BFH Beschluss v. - IV B 143-144/02

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist eine in Liquidation befindliche OHG, die die Gesellschafter B und F 1989 zum Betrieb des italienischen Restaurants AP gegründet hatten. Im Folgejahr eröffnete die Klägerin eine weitere Gaststätte DC. Das Restaurant AP, ein Speiserestaurant der gehobenen Klasse, wurde von B geführt, während die Leitung der Pizzeria DC von F übernommen wurde. Im Jahr 1996 verlegte die Klägerin den Betrieb AP innerhalb des Ortes in das Haus X. In den bisherigen Räumen wurde ein neues Restaurant P/DF eröffnet, das aber nach zwei Jahren wieder eingestellt wurde. Mit Wirkung vom wurde die Klägerin aufgelöst. Die Gesellschafter setzten sich in der Weise auseinander, dass jeder das von ihm betriebene Restaurant übernahm.

Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt —FA—) führte für den Prüfungszeitraum 1995 bis 1997 eine Betriebsprüfung durch, in deren Verlauf Unregelmäßigkeiten bei der Kassenführung entdeckt wurden. Nach Einleitung eines Strafverfahrens, in dessen Rahmen es zu Durchsuchungen und der Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen kam, wurde der Prüfungszeitraum auf die Veranlagungszeiträume 1989 bis 1994 erweitert. Die Prüfung wurde für die Veranlagungszeiträume 1989 bis 1992 und 1995 bis 1997 durch Betriebsprüfungsbericht vom und für die Veranlagungszeiträume 1993 und 1994 durch Steuerfahndungsbericht vom abgeschlossen. In der Strafsache wurde ein Strafbericht der Steuerfahndungsstelle vom verfasst.

Ausweislich der Berichte nahmen die Gesellschafter der Klägerin in erheblichem Maße Manipulationen an der Kasse vor und vernichteten die zugehörigen Belege. Für die Jahre 1989 bis 1992 fehlten sämtliche Belege, für spätere Jahre Kassenstreifen, Kassenzettel und Tagesendsummenbons. Für die im AP ab 1995 geführte elektronische Kasse fehlten Programmierungs-, Bedienungs- und Organisationsunterlagen sowie Programmabrufe und Protokolle. Außerdem wurden weder Inventuren und Anlageverzeichnisse noch Speisekarten oder sonstige Preisangaben vorgelegt. Die Kontoauszüge betrieblicher Girokonten waren lückenhaft. Buchungsunterlagen über die Zusammenführung der Teilbuchführungen fehlten; Jahresabschlussbuchungen waren nach Meinung der Prüfer nicht nachvollziehbar. Geldzugängen im Privatbereich konnten keine Abgänge im Betriebsvermögen zugeordnet werden. Bei der Auswertung von Kontrollmaterial des Jahres 1995 für das Restaurant AP ergab sich, dass 59 von 83 Belegen fehlerhaft erfasst waren, wobei sich ein rechnerischer Mehrbetrag an Erlösen von 65,16 v.H. ergab.

Die Prüfer hielten deshalb die Buchführung für nicht ordnungsmäßig und ermittelten die erzielten Umsätze und Gewinne durch Schätzung. Dabei gingen sie davon aus, dass der Wareneinsatz von der Klägerin richtig erfasst war. Mit Hilfe eines von der niedersächsischen Finanzverwaltung entwickelten Programms kalkulierte die Betriebsprüfung die Umsätze der beiden Restaurants im Jahr 1995 nach. Dabei wurde das Angebotssortiment nach Warengruppen entsprechend der verwendeten Speisekarten untergliedert, um dann für jede Warengruppe einen durchschnittlichen Bruttoerlös zu ermitteln. Diesem wurde der zugehörige Wareneinsatz gegenübergestellt, der unter Berücksichtigung der je Speise einzusetzenden Warenmenge berechnet wurde. Für Abfall wurde ein pauschaler Abschlag von 3 v.H. vorgenommen, bei Salatgemüse ein Putzverlust von 12,87 v.H. Getränke wurden ebenfalls unter Berücksichtigung des Verkaufspreises kalkuliert. Schankverluste fanden dabei mit 10 v.H. für Spirituosen und 3 v.H. für Fassbier und alkoholfreie Getränke Berücksichtigung. Die Nachkalkulation ergab für AP einen Rohgewinnaufschlagsatz von 280,21 v.H. und für DC von 363,88 v.H.

