen, da diese gem. § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen ( –, BFH/NV 2003 S. 798).

Von einem im Haftungsverfahren in Bezug auf das Bestehen der Primärschuld bestehenden Einwendungsausschluss nach § 166 AO bleiben Einwendungen, die den Haftungstatbestand betreffen, aber von vornherein unberührt.

Für die Anwendbarkeit des § 166 AO ist es ausreichend, wenn jemand gesetzlicher Vertreter einer GmbH ist; es ist nicht erforderlich, dass er in dieser Eigenschaft gem. § 69 AO als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wurde ( –, BFH/NV 1998 S. 48, im Falle der Haftungsinanspruchnahme des Geschäftsführers und Liquidators einer GmbH nach § 71 AO).

OFD Hannover v. - S 0338 - 43 - StH 464S 0338 - 24 - StO 321

Fundstelle(n):
OAAAB-36193