Auf der Grundlage dieser Nachkalkulation gingen die Prüfer für den gesamten Prüfungszeitraum von gerundeten Aufschlagsätzen von 280 v.H. für AP, 360 v.H. für DC und 320 v.H. als Mittelwert daraus für P/DF aus. Daraus ergaben sich abgerundet folgende Mehrerlöse ohne Umsatzsteuer:


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1989
360 000 DM
1990
370 000 DM
1991
510 000 DM
1992
630 000 DM
1993
630 000 DM
1994
610 000 DM
1995
440 000 DM
1996
640 000 DM
1997
550 000 DM

Das FA folgte den Ergebnissen der Prüfungen und erließ dementsprechend geänderte Gewerbesteuermessbescheide und Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre (1989 bis 1997) sowie geänderte Bescheide über die Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts auf den , 1991, 1992 und 1997. Die dagegen erhobenen Einsprüche wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom , auf die wegen ihres Inhalts Bezug genommen wird, als unbegründet zurück.

Mit der am erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung sämtlicher Änderungsbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung. Wie schon im Einspruchsverfahren wandte sich die Klägerin gegen die Grundlagen der Nachkalkulation für die einzelnen Warengruppen und bemängelte z.B. zu geringe Abschläge für Abfall, Verderb etc., den Ansatz zu geringer Warenmengen für die zubereiteten Speisen und Getränke und die Erfassung nicht angebotener oder ohne besondere Berechnung gelieferter Speisen. Zugleich legte die Klägerin eine eigene Kalkulation vor, die zu einem nur geringfügig über den erklärten Umsätzen liegenden Ergebnis führt. Weiter machte die Klägerin geltend, dass es bei Gewinnen in der vom FA angesetzten Höhe nicht zu der finanziellen Schieflage hätte kommen können, in der sie sich nachweislich befunden habe, dass die Kassenführung ordnungsgemäß gewesen sei und dass für die Streitjahre 1989 bis 1992 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Für ihre Behauptungen berief sich die Klägerin im Wesentlichen auf beigefügte oder in den Akten befindliche Urkunden, auf Zeugnisse verschiedener Personen und auf Sachverständigengutachten. Wegen der Einzelheiten des Klagevorbringens wird auf die Schriftsätze vom Bezug genommen.

Das FA hielt die Klage für unbegründet und verwies zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung, in der es sich mit den Einwendungen der Klägerin auseinandergesetzt habe.

Das Finanzgericht (FG), das getrennte Verfahren wegen Gewerbesteuer und Umsatzsteuer aufgenommen hatte, beraumte ohne Stellungnahme zur Sache oder zum Verfahren für alle Klageverfahren Termine zur mündlichen Verhandlung an, die am stattfanden. Ausweislich der Sitzungsniederschrift zu den Verfahren wegen Gewerbesteuer wurden vom Klägervertreter und vom Vertreter des FA Beweisanträge gestellt. In beiden mündlichen Verhandlungen verkündete das FG den Beschluss, eine Entscheidung zuzustellen.

Mit den kurze Zeit später zugestellten Urteilen gab das FG den Klagen betreffend Gewerbesteuermessbescheide und Umsatzsteuer 1989 bis 1997 statt. Die Änderungsbescheide und die Einspruchsentscheidung wurden aufgehoben. Dazu stützte sich das FG auf § 100 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Es sei davon überzeugt, dass das FA den Sachverhalt unter Verletzung der behördlichen Amtsermittlungspflicht gemäß § 88 der Abgabenordnung (AO 1977) unzureichend aufgeklärt habe. Das FA müsse noch weitere Ermittlungen anstellen. Ein Fall des § 100 Abs. 3 Satz 2 FGO liege nicht vor, weil die Schätzung nicht auf einer Verletzung der Erklärungspflichten der Klägerin beruhe. Die Sechs-Monats-Frist des § 100 Abs. 3 Satz 5 FGO sei gewahrt, weil die Behördenakten im März 2002 bei Gericht eingegangen seien.

In der Sache führte das FG aus, es sei nicht zweifelhaft, dass das FA die Besteuerungsgrundlagen habe schätzen dürfen. Die Klägerin habe ihre Buchführungspflichten verletzt, weil sie jedenfalls im Jahr 1995 in beiden Teilbetrieben ihre Kasseneinnahmen und -ausgaben nicht täglich aufgezeichnet habe. Die Schätzung von Mehrentnahmen in Höhe von 5,4 Mio. DM sei aber ungenügend, weil das FA die im Grundsatz zulässige Nachkalkulation nicht sachgerecht durchgeführt habe. An eine Nachkalkulation seien nach der Rechtsprechung strenge Anforderungen zu stellen. Es handele sich um einen inneren Betriebsvergleich, der anhand der besonderen Verhältnisse des Einzelfalls durchgeführt werden müsse. Dem werde die Schätzung des FA nicht gerecht.

Zwar sei das verwendete Kalkulationsprogramm für die Nachkalkulation geeignet, weil es die Eingabe individueller Betriebswerte ermögliche. Das FA habe aber weitgehend nicht die betrieblichen Verhältnisse berücksichtigt, sondern sich mit allgemeinen Angaben von Herstellern und Lieferanten sowie nicht belegten Durchschnittswerten anderer Betriebe begnügt. Der Rahmen des inneren Betriebsvergleichs sei damit unzulässig überschritten worden. Das FA könne sich insoweit nicht auf eine fehlende Mitwirkung der Klägerin berufen. Statt eines Rückgriffs auf außerbetriebliche Daten hätte das FA den substantiierten Einwendungen der Klägerin nachgehen und durch Befragung des Personals bzw. Augenscheinsnahme die besonderen Verhältnisse des Betriebs feststellen müssen. Die Prüfer hätten den Betrieb nicht einmal besichtigt und auch das übliche Probeessen habe nicht stattgefunden. Das FA verkenne zudem die Feststellungslast. Diese sei von der Klägerin nur zu tragen, wenn sie einen atypischen Sachverhalt vortrage, der vom FA nicht mit ihm möglichen und zumutbaren Ermittlungen überprüft werden könne. Eine Abweichung von vermeintlichen Durchschnitts- oder Erfahrungswerten reiche nicht aus. Die Klägerin habe aber für die vom FA als atypisch angesehenen Lebenssachverhalte umfangreich Beweis angeboten. Diesen Angeboten sei das FA nicht nachgegangen. Zu Unrecht berufe sich das FA darauf, dass sich das Schätzungsergebnis im Rahmen der Richtsätze für Pizzerien bewege. Einerseits sei zweifelhaft, ob diese Richtsätze auf den Betrieb der Klägerin angewendet werden könnten, andererseits dürfe bei einer Nachkalkulation erst dann auf Richtsätze zurückgegriffen werden, wenn keine andere Aufklärung möglich sei.

Für die weitere Sachaufklärung seien noch erhebliche Ermittlungen erforderlich. Es müssten —soweit noch möglich— Feststellungen durch Beobachtungen „vor Ort” über eine gewisse Zeit angestellt werden, die dem Gericht nicht mit gleicher Effektivität möglich seien wie der Außenprüfung. Die Nachkalkulation müsse mit geänderten Werten neu durchgeführt werden, was dem FA schneller und mit erheblich geringerem Aufwand als dem Gericht möglich sei. Das FG sei deshalb nicht gehalten, von seiner eigenen Schätzungsbefugnis Gebrauch zu machen und den zu den einzelnen Schätzungsgrundlagen gestellten Beweisanträgen nachzugehen.

Hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1989 bis 1993, für die der Strafbericht von einem Eintritt der Strafverfolgungsverjährung ausgehe, habe das FG Zweifel, ob eine Steuerhinterziehung festgestellt und damit die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 zugrundegelegt werden könne. Das FA stütze den Hinterziehungsvorwurf auf die Höhe der hinzugeschätzten Beträge, die aber wegen der mangelhaften Schätzung zweifelhaft seien. Die Schlussfolgerung müsse nach erneuter Schätzung überprüft werden. Es sei auch zweifelhaft, ob die Manipulationen an der elektronischen Kasse des AP ab 1995 auch den Manipulationsvorwurf in beiden Teilbetrieben sowie für frühere Jahre rechtfertigten und ob daraus auf einen Hinterziehungsvorsatz in den Vorjahren geschlossen werden könne.

Die Revision ließ das FG nicht zu.

Mit seinen dagegen erhobenen Beschwerden beruft sich das FA auf Verfahrensmängel und die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.

1. Verfahrensmängel

a) Das FG habe den Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß § 96 Abs. 2 FGO verletzt. Weder in der mündlichen Verhandlung noch zuvor habe das FG darauf hingewiesen, dass es von einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht des FA ausgehe, und die hieraus abgeleitete Möglichkeit zu einer Entscheidung nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO angesprochen. Dies ergebe sich einerseits aus der Sitzungsniederschrift, andererseits aus zwei beigefügten dienstlichen Erklärungen von Beamten, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätten.

b) Das FG habe seiner Entscheidung nicht, wie nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO erforderlich, das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde gelegt. Daraus, dass das Gericht den Hinterziehungsvorwurf zwar im Tatbestand erwähne, ihn aber bei der Entscheidung über die Schätzungsmethode unberücksichtigt lasse, sei zu entnehmen, dass das diesbezügliche Vorbringen des FA nicht berücksichtigt worden sei.

c) Eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO habe nicht ergehen dürfen. Es sei nicht zu erwarten, dass sich der Streit nach erneuter Sachverhaltsermittlung erledigen werde. Deshalb werde in einem erneuten Klageverfahren entsprechend dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme voraussichtlich eine eigene Erhebung des Zeugenbeweises durch das FG erforderlich sein.

2. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung

Das FG weiche von Urteilen des BFH und des FG Münster ab, so dass eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich sei.

a) Abgewichen werde vom (BFHE 135, 11, BStBl II 1982, 430). Dort werde der Rechtssatz aufgestellt, dass sich bei Vorliegen besonderer Umstände (z.B. Buchführungsmängel, Verschleierung der betrieblichen Verhältnisse) die hohen Anforderungen an eine Nachkalkulation relativierten und eine Teilschätzung nach äußerem Betriebsvergleich genüge. Das FG zitiere zwar dieses Urteil, weiche in der Sache aber davon ab, weil es den Rechtssatz aufstelle, dass die strengen Anforderungen an eine Nachkalkulation trotz schwerwiegender Buchführungsmängel und steuerunehrlichen Verhaltens immer Geltung hätten, wenn der Wareneinsatz unstreitig sei.

b) Das FG weiche auch von dem (BFHE 158, 301, BStBl II 1990, 109) ab. Diese Entscheidung enthalte den Rechtssatz, dass bei feststehender Nichterklärung von Einnahmen ohne weitere Ermittlung des Umfangs der Hinzuschätzung eine griffweise Schätzung zulässig sei. Demgegenüber vertrete das FG die Auffassung, dass trotz festgestellter Kassenmanipulationen die strengen Anforderungen an eine Nachkalkulation zu stellen seien und allen Einwendungen des Steuerpflichtigen nachzugehen sei.

c) Abgewichen werde auch von der Rechtsprechung der FG, insbesondere des (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2001, 401, rechtskräftig nach Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch , nicht veröffentlicht —n.v.—). In diesem Urteil, das ebenfalls ein gehobenes italienisches Speiserestaurant betreffe, werde der Rechtssatz aufgestellt, dass bei Manipulationsmöglichkeiten infolge der fast ausschließlichen Abwicklung von Bargeschäften und bei vom Steuerpflichtigen zu vertretenden fehlenden Überprüfungsmöglichkeiten lediglich eine grobe Schätzung (dort Richtsatzschätzung) geboten sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf die Schriftsätze des FA vom Bezug genommen.

Das FA beantragt, die Revision gegen beide Urteile zuzulassen.

Die Klägerin beantragt, die Beschwerden als unzulässig zu verwerfen.

Sie trägt vor, in den verschiedenen FG-Verfahren sei nachgewiesen worden, dass keine schwerwiegenden Buchführungsmängel vorlägen und keine Kalkulationsdifferenzen vorhanden seien. Dem FA werde zu Recht eine Amtspflichtverletzung vorgeworfen, weil die Schätzung jeglichen Bezug zur Realität vermissen lasse und völlig unbrauchbar sei. Die gerügten Abweichungen von BFH-Urteilen lägen nicht vor, weil im Unterschied zu den dortigen Verfahren vorliegend eine Steuerhinterziehung nicht nachgewiesen sei. Aus diesem Grund liege auch der gerügte Verstoß gegen die Berücksichtigung des gesamten Verfahrensergebnisses nicht vor. Das FG sei nicht zu einer eigenen Beweiserhebung verpflichtet, solange das FA seine Kalkulationsgrundlagen nicht selbst ordnungsgemäß ermittelt habe. Die Feststellung der betrieblichen Verhältnisse sei dem FA mit vertretbarem Zeitaufwand möglich gewesen. Das FG habe nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO verfahren dürfen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Klägerin vom Bezug genommen.

II. Der Senat verbindet die Verfahren IV B 143/02 und IV B 144/02 gemäß §§ 121, 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zur gemeinsamen Entscheidung.

Die Beschwerden sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und Zurückverweisung der Verfahren an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO.

1. Die Urteile beruhen auf der unzutreffenden Anwendung von Verfahrensrecht durch das FG.

a) Das FG hat den Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß § 96 Abs. 2 FGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht ausreichend beachtet.

aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist danach gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (vgl. z.B. , BFH/NV 2002, 947; , BFHE 162, 199, BStBl II 1991, 100, jeweils m.w.N.). Das Recht auf Stellungnahme zu Rechtsfragen schließt auch den Anspruch ein, zur Auslegung des Prozessrechts Stellung zu nehmen, soweit es nach Auffassung des Gerichts für die Entscheidung des Rechtsstreits Bedeutung hat und die prozessuale Stellung eines Beteiligten betreffen kann.

bb) Will das Gericht nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO entscheiden, muss es deshalb die Beteiligten darauf hinweisen, um ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme dazu zu geben. Davon kann nur abgesehen werden, wenn einer der Beteiligten zuvor eine derartige Entscheidung beantragt hat.

Nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Die Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO beinhaltet eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass das Gericht selbst eine Sachentscheidung über eine zulässige Klage treffen muss (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Rz. 106). Sie beeinträchtigt das Interesse beider Beteiligten an dem baldigen Erhalt einer rechtskräftigen Entscheidung der Streitsache und bürdet der Behörde zusätzliche Ermittlungsmaßnahmen auf. Außerdem entstehen zusätzliche Verfahrenskosten, wenn auch nach erneuter Aufklärung durch die Behörde der Streit nicht ausgeräumt werden kann und wiederum das Gericht angerufen wird. Die prozessuale Stellung der Beteiligten ist deshalb in hohem Maße von einer Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO betroffen, wie auch daraus erhellt, dass das Gesetz ausdrücklich die Berücksichtigung der „Belange der Beteiligten” verlangt (§ 100 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 FGO). Den Beteiligten muss danach ein Recht auf Gehör zu dieser Frage zustehen.

cc) Das FG hat im Streitfall ausweislich der Akten und unstreitig keinen Hinweis darauf gegeben, dass es in Erwägung ziehen könnte, nach § 100 Abs. 3 FGO zu verfahren. Auch hatte keiner der Beteiligten einen diesbezüglichen Antrag gestellt oder die Frage auch nur angeschnitten. Bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung konnten die Beteiligten danach nicht vorhersehen, dass eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO ergehen könnte.

b) Die Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO ist aber auch deshalb verfahrensfehlerhaft ergangen, weil die Voraussetzungen des § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO nicht vorlagen. Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide und der Einspruchsentscheidung war unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten nicht sachdienlich.

aa) Die Feststellung des FG, dass die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art oder Umfang erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist, unterliegt der vollen revisionsrichterlichen Überprüfung (, BFH/NV 2001, 178, und vom II R 44/95, BFH/NV 1998, 590, m.w.N.). Entscheidet das FG nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO, ohne dass dessen Voraussetzungen erfüllt sind, liegt ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor.

bb) Für die Auslegung des Begriffs der Sachdienlichkeit ist der Zweck der Vorschrift von Bedeutung. Die zum in die FGO eingefügte Regelung soll der Entlastung der FG und des BFH dienen und eine Beschleunigung des finanzgerichtlichen Verfahrens bewirken (, BFHE 182, 300, BStBl II 1997, 541; BTDrucks 12/1061, S. 11). Der Entlastung der Gerichte und der Verfahrensbeschleunigung dient eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO aber insbesondere dann nicht, wenn die Behörde gegenüber dem Gericht nur eingeschränkte Möglichkeiten zur abschließenden Ermittlung des Sachverhalts hat oder zu erwarten ist, dass die Ermittlungen nicht zu einer Beilegung des Streits zwischen den Beteiligten führen, so dass eine erneute Anrufung des Gerichts befürchtet werden muss.

Dementsprechend hat der BFH eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO nicht für sachdienlich gehalten, wenn im Rahmen der Ermittlung Zeugenbeweis erhoben werden müsste (Urteile in BFH/NV 2001, 178; in BFH/NV 1998, 590, und vom II R 13/94, BFHE 177, 217, BStBl II 1995, 542, m.w.N.). Einerseits sind die Möglichkeiten der Behörde, von Dritten Auskünfte zu erhalten, nach den Vorschriften der AO 1977 beschränkt; eidliche Vernehmungen im Verwaltungsverfahren bedürfen einer Einschaltung von Gerichten. Andererseits fordert der im finanzgerichtlichen Verfahren geltende Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme eine eigene Vernehmung der Zeugen durch das Gericht (vgl. §§ 76, 96 FGO), wenn es erneut zu einem Klageverfahren kommt. Ähnliches gilt für die Einholung eines Sachverständigengutachtens, das einerseits das Gericht nicht mit erheblichem Aufwand belastet, andererseits aber ebenfalls nur unter Beachtung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vom Gericht verwertet werden kann (BFH-Urteil in BFHE 182, 300, BStBl II 1997, 541).

Nicht der Beschleunigung dient eine Entscheidung nach § 100 Abs. 3 FGO auch dann, wenn aus anderen Gründen anzunehmen ist, dass das Ermittlungsergebnis der Behörde nicht anerkannt werden wird und das Gericht in einem späteren Verfahren die Beweise erneut erheben muss (Schmidt-Troje in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 100 FGO Rz. 84).

cc) Für den Streitfall ergibt sich daraus, dass eine Aufhebung der angefochtenen Bescheide und der Einspruchsentscheidung ohne eigene Sachentscheidung des Gerichts nicht sachdienlich ist. Soll den Einwendungen der Klägerin gegen die im Rahmen der Nachkalkulation angesetzten Werte nachgegangen werden, sind entsprechend den bereits gestellten Beweisanträgen Zeugen zu vernehmen und Sachverständigengutachten einzuholen. Angesichts der Intensität und der Dauer des Rechtsstreits ist nicht zu erwarten, dass dieser ohne Einwirkung des Gerichts beigelegt werden könnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die ggf. entstehenden Steuernachforderungen gewichtige Bedeutung für das nach Aktenlage bis jetzt noch nicht abgeschlossene Strafverfahren haben können.

2. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren und bereits auf die Nichtzulassungsbeschwerden die Vorentscheidungen aufzuheben und die Sachen an das FG zurückzuverweisen. Im Hinblick auf diese Sachentscheidung braucht der Senat zu den sonstigen mit den Nichtzulassungsbeschwerden erhobenen Rügen nicht mehr Stellung zu nehmen.

Bei der Fortsetzung der Verfahren wird das FG berücksichtigen können, dass über die ursprünglich auch gegen die Bescheide zur Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts gerichtete Klage nach Aktenlage noch nicht entschieden ist.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 359
BFH/NV 2005 S. 359 Nr. 3
BAAAB-32